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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


auf der Plattform der babylonischen Thurmpyramide standen, hatten sogar eine Art astronomisches System. Allein dem Volke kamen diese Entdeckungen nicht zugute. Ihm wurde das Ganze zur Religion, und darum betete es die fünf selbstständig wandelnden Sterne (die damals bekannten Planeten) an und widmete jedem von ihnen eine besonders gefärbte Stufe des Thurms, eine sechste aber weihete es der Sonne und eine siebente dem Mond.

Die babylonische Stufenpyramide war das höchste Gebäude der Welt. Sie maß mit der achten Etage (dem Tempel auf ihrem Gipfel) mindestens 190 Meter in der Höhe. Ihre Grundfläche war viereckig und rechtwinkelig, aber kein Quadrat. Freilich ist die Größe des ganzen Baues weit übertrieben worden – so geben die Talmudisten dieselbe mit nahezu 2 Millionen Fuß an, während Andere bescheidener von 10,000 Ellen sprechen. Immerhin war der „Thurm“ von gigantischer Größe. Seine untersten Terrassen stammen jedenfalls aus uralten Tagen – vielleicht aus der Zeit von 2300 v. Chr. Geburt – damals aber ist er, wie es scheint, nicht vollendet worden. Nebukadnezar, der Begründer des sogenannten „jungbabylonischen“ Reiches, stellte ihn um 600 v. Chr. Geburt wieder her. Noch heute findet sich seine Ruine in der babylonischen Ebene. Die Stadt zwar ist gänzlich zerfallen; die Lehmziegel, aus denen sie errichtet war, sind im Laufe der Zeit vom Regen erweicht und wieder zu Erde geworden. Aber man findet noch im Umfange von 9 bis 12 Meilen (!) den dreifachen Mauerring, und die eine dieser Mauern soll 350 Fuß hoch und 35 Fuß dick gewesen sein. Jetzt sehen diese Ringe aus wie niedrige Hügelketten.

Innerhalb der Mauern liegen vier große Ruinenhügel. Der eine, „Bab el Mudschel-lebbe“ genannt, erhebt sich auf der rechten Euphratseite und bildet die Reste der altbabylonischen sogenannten „nördlichen Burg“. Eine halbe Stunde davon liegt ein zweiter, „el Kasr“, dessen Umfang 875 Meter beträgt, die Ruine der alten Königsburg. Nicht weit davon sieht man einen dritten Hügel, „Amram ibn Ali“, die Ruine der „hängenden Gärten der Semiramis“; diese Gärten errichtete übrigens nicht Semiramis um 2000 v. Chr. Geburt, sondern Nebukadnezar um 600 v. Chr. Geburt für seine Gemahlin, die Tochter des Königs Kyaxares von Medien; sie lagen auf einem künstlich aufterrassirten Berge und hingen keineswegs in der Luft.

Etwa zwei Meilen weiter liegt stattlich in der Ebene, etwa 50 Meter hoch, der Berg „Birs Nimrud“ (Nimrodsthurm), die Ruine des babylonischen Thurmes. Er hat noch jetzt einen Umfang von circa 710 Meter und bildet ein Rechteck. Noch sind zwei der sieben Terrassen vorhanden, auch die Reste der Treppe sind noch da, auf welcher man auf die erste circa 25 Meter hohe Terrasse hinaufreiten kann. Die zweite Terrasse ist dagegen so zerstört, daß man sie zu Fuß erklettern muß. Ihr oberster Theil ist der Rest der nördlichen Mauereinfassung und hat allein 13 Meter Höhe.

Derartige Pyramidalbauten findet man – wenn auch in viel bescheidenerer Größe – in allen Ländern der Welt, sogar bei den rothhäutigen Azteken in Mexico. Immer aber wurden diese Gebäude nur in solchen Zeiten errichtet, welche den unmittelbaren Uebergang aus der Wildheit der Völker zu den ersten Triumphen der Cultur bildeten.

So haben die Menschen das Bauen gelernt; aus Höhlen und Hürden sind Häuser und Monumentalbauten geworden auf dem Wege langsamer Entwickelung, den die Menschheit in allen Dingen durchgemacht hat und fernerhin durchmachen muß.

Die Menschen werden weiter schaffen und streben; sie werden unermüdlich fortfahren, ihre Lage zu verbessern. Vervollkommnung ist das große Gesetz der Welt, Vollendung aber wird man nie erreichen: immer wird es noch Etwas zu verbessern, Etwas zu erfinden geben. Das aber ist, genau genommen, ein großes Glück; denn wenn jemals die Menschheit, wahrhaft zufrieden mit dem, was sie hat, die Arme sinken lassen wollte, so verfiele sie mit all ihren geistigen Triumphen wieder dem öden Nichts, aus dem sie einst entstand, wie die Baukunst selbst, die der strebende menschliche Geist erschaffen hat.




Aus den Papieren eines Asiaten

1. Der Baikal
Alle Rechte vorbehalten.


Ich möchte den Baikal den Bodensee Asiens nennen; wegen seines klaren, durchsichtigen Wassers, seiner unergründlichen Tiefe, seiner malerischen Lage verdient er in der That diesen Namen. Spricht oder sprach der Amerikaner vom „fernen Westen“ als von etwas Geheimnißvollem, Unerschlossenem, so können die Europäer, wenn sie nach Nordasien hinüberblicken, mit noch besserem Recht vom „fernen Osten“ sprechen; denn er liegt noch in Märchennebel gehüllt – und dies sogar für seine nächsten Nachbarn, die Russen. Vom Russen wissen wir ja, daß er alles „Russische“, somit auch sein eigenes Land, mißachtet; er kennt weder das südliche, russische Asien, noch Sibirien, noch den Kaukasus, noch das herrliche Finnland; geht der Russe auf Reisen, so ist sein Ziel „Paris“. Engländer und Amerikaner besuchen zwar schon längst Finnland, um dessen hochromantische Natur zu bewundern; Speculanten dringen zwar bis zum Kaukasus vor, aber das übrige eigentliche reisende Publicum hält sich von Rußland fern, und Sibirien ist ja wohl noch bis heute der Inbegriff aller Schrecken in Deutschland. Um so mehr fühlt sich der Kenner dieser Gegenden gedrängt, von diesem fernen Osten zu erzählen; so läßt sich vielleicht manches Vorurtheil beseitigen und etwas für ein Land thun, das viel besser ist, als sein Ruf.

Circa 6000 Werst (1 Werst = 1,067 Kilometer) östlich von Petersburg liegt das heilige Meer der Burjaten, dessen heutiger Name das corrumpirte mongolische Bai-kal (reicher See) ist. Steigt schon ganz Ostsibirien terrassenförmig an, so thut sich endlich in der Höhe von über 496 Meter ein mächtiger Felsenkessel auf; wie ein greiser Herrscher erhebt der schneeige Chamár-Daván sein ragendes (1950 Meter hohes) Haupt, und ich kann dem alten Herrn es wahrlich nicht verdenken, daß er nun schon viele Jahrhunderte hindurch sich an dem unter ihm ausgebreiteten Panorama nicht satt sehen kann: es ist zu schön; den Felsenkessel füllt der Baikal (gebildet durch die Angará wie der Bodensee durch den Rhein), umgeben von fast steil abfallenden Felsen, die wiederum von schwarz-grünen Cederwäldern dicht bedeckt sind. Ich habe den Baikal im Sommer und im Winter, bei Sonnenlicht und Mondschein, bei Sturm und Nebel gesehen, und er war immer schön, hinreißend schön, imposant und doch unwiderstehlich anziehend. Ich begreife es, daß die anwohnenden Burjaten und Tungusen ihn das Dalai-Nor (heilige Meer) nennen; denn wie er, milde, reiche Gaben spendend, in seiner majestätischen Ruhe ein zürnender, strafender Gott ist, so begraben seine Wellen, wenn sie sich im Sturme schaumgekrönt thürmen, alles Nichtige, Irdische in ihren unermeßlichen Tiefen. Wenige giebt es der sichern Ankerplätze, die in solcher Zeit Schutz gewähren, so weit sich auch das mächtige Meer[1] (so nennen es auch die anwohnenden Russen) ausdehnt. Der Baikal hat eigentlich nur zwei Häfen, Listwenitschnaja und Possolsk, und in diese will ich auch den freundlichen Leser führen.

Hart am Ufer der Angará und des Baikal zieht die in Felsen gehauene Straße hin; den Hintergrund bilden die senkrechten cedergekrönten Felsen, deren malerisches Zickzack ihren vulkanischen Ursprung deutlich erkennen läßt. Hier liegt das Dorf Listwenitschnaja, und abgesehen vom Bau der Häuser glaubt man sich plötzlich in die Schweiz versetzt, wenn man, den letzten Abhang hinabfahrend, die weite Wassermasse der Bucht vor sich ausgebreitet sieht; die Abendglocke ruft zur Kirche, die sich wie schutzsuchend an die Schamanenfelsen (Zauberfelsen) schmiegt, als fürchte sie, daß die Wellen des Sees auch einst in diese stille Bucht ungestüm hineinstürzen und Alles mit sich zurück in den See entführen könnten. Die schmucken Häuser deuteten auf Reichthum; ein kleiner Mastenwald begrüßt uns freundlich. Der Wagen hält vor einem europäisch eingerichteten Gasthause mit einladenden Zimmern und Gesellschaftsräumen, und ein verhältnißmäßig reiches Büffet winkt uns zum Imbiß und weckt in uns um so angenehmere Gefühle, als die Gasthäuser in Sibirien, sogar in den großen Städten, schmutzige,

  1. Der Baikal liegt in Meereshöhe von 408 Meter; seine Längenausdehnung beträgt 623,3 Kilometer, seine Breite zwiswchen 15 bis 82 Kilometer; seinen Umfang schätzt man auf 1974 Kilometer; der Flächeninhalt mißt 32,223 Quadratkilometer.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_096.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)