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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

ich auf Befehl an einem alten Wege stehen, von wo aus man bequem zu beobachten im Stande war, wohin der Getroffene, wenn er vielleicht doch noch einmal rege werden und dann voraussichtlich auf gewohntem Wechsel durch- und weiterziehen sollte, seinen weiteren Gang wenden würde. Auch stand bei etwaiger zutreffender Voraussetzung die Möglichkeit offen, noch eine Kugel auf ihn anbringen zu können. Mein Rathgeber eilte nach dem Forsthause zurück, um dort das Ereigniß zu melden und darüber zu berichten, darauf aber mit dem Hunde wieder herauszukommen und mit Hülfe dessen die Jagd zu Ende zu führen. Wie lang wurden mir inzwischen die paar Stunden, bis der Scheidende wieder zur Stelle sein konnte! Doch geduldig mußte ich, allein mit meinem Kummer, auf meinem verantwortlichen Posten ausharren. Endlich erreichte diese peinliche Zeit aber doch ihr Ende, und wahrhaft erlösend wirkte die Wiederkehr des rührigen Jägers auf mich, zumal dieser allein, ohne den von mir mit banger Sorge miterwarteten Oberförster kam. Letzterer war, nach Aussage des Zurückgekommenen, über den abgenommenen Rapport fuchswild geworden und, wie auch sehr natürlich, in Feuer und Flammen ob meines leichtsinnigen Schusses gerathen. Einen „Aasjäger“ hatte mich der brave Alte in seinem echt jägerlichen und gerechten Zorne betitelt – ein Ausdruck, mit dem er übrigens Jeden belegte, mochte er Fürst oder Bauer sein, welcher nicht soviel gute alte Waidmannsehre zeigte: einen jagdbaren Hirsch von der Brunstzeit ab nicht eher wieder zu beschießen, als bis zur Feistzeit über’s Jahr.

Nach dieser mir am heutigen Morgen gewordenen zweiten Strafpredigt verließ mich mein Jägersmann abermals, Waldine auf den Anschuß zu tragen und dort auf die Fährte zu setzen. Ihr Pfleger hatte nämlich die Däbe nicht etwa an der Leine mit sich geführt, sondern diese steckte wohlverwahrt in einem gewaltigen sogenannten Büchsenranzen, aus welchem nur das intelligente Köpfchen des reizenden Geschöpfes herausschaute. Ich aber sollte vor der Hand – so lautete meine Instruction – meinen Stand noch inne behalten, um, ginge die Jagd nach vorwärts, Zeuge sein zu können, wohin sie sich wenden würde. Unter günstigen Umständen aber möchte ich nur keck noch einmal auf den so schon „Angeflickten“ schießen. Erwartungsvoll lauschte ich nun, bis ich den ersten Ton des Hundes vernehmen würde, und nicht lange brauchte ich darauf zu warten. Wie ein Glöckchen schlug plötzlich der helle Laut der jagenden kleinen Creatur an mein Ohr; sie war also bereits hinter dem Verfolgten her. Aber nur kurze Zeit verstrich, so wandelte sich das eifrige „kiff, käff, kiff, kaff“ in Standlaut um – das brave Thierchen hatte also den Angeschossenen vor sich und stellte ihn fest. Jetzt erwartete ich nun gespannt einen baldigen Schuß, da ich voraussetzte, mein Waidgesell werde sich schleunigst hinanmachen, seine Kugel anzubringen, und den Hirsch vor dem Hunde todtschießen. Doch rasch rückte die Jagd wieder vorwärts, und ehe ich mich dessen noch versah, hörte ich es auch schon brechen, dahinter her den „läutenden“ Hund – und der Hirsch, ein capitaler Bursche, kam mäßig flüchtig, den einen Vorderlauf schlenkernd, richtig auf dem vermutheten Wechsel aus der Dickung heraus, übereilte eine kleine Blöße mit einer verlassenen Kohlenstätte und verschwand hinter dem Rande einer abstürzenden Leite vor meinen erstaunt nachstarrenden Blicken. Geschossen hatte ich nicht, der jähe Anblick hatte auf mich geradezu bannend, bezaubernd gewirkt. Uebrigens hätte ich unter solchen Umständen auch sicher gefehlt.

Als nun mein Gefährte, der Flucht nachkommend, mich erreichte und von mir erfuhr, was ich gesehen, war er nicht allzuböse über meine bewiesene Befangenheit, zumal der Hund unterhalb des Hanges schon wieder brav stellte. Rasch eilten wir nun mitsammen dem Laute nach und kamen, gedeckt hinter Steinblöcken und von Stämmen eines lichtgewordenen alten Bestandes, welchen der abschüssige Hang noch trug, doch endlich soweit hinan, daß wir „guten Anblick“ bekamen und eben sehen konnten, wie der Hirsch ärgerlich seinen kleinen, stets behend ausweichenden Quälgeist abzuschlagen trachtete. Als wir uns aber vollends auf Schußweite an den Zornmüthigen herangepürscht hatten, zauderte ich keinen Augenblick mehr, die Büchse an den Kopf zu nehmen, zu zielen und Feuer zu geben.

Der offenbar abermals Getroffene ergriff wiederum die Flucht. Diese aber konnten wir, da hier die gerade sehr steil abfallende Lehne gänzlich abgeholzt war, ungehindert übersehen. Es bot sich uns nun eine tragische Scene dar. Durch den zerschossenen Lauf des nöthigsten Stützpunktes nach vorn beraubt, vom frischen Anschusse aber wahrscheinlich zu letzter verzweifelter Kraftanstrengung gedrängt, kam der edle Hochgeweihte erst in’s Gleiten, dann über einen sturmgebrochenen morschen astgezackten Stamm zum Sturze, unter dessen Wucht prasselnd das abspellende Gezweig umhersplitterte, und blieb momentan wie todt im Gewirre von Holz- und Steingetrümmer liegen. Noch einmal versuchte das königliche Thier sich zu erheben, kam aber dabei zum Ueberschlagen, und rollte nun unaufhaltsam der Tiefe zu, bis es auf halbem Wege ein vorliegender Windwurf aufhielt, während das mit ihm niederpolternde Geröll weiter zu Thale stürzte. Er aber, der dem Tode Verfallene, blieb in dem Holzgetrümmer liegen. Bei allem Graus hatte ihn die wieselflinke Waldine nicht einen Augenblick verlassen, sodaß sie, als der Hirsch nicht mehr entrinnen konnte, auch schon sofort dem Gestürzten auf dem Rücken saß und an ihm, ihrer Gewohnheit nach, herumschnitt, daß das bruchige Haar von der Haut des Hirsches in Büscheln herumflog. Ohne Verzug klommen wir hinab nach der grotesken Arena der ungleichen Gegner, und hier sahen wir nun erst, daß der bedauernswerthe Hirsch noch bei vollem Leben und von knorrigen Aesten fest umstrickt war, in die sich die eine Stange seines weit ausgelegten vielendigen Geweihes so festgeklammert hatte, daß der Verlorene seinen schönen, durch die ausstehende Pein märtyrerhaft verherrlichten Kopf nicht mehr vom Boden zu erheben vermochte. Und da auch sein übriger todeswunder Körper gebannt zwischen in einander geworfenen Stämmen lag, so mußte er, gleich einem gefesselten Prometheus, seinem kleinen Peiniger, der ihn, wie jenen der Adler, thatsächlich bei lebendigem Leibe mit gierigem Zahne zerfleischte, machtlos gewähren lassen.

Denke man sich aber den edelstolzen, freien Waldgeborenen in solch jammervoller Lage! Mehrfach angeschossen, vom Stürzen in das scharfe Astgezack ein Stück davon speerartig zwischen die Rippen eingebohrt, mit seinem Kronenschmucke fest in das Stammgewirr verkettet, auf ihm aber die giftwüthige, kleine Bestie sitzend, die sich in den Aermsten eingebissen hatte – und man wird mich nicht belächeln, wenn ich offen eingestehe, daß ich beim Anblicke dieses meines unglücklichen Opfers und im eigenen Schuldbewußtsein heiße Thränen vergossen habe.

Die Lage rasch und weniger erregt als ich überblickend, trat mein resoluter Jagdcamerad jetzt entschlossen hinzu, um dem in seiner mächtigen Umschlingung Festgebannten, aber noch immer nicht Verendeten den Gnadenstoß, den Nickfang, zu geben. Dann brach er den Hund von der Beute ab und schob ihn wieder in den Büchsenranzen, welchem das schweißschnauzige, vor heller Gier noch athemlos keifende Blitzköterchen nur allzu gern noch einmal entronnen wäre, um sich von Neuem auf den nun leblosen Gegner stürzen zu können. Von einem nahen Holzschlage herbeigeholte Waldarbeiter mußten den vorher gelüfteten Hirsch mit der Axt aus seinen Banden lösen und bis zum nächsten Wege heraus ziehen, dann aber auf einem Karren zur Försterei schaffen.

Mit schwerem Herzen, wie einem Leichenzuge, folgte ich der höchst malerischen Heimfuhre. Durch meine aufrichtige Reue über den verübten Frevel und im Hinblick darauf, daß ich ihn nicht absichtlich ausgeführt, fand ich Gnade vor dem wackeren waidgerechten Oberförster, sodaß ich später von dem herzigen Manne, der nun schon lange, lange in kühler Erde ruht, sogar noch das zehnendige Geweih und die Hacken meines ersten Hirsches zu bleibender Erinnerung erhalten habe.




Zur Hebung der deutschen Nessel-Industrie.


„Wache auf, urtica dioïca wache auf! Erhebe stolz dein Haupt! Du sollst jetzt aus deinem hundertjährigen Schlafe geweckt werden. Sollst wieder zu deinen alten Rechten erhoben sein, sollst wieder deine Kräfte im vielfach verschlungenen Tauwerk für Staats- und Volkswohl erproben, und sollst als feinstes Kleidungsstück dem Armen zum Verdienst, dem Reichen zum Schmucke prangen.“ Mit diesen Worten schloß die „Gartenlaube“ vor nahezu drei Jahren ihren Aufsatz „Ein Dornröschen der Cultur

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_159.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2020)