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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

waren allerdings die braunen Hände da, an denen sich die Spuren der Arbeit nicht so bald verwischen ließen.

In diesem Augenblicke schnob draußen der Gewittersturm vorbei. Wie ein alarmirender Trompetenstoß schrillte er durch die Lüfte und weckte ein majestätisches Sausen und Brausen in den geschüttelten Waldwipfeln, aber er machte auch die Fenster des Hauses klirren und rüttelte an der Flurthür, als wolle er sie ausstoßen. Die Dame am Tische horchte auf und sah besorgt nach dem Kranken im Bette zurück, der indeß nicht einmal einen Finger der auf der Decke liegenden Hand bewegte; er schlief offenbar den Schlaf tiefster Erschöpfung.

Unterdeß trat Herr Markus geräuschlos näher; er war nunmehr vollkommen Herr seiner selbst geworden, und als sie beruhigt den Kopf wandte, um ihre Beschäftigung fortzusetzen, fiel ihr Blick auf ihn, der in verbindlicher Haltung, den Hut in der Hand, an der Thürschwelle stand.

Ein sichtbarer Schrecken durchfuhr sie; Citrone und Messer entfielen ihren Händen, aber sie gewann unglaublich rasch ihre Fassung wieder; es war, als wüchse ihre Erscheinung vor seinen Augen. So hochaufgerichtet trat sie vom Tische weg, ging über die Schwelle an dem Zurückweichenden vorüber und öffnete die gegenüberliegende Thür, die in die Wohnstube des Forstwärters führte.

„Bitte, mein Herr, treten Sie ein!“ sagte sie unter einladender Handbewegung höflich, fremd, mit schwacher Stimme.

„Sie suchen Zuflucht vor dem herankommenden Gewitter –?“

Er unterdrückte ein Lächeln. „Fräulein Franz?“ fragte er unterbrechend mit einer Verbeugung, so kühl und reservirt, als sähe er diese Dame zum ersten Male in seinem Leben.

„Ja, mein Herr, ich bin die Nichte des Amtmanns, Agnes Franz“ – bestätigte ihr Blick suchte den Boden, und das Blut wallte ihr nach dem Gesichte – „die Gouvernante,“ setzte sie mit festem, geschärftem Tone hinzu; sie sah auf, und ihre Augen flimmerten in einem sichtbaren Kampfe zwischen Befangenheit und feindseligem Trotze.

Er bemerkte das nicht; er war sehr unbefangen. An der Thür stehenbleibend, sagte er wie zu seiner Entschuldigung: „Es ist nicht meine Absicht, den Ausbruch des Gewitters hier abzuwarten – das Naßwerden darf mich nicht schrecken; denn es ist sehr möglich, daß ich, wie ich da bin, schon im nächsten Augenblick hinaus muß, um stundenweit zu gehen. Ich suche ein junges Mädchen, eine barmherzige Schwester, die mir gestern den Verband da angelegt hat“ – er zeigte nach seiner Rechten.

„Der Herr Amtmann sagt, das Mädchen sei fort, fort auf Nimmerwiederkehr; ist das wahr, Fräulein Franz? Ist sie fort?“

Sie wich seinem durchdringenden Blicke aus und antwortete unsicher: „Ihre Hülfe und Thätigkeit wurde nicht mehr gebraucht. Sie selbst haben ja einen Ersatz für sie acquirirt –“

„Und da ist sie gegangen, ohne sich zu erinnern, daß sie ein gegebenes Wort einzulösen hat? … Sie sagte gestern: ,Ich komme morgen wieder, um nachzusehen.’ Sie müssen wissen, daß das für mich so gut wie Manneswort war, so unantastbar wie ein Evangelium. Nun wohl, ich habe geduldig gewartet. Ich habe stundenlang in die zitternde Nachmittagsgluth hinausgestarrt, immer hoffend, einmal müsse doch das Mädchen im Arbeitsrock, mit dem weißen Tuch über dem Kopf, um die Waldecke kommen. Ich habe den Verband da nicht berührt, aus Besorgniß er könne sich lockern und mir den Tadel der barmherzigen Samariterin zuziehen. Nun ist sie fort, in die weite Welt, als habe sie der Wind für immer weggeweht, sagt der Herr Amtmann – was fange ich an?“

„Erlauben Sie, daß ich das gegebene Wort einlöse,“ sagte sie, die Hand nach seiner Rechten ausstreckend, und ein scheuer, fast lächelnder Blick streifte sein Gesicht – er verzog keine Miene.

„Ich danke,“ versetzte er zurückweichend. „Das kann ich nicht annehmen. Der Verband bleibt wie er ist, bis ich meinen lieben Heilgehülfen gefunden habe. Ich sagte Ihnen schon, daß ich ihm nachgehen würde, und hoffe zuversichtlich, Sie werden menschenfreundlich genug sein, mir einen Fingerzeig zu geben, wie ich seiner habhaft werden kann –“

„Nein – das werde ich niemals,“ unterbrach sie ihn schroff und wandte sich ab.

„Aber das ist hart und unchristlich und häßlich parteiisch! Was hat denn her fremde Bettler drüben auf dem Krankenlager vor mir voraus, daß er sorgsam gepflegt wird, während Sie mir die Auskunft verweigern, die mir Heilung bringen soll?“

Sie wurde ganz blaß und drückte unhörbar die Thür zu, die bisher nur angelehnt gewesen war.

„Jawohl, ein Bettler,“ sagte sie mit umflortem Blick, „ein Mensch, dem nicht einmal das Kopfkissen gehört, auf welchem er seine Todeskrankheit durchgemacht hat. – Es ist bitter, über das weite Meer, durch tausend Gefahren und Strapazen dem Golde nachgegangen zu sein, um schließlich, zum Sterben erschöpft, arm wie Hiob, an der heimischen Schwelle zusammenzubrechen. … Für sein Mütterchen hat er draußen arbeiten und einheimsen wollen. Er hat gewußt, daß ein Tag kommen mußte, wo sie aus Glanz und Comfort in die bitterste Noth hinabgestoßen werden würde, und da hat er sich losgerissen, als er glaubte, es sei noch Zeit, vorzubeugen. Ein Anderer wäre vielleicht mit dem Scheitern seiner Pläne für die Seinen verschollen – das hat er nicht gekonnt – die Sehnsucht nach der alten Frau hat ihn gleichsam mit dem Zwangspaß nach Hause gejagt. Und nun muß er hier, keine tausend Schritte von ihrem Siechbett entfernt, unfreiwillig Station machen –“

„Ist es der, auf dessen Zurückkunft der Amtmann hofft, wie die Juden auf den Messias?“ unterbrach sie der Gutsherr ahnungsvoll, mit zurückgehaltenem Athen;.

Sie neigte schweigend und bejahend den Kopf.

Er fühlte sich tief erschüttert. Das war also der „Nabob“?

Eben noch hatte der alte Mann in seinen vermessenen Illusionen sich und seinen Sohn „Regierende von Goldes Gnaden“ genannt; er war stolz auf sein „magnifiques Programm“ gewesen, das mit dem californischen Golde urplötzlich eine Wüstenei in eine Art Schlaraffenreich wandeln sollte. Und durfte man sich auch sagen, daß der eingefleischte Renommist an seine kühnen Hoffnungsbilder selbst nicht allzufest glaube, so blieb es doch herzbewegend, zu wissen, daß „der Strolch mit dem polizeiwidrigen Bart“, dem er einen Zehrpfennig und ein Stück Bettelbrod vor das Hofthor geschickt, sein eigen Fleisch und Blut, sein „Goldjunge“ gewesen war.

Und inmitten dieses Familiendramas stand ein Mädchen, muthig und klug, und in Kindestreue gleichsam die feindlichen Speere mit starken Armen zusammenfassend und in die eigne Brust drückend. Sie hatte Alles auf sich genommen, den furchtbaren Druck harter Arbeit, die Sorge um das tägliche Brod, die Pflege der zwei hülflosen Alten – und nun lag hier noch Einer, dessen Heimkehr sie verbergen mußte; nur verstohlen hatte sie zu ihm schleichen dürfen. Mit welch herzklopfender Angst mochte sie wohl des Nachts das Vorwerk verlassen haben, um hier zu wachen! Und bei diesem Liebeswerk war sie von Frau Griebel gesehen und grausam verurtheilt worden!

Er sah sie mit gesenktem Kopf da an der Thür stehen und hätte ihre Kniee umfassen mögen. Aber in diesem Augenblick galt es, streng den Sturm im Innern niederzuhalten; sie war mit Recht erbittert und beleidigt, die vielgeschmähte Gouvernante – eine einzige leidenschaftliche Geberde der Tiefverletzten gegenüber schleuderte ihn weit von dem ersehnten Ziel zurück – das sagte ihm ihre ganze Haltung.

„Wird Ihr Vetter dem Leben erhalten bleiben?“ fragte er, Stimme und Gesichtsausdruck mit aller Kraft beherrschend.

„Gott sei Dank – ja! Der Arzt, der vor wenigen Minuten fortgeritten ist, erklärt ihn für genesend. Gestern Abend zeigte er große Besorgniß – das Delirium hatte einen kritischen Charakter angenommen –“

Das war das unheimliche Gemurmel in der Ecke gewesen, und aus dem biederen Thüringer Landarzt hatte die tolle Eifersucht einen Zigeunerhäuptling gemacht.

„Da trat an uns Pfleger einen Augenblick die schwere Frage der Verantwortung heran,“ führ sie bewegt fort. „Otto’s Heimkehr unter so unglücklichen Verhältnissen hatten wir vorläufig den Eltern verheimlichen müssen, aber wenn es an’s Sterben ging“ – sie verstummte in der Erinnerung an das furchtbare Dilemma, das über sie verhängt gewesen war, und in die plötzliche Stille hinein grollte fern der Donner, und ein Schauer großer Regentropfen schlug hart gegen die Scheiben.

„Das Wetter kommt, und der Forstwärter ist unterwegs nach der Tillröder Apotheke,“ sagte sie besorgt.

„Und auf dem Vorwerk ängstigen sich zwei alte Leute um eine junge Dame, die im Walde Blumen sucht,“ meinte Herr Markus.

Sie sah ihn fest, mit brennenden Augen an und zuckte bitterlächelnd die Schultern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_170.jpg&oldid=- (Version vom 9.10.2016)