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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Pavillons mit seiner offenen Thür und die Neigung, eiligst den Rückzug anzutreten, gewinne die Oberhand. Das war ein kritischer Moment, der dem Mann im Häuschen auf der Mauer den Herzschlag stocken machte, aber er ging vorüber; die „Samariter-Barmherzigkeit“ siegte und trieb das Mädchen Schritt um Schritt weiter.

Er mußte an den Morgen denken, wo sie so unbefangen desselben Weges gekommen war. Da hatte sich die einsam daherwandelnde Erscheinung aus der Morgensonnenbeleuchtung wie aus goldigem Grunde abgehoben – jetzt troff das Abendlicht wie dunkelglühender Purpur auf die regengetränkten Fluren nieder – recht so! In Gluthen mußte es untergehen, das Sehnen und Bangen, das Ringen und Kämpfen, das mit jenem Morgen angefangen. Damals hatten sein Uebermuth, sein ungezähmtes Freiheitsgefühl mit dem Mädchenstolz und -Trotz auf dem Kriegsfuß gestanden, und heute war er der Besiegte, aber auch heute – lief ihm das scheue Wild in’s Garn.

Tief in die Divanecke gedrückt, regte er sich nicht und hielt unbewußt den Athem an. Ihm war, als hänge in diesem Moment sein ganzes Lebensglück an einem dünnen Faden – ein Vogel, der plötzlich aus dem Dickicht seitwärts schwirrte, eine über den Weg huschende Feldmaus, ein Geräusch vom Gutshause her konnten die geängstigte Mädchenseele emporschrecken machen und das Wild auf Nimmerwiederkehr verscheuchen. … Je näher sie kam, desto heftiger schlugen seine Pulse. Mit fast flehendem Ausdruck sah sie nach der offenen Thür herauf und hoffte jedenfalls auf irgend eine entgegenkommende Hülfe – ah, um keinen Preis streckte er ihr auch nur die Fingerspitzen entgegen. Er wollte die ganze Süßigkeit der Situation auskosten – sie mußte von selbst, aus eigenem innersten Antriebe bis dicht unter seine Augen kommen.

Nun sah er sie nicht mehr – sie ging unter dem Häuschen hin. Er hörte, wie sich die rauhen Kornhalme drunten im Vorüberstreifen an den Falten ihres wollenen Kleides rieben: ein etwas schwerfälliger, zögernder Tritt erschütterte leise das schwanke Treppchen – dann stand sie plötzlich oben und lehnte sich wie athemlos und erschöpft an das Altangeländer.

Er sprang auf und trat zu ihr.

„Ich halte Wort,“ murmelte sie, fast in sich hinein. Sie blickte unter einem nervösen Zucken der Lider seitwärts auf das Kornfeld hinab, und ihre Hand ließ das Altangeländer nicht los.

„Ich wußte es,“ sagte er.

Jetzt sah sie mit einem schmerzlich zürnenden Blick zu ihm auf. „Ja, Sie waren Ihrer Sache gewiß, nach den Erfahrungen, die Sie mit dem Gouvernantenthum gemacht haben,“ entgegnete sie bitter und zog das weiße Tuch wie zum Schutz gegen ihn und die ganze Außenwelt noch tiefer um das Gesicht. Ihr Ton und diese Bewegung belehrten ihn, daß er noch weit vom Ziele sei.

„Ich wußte, daß mein lieber Heilgehülfe es nicht über das Herz bringt, einen Mitmenschen hülflos leiden zu lassen,“ sagte er zurückhaltend und stellte sich seitwärts hinter die Schwelle des Stübchens, um die Angekommene eintreten zu lassen. Sie ging auch sofort an ihm vorüber nach dem Tische, wo sie das Verbandzeug aus ihrem Körbchen nahm.

Er vermied es, sie anzusehen, während er neben sie trat – nur die größte Ruhe und Beherrschung seinerseits konnte ihr die Fassung zurückgeben, nach der sie sichtlich rang. Er sah, wie jede Fiber an ihr bebte, wie ihre Hände sich erfolglos abmühten, die aus einander fallenden Verband-Utensilien zu ordnen. „Wie ungeschickt!“ murmelte sie und fuhr mit der Rechten nach der Stirn. „Ich weiß nicht – die Luft hier beklemmt mich – was für ein jammervolles Geschöpf bin ich doch!“

Sie löste mit fiebernder Hast die Tuchzipfel unter dem Kinn und schob die Hülle nach dem Nacken zurück, um freier aufathmen zu können, und nun griff sie, ohne aufzusehen, nach seiner verbundenen Hand.

„Die Qual wird bald ein Ende haben,“ sagte er in Tönen, die beruhigen sollten, sie erstickten aber halb in seiner eigenen inneren Bewegung. Sie schwieg und begann die Leinenbinde abzuwickeln.

„Nun, das wenigstens ist mir erspart geblieben. Sie haben sich nicht auf’s Neue verletzt,“ sagte sie und hob die Stirn. „Die Wunde heilt sehr gut. Sie werden kaum eine sichtbare Narbe behalten.“

„Wie schade! Ich würde mich zeitlebens über das Erinnerungszeichen gefreut haben, wie der Student über eine kräftige Quart in seinem Gesicht. Und damit soll wohl nun auch gesagt sein, daß die chirurgische Behandlung nicht mehr nöthig ist?“

„Die meine wenigstens nicht,“ versetzte sie, während sie einen frischen Leinenstreifen mit flinken Händen aufrollte. „Was noch geschehen muß, das kann Frau Griebel ganz gut besorgen.“

„Ah, Sie sind sehr gütig. Nun denn, ich muß mich bescheiden, wenn ich auch nicht gerade gewillt bin, die brave Griebel zu meinem Heilgehülfen zu ernennen. … Vielleicht darf ich mir auf dem Vorwerk weitere Verhaltungsmaßregeln holen –“

„Das würde ein vergeblicher Weg sein,“ fiel sie ein, ohne von ihrer Beschäftigung aufzusehen. Dann trat sie von ihm weg – ihre Aufgabe war erfüllt.

In fliegender Eile raffte sie ihr Verbandzeug zusammen und schob es in ihr Körbchen. Ehe er sich dessen versah, war sie an ihm vorüber zur Thür hinausgehuscht, wie ein befreiter Vogel, der das Weite sucht. Erst draußen auf dem Altan, den Fuß bereits auf die zweite Stufe setzend, wandte sie sich noch einmal zurück: „Ist es nun genug der Selbstverleugnung?“ fragte sie, und verhaltener Jammer, mit bitterem Trotz gemischt, brach aus diesen Tönen. „Trüge jedes Samariterwerk einen solch schmerzenden Stachel der Demüthigung in sich, dann –“

„Warum quälen Sie sich und mich mit dieser kleinen Bosheit, die Ihnen nicht einmal aus dem Herzen kommt?“ unterbrach er sie – er hatte nach seinem Hut gegriffen und stand bereits neben ihr. „Nun ja, ich habe auf meinem Recht bestanden – wer will mir das verargen? – und Sie erfüllten einfach Ihr gegebenes Wort. Ist das so schlimm? Dafür begleite ich Sie jetzt ritterlich – nein, protestiren Sie nur nicht! Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, daß der Hirschwinkel von Zigeunern wimmelt.“

„Ach so, die könnten mich ja mitnehmen und auf dem Seile tanzen lassen,“ wandte sie sich mit einem halben Lächeln nach ihm um, der hinter ihr das Treppchen herabstieg.

„Wahrhaftig, wenn auch nicht auf dem Seile, so doch unter dem Leinendach eines Wagens; zwischen alten Hexengesichtern und wilder, junger Zigeunerbrut habe ich Sie heute schon gesehen. Doch das erzähle ich Ihnen später einmal, das heißt,“ verbesserte er sich schleunigst, „das heißt, wenn einmal die Gnadensonne in der Mansarde über mich armen Burschen aufgehen sollte! – Dazu ist bis jetzt freilich noch wenig Aussicht vorhanden, und da ich weiß, daß in vielleicht kaum einer halben Stunde mit dem weißen Kopftuch und dem Arbeitscostüm da auch Amtmanns Magd für immer verschwinden wird, so werde ich diesen kurzen Moment ausnutzen, so viel ich kann.“

Sie streifte ihn mit einem schnellen Seitenblick – er machte ein sehr ernstes Gesicht, während sich seine Schritte verlangsamten. Die Beiden gingen bereits neben dem Gehölz hin, etwas mehr inmitten des Weges; denn noch glitzerten die langen Nadelbärte der Fichten im Wassergerinnsel, und das vordrängende Dickicht war beperlt mit Millionen rollender Tropfen. All dieses Gefunkel aber und die regenbestäubten Aehrenspitzen des Kornfeldes, jede kleine spiegelnde Lache am Wege, fingen die rothe Gluth des Abendlichtes auf – versöhnend, nach dem Gewitteraufruhr, schienen Himmel und Erde, Sonnenfeuer und Wasser in einander zu schmelzen.

„Was glauben Sie, daß der junge Franz nach seiner Wiederherstellung beginnen wird?“ fragte der Gutsherr, ohne jede weitere Einleitung. „Nach Californien kehrt er doch keinenfalls zurück?“

Sie schüttelte heftig den Kopf.

„,Lieber Steine klopfen an einer Thüringer Chaussee!’ hat er mir in der ersten Stunde des Wiedersehens gesagt.“ Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust. „Sie wissen selbst am besten, in welchem Zustande der ,Goldjunge’ des alten Mannes auf dem Vorwerk seine Heimath wieder betreten hat. Wie er mir sagte, haben Sie ihn barmherzig vom Wege aufgenommen und die erste Nacht im Gutshause verpflegt. … Scham und Jammer haben ihn freilich dort nicht gelitten – er hat lieber einsam im Walde sterben und vermodern wollen, als fremder Barmherzigkeit anheimzufallen – das begreife ich, das begreife ich nur zu gut,“ unterbrach sie sich leidenschaftlich und preßte die Hände auf die Brust. – „Er hat Recht gehabt. Ein einsames Sterben ist nicht halb so bitter, wie unter dem fortgesetzten Druck demüthigender Wohlthaten leben zu müssen.“

Sie verstummte für einige Secunden. Mit schmerzhaft zusammengezogenen Brauen, die Unterlippe hart zwischen die Zähne

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_186.jpg&oldid=- (Version vom 9.10.2016)