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Seiten der Regierung ward ihnen dies nicht gewehrt, und nur die Gemeinde konnte Einspruch dagegen erheben. Genug, der Kronbauer war schon früher – social betrachtet – nicht ein Leibeigner, Höriger, sondern ein persönlich freier Erbpächter von Grund und Boden, keiner Willkür eines gebietenden Grundherrn unterworfen, aber das allgemeine Schicksal russischer Unterthanen, unter dem Druck einer oft despotischen Beamtenherrschaft sein Leben zu fristen, blieb freilich auch ihm nicht erspart.

Ungleich härter war das Loos der Bauern auf adeligen Gütern; diese waren ihren Gutsherren Gehorsam schuldig – „innerhalb der Grenzen der allgemeinen Reichsgesetze“, fügte die unter Nikolaus dem Ersten erschienene Gesetzsammlung (das sogenannte Swod) hinzu, aber was wollte das besagen hinsichtlich des Zinses, der Arbeiten und Leistungen jeder Art? Unerlaubte Klagen gegen ihren Gutsherrn sollten streng bestraft, Denunciationen gegen denselben nicht einmal angenommen werden, wenn sie nicht entweder auf Hochverrath und Versuch gegen das Leben des Monarchen oder auf Steuerhinterziehungen gerichtet wären. Das Entlaufen eines Leibeigenen von seinem Herrn wurde streng bestraft, aber die persönlichen Leistungen, welche der Herr von seinen Leibeigenen verlangen konnte, waren ihrer Gattung nach ungemessen, also in das Belieben des Herrn gestellt. Zwar schränkte das Gesetz die Zahl der Frohntage ein, damit dem Bauer noch Zeit, für sich selbst zu arbeiten, bliebe; auch diese Gesetzesbestimmung wurde jedoch öfters umgangen, indem die Grundherren ihren Leibeigenen, wenn solche nicht mehr als die gesetzliche Zahl der Tage arbeiten wollten, ein Stück des ihnen, den Leibeigenen, zum eigenen Nießbrauch überlassenen Landes einzogen. Als Inhaber und Verwalter der Polizeigerichtsbarkeit konnte der Herr Correctionsmittel und Strafen jeder Art über seine Leibeigenen verhängen; nur körperliche Verstümmelung oder Gefährdung des Lebens derselben war ihm untersagt; für Vergehungen gegen den Herrn und dessen Rechte wurden sie, auf seine Bitte, von der Regierung entweder einer Polizeistrafe unterzogen oder in Zucht- und Arbeitshäuser gebracht. Der Verkauf von Leibeigenen war durch das Gesetz zwar eingeschränkt, aber nicht verboten, kam daher nicht selten vor. Die Kinder eines leibeigenen Vaters waren, auch wenn die Mutter eine Freie, wieder Leibeigene. Unbewegliches Vermögen konnte ein Leibeigener nicht erwerben; selbst wenn ihm solches durch Erbschaft zufiel, wurde es verkauft und ihm der Erlös zugestellt, oder es fiel der Krone gegen eine Entschädigung zu. Die Leibeigenen konnten mit Genehmigung ihres Herrn Handarbeit treiben, einen Handel anfangen, Fabriken anlegen etc., aber sie blieben nichtsdestoweniger Leibeigene, und die ertheilte Genehmigung konnte daher auch zurückgenommen werden. Die Leistungen des Leibeigenen den Herren gegenüber waren entweder Naturalleistungen – Frohnen und Dienste jeder Art – oder sie bestanden in Geld, dem sogenannten Obrok, welcher bei den Leibeigenen der Adeligen durchschnittlich 10 Rubel Silber auf das männliche Individuum, also fünfmal so viel, als bei den Kronbauern betrug. Diejenigen, welche statt des Landbaues einen Erwerb außerhalb suchten, zahlten je nach dem Ertrage dieses Erwerbes einen höheren, oft bedeutend höheren Obrok.

Nach alledem waren die Leibeigenen auf den adeligen Gütern zwar nicht völlig rechtlos, aber doch in einem sehr ungünstigen und namentlich einem sehr unsicheren Rechtszustande; denn das Gesetz zog höchstens gewisse äußerste Grenzen, über welche hinaus die Willkür des Gutsherrn nicht gehen durfte; innerhalb dieser Grenzen mochte sie um so fesselloser schalten und walten, da ja selbst Ueberschreitungen des gesteckten Maßes weder gehindert noch bestraft wurden, weil der Gutsherr zugleich der Gerichts-Herr seines Leibeigenen und eine Klage des Letzteren gegen seinen Herrn (bei der Staatsbehörde) ausdrücklich untersagt, ja mit Strafe bedroht wurde.

Dies waren die bäuerlichen Zustände in Rußland, welche Alexander der Zweite vorfand. Die leibeigenen Bauern auf den adeligen Gütern machten mit ihren Familien nahezu den dritten Theil der Gesammtbevölkerung des Reiches aus. Eine so ungeheuere Masse von Menschen befand sich also in einen, nahezu rechtlosen Zustande, der Willkür, den Launen, den Leidenschaften ihrer oft sehr rohen Herren preisgegeben, mit Leistungen überlastet, politisch und social in eine unfreie, kaum menschenwürdige Stellung herabgedrückt. Alle diese Unglücklichen galten als bloße „Seelen“ (wie das Gesetz sie nannte), das heißt als Ziffern in den großen Steuerregistern des Staates, der von ihnen nicht weiter Notiz nahm, als indem er sie (neben ihren Abgaben an den Grundherrn) besteuerte.

Fast unmittelbar nach seiner Thronbesteigung, im März 1855, sprach Kaiser Alexander der Zweite gegenüber einer Anzahl hervorragender Adeliger in Moskau seinen festen Entschluß aus, die Leibeigenschaft abzuschaffen. Doch setzte er hinzu, er werde nur allmählich damit vorgehen. Nach Beendigung des Krieges mit den Westmächten durch den Pariser Frieden zu Anfang des Jahres 1856 bildete Kaiser Alexander ein geheimes Comité in Petersburg, das unter seinem persönlichen Vorsitze die Angelegenheit berieth, Es ward beschlossen, die Sache mit Zuziehung des Adels selbst zu ordnen, und zu diesem Zwecke wurden den Landesmarschällen in den verschiedenen Gouvernements die Grundsätze mitgetheilt, welche der Kaiser bei der Regelung der Frage in’s Auge gefasst hatte; die Landesmarschälle wurden angewiesen, über diese Grundsätze sich mit dem Adel ihres Gouvernements zu berathen und das Resultat der Besprechungen einzusenden. Drei Jahre lang dauerten diese Vorarbeiten. Wie umfänglich dieselben waren und wie genau es damit genommen wurde, geht daraus hervor, daß die Resultate derselben mehr als vierundzwanzig Foliobände füllen.

Nachdem endlich sämmtliche Beschlüsse der für diesen Zweck besonders gebildeten Gouvernementcomités adliger Grundbesitzer dem Kaiser zur Kenntnißnahme vorgelegt und von ebenfalls dazu ausdrücklich bestellten Centralbehörden sorgfältig geprüft worden waren, ordnete der Kaiser die Ausarbeitung der darauf zu gründenden socialen Gesetze an. An, 10. Februar 1861 erschien sodann ein kaiserliches Manifest nebst einer allgemeinen und einer ganzen Anzahl besonderer Verordnungen, wodurch die ganze ländliche Verfassung Rußlands neu geordnet ward. Das Manifest ist charakteristisch für die Denk- und Sinnesweise seines Urhebers, des nun dahingeschiedenen Kaisers. Es beginnt:

„Durch die göttliche Vorsehung und das heilige Gesetz der Thronfolge“ auf den angestammten Thron aller Reußen berufen, haben Wir, diesem Berufe gemäß, in Unserem Herzen des Gelübde treuen Unterthanen jeglichen Berufs und Standes zu umfassen – von dem, der für die Vertheidigung des Vaterlandes edel das Schwert führt, bis zu dem herab, der bescheiden mit dem Handwerkszeug arbeitet, von dem, der im höchsten Staatsdienste steht, bis zu dem, der mit der Pflugschar das Feld durchfurcht. Bei genauerem Eindringen in die Lage der Stände und Classen Unseres Kaiserreichs haben Wir wahrgenommen, daß die Reichsgesetzgebung, während sie die hohen und mittleren Stände thätigst organisirt, deren Pflichten, Rechte und Prärogative regelt, eine gleiche Thätigkeit nicht erreicht hat in Bezug auf die Leibeigenen. Die Rechte der Gutsherren hatten bisher eine weite Ausdehnung und waren nicht gesetzlich genau normirt. Die Stelle des Gesetzes vertraten Ueberlieferung, Herkommen und der gute Wille des Gutsherrn. In den besten Fällen ging daraus ein gutes patriarchalisches Verhältniß aufrichtiger und redlicher Fürsorge und Wohlthätigkeit seitens des Gutsherrn und gutmüthigen Gehorsams seitens der Bauern hervor. Aber vielfach lockerte sich dieses gute Verhältniß, und es wurde einer für die Bauern drückenden, deren Wohlfahrt ungünstigen Willkür der Weg geöffnet, welchem Zustande seitens der Bauern Unbeweglichkeit in Bezug auf Verbesserungen in ihren eigenen Lebens-Verhältnissen entsprach.“

Schon seine Vorgänger – fährt der Kaiser fort – hätten dies erkannt und daran, Maßregeln zur Verbesserung der Lage der Bauern ergriffen. Allein diese Maßregeln seien nur in sehr beschränktem Maße zur Ausführung gebracht worden. So sei er, der Kaiser, zu der Ueberzeugung gelangt, daß das Werk einer Verbesserung des Zustandes der Leibeigenen für ihn ein Vermächtniß seiner Vorgänger und eine durch den Gang der Ereignisse ihm zugetheilte Mission sei. Er habe das Werk begonnen mit einem Act des Vertrauens gegenüber dem russischen Adel; er habe den, Adel, auf dessen eigenes Anerbieten, überlassen, Vorschläge über eine neue Organisation der Bauernverhältnisse zu machen. Dieses Vertrauen sei gerechtfertigt worden. Der Adel habe den Rechten an die Person des Leibeigenen freiwillig entsagt. Ueber die künftigen Beziehungen der jetzigen Leibeigenen zu ihren Gutsherren seien Vorschläge gemacht und diese zu einer förmlichen Gesetzgebung über die agrarischen Verhältnisse verarbeitet worden.

Die Grundzüge der neuen Gesetzgebung, durch welche eine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_237.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)