Seite:Die Gartenlaube (1881) 339.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Deine Gedankenarbeit Dir auspreßt. Müh ist Müh, Schweiß ist Schweiß – wir haben gleiche Rechte, Du und ich; wir wollen auch unsere Lebensweise ausgleichen, unsern Besitz! Wir wollen einen Staat, wo Jeder gleiches Futter bekommt. Wir wollen den großen Zukunftstrog sehen, einerlei, wenn auch Jeder seinen Ring daran bekommt, an den er gekettet wird und fest liegt.‘

„Unsinn! Dummheiten! Ich sage Ihnen, Herr, ich, der es kennt; Amerika ist der Boden der Menschheitszukunft. Da ist eine große, unbezähmte, der Menschenkräfte und der Menschenordnung spottende Natur. Und mit ihr ringen um die Existenz, mit ihr kämpfen, um sie sich zu unterwerfen, das erfordert ganze, volle Menschen mit zäher, eiserner Kraft. Und Menschen mit zäher, eiserner Kraft, von denen ein Geschlecht nach dem andern die Art oder die Karsthacke vererbt, sie wollen nichts hören von Angekettetsein, vom Staatstrog, vom Casernenleben. Sie wollen die Ellenbogen frei haben. Freiheit wollen sie, Freiheit für Jeden; die Freiheit, zu genießen, was sie errungen haben, oder es aufzusparen für die Ihrigen, ihre Kinder; Freiheit für den Reichen, seine Schätze durch’s Fenster zu werfen oder sie auf eine waghalsige Speculation zu setzen; Freiheit für den Armen, sich durchzuschlagen, so gut er’s versteht; Freiheit für jede Kraft, sich einzusetzen und sich zu bewähren oder – unterzugehen. Solch eine Welt, wie diese ist und sein wird, wird die bestimmende sein für die Zukunft der Menschheit und ihr erstes Gesetz wird sein die Heiligkeit des Eigenthums, ihr Wahrspruch aber: Zum Teufel mit Allen, die mich und meine solide Kraft in die große Solidaritätscaserne mit allen unsoliden Burschen, die mich nichts angehn, einsperren wollen!“

Es war ein wunderliches Stück Beredsamkeit, was der alte Thierarzt da hastig und überstürzt vorbrachte – übermäßig viel ruhiger Gedankenentwickelung war nicht darin; aber für einen Mann, den man eben gestoßen und geschüttelt und angeschrieen hatte und den der eigene innere Zorn noch ärger schüttelte, bewies es so viel muthiger Geistesgegenwart, als man billig von ihm in seiner Lage erwarten konnte. Leider jedoch fand es weder diese noch irgend eine andere Anerkennung bei seinen Zuhörern.

„Herr!“ schrie ihm, als er jetzt aufathmend inne hielt, Doctor Milchsieber entgegen; „Sie kramen da die Grundsätze des allererbärmlichsten Egoismus aus, mit denen vor einer gebildeten Gesellschaft zu debütiren ein reifer Mann, wie Sie, sich schämen sollte …“

„Schämen“ – Lanken’s Faust ballte sich, und er erhob sie, seiner nicht mehr mächtig, und brachte sie Milchsieber’s noch immer feuerrothem Gesichte bedenklich nahe – „schämen … das wagen Sie mir zu sagen, Sie, der …“

Lanken fühlte sich schon wieder ergriffen, gestoßen, von Flüchen umschwirrt – das gab seiner Besonnenheit den Rest und wüthend rief er aus:

„Sie, der zu einer Bande gehört von Dieben, von Spionen …“

Zu enden wurde er durch eine Faust verhindert, die in sein Halstuch fuhr. Wie rasend schlug er jetzt um sich, um sich loszuringen; ein wüstes Geschrei erhob sich; eine rohe und widerwärtige Scene folgte, die nicht zu schildern ist. Zu gutem Glücke für des wackern alten Herrn heile Gliedmaßen dauerte sie nicht gar zu lange. Denn, wie aus der Erde gewachsen, standen nach einer Weile von wenigen Minuten vier, fünf Polizeileute da, die Lanken von seinen Drängern befreiten. Mit zwei andern Männern – es waren die, mit denen er hauptsächlich zu ringen gehabt hatte und deren Kampflust bei ihrem Anblicke wunderbar schnell erstarb – nahmen sie ihn in die Mitte, während ein ebenfalls wie aus der Erde gewachsener Herr in einer Dienstmütze nahe der Eingangsthür auf einem Stuhle stand und herrisch von da herunter rief: „Die Versammlung ist aufgelöst; die Anwesenden werden aufgefordert, aus einander zu gehen – räumen Sie das Local und gehen Sie sofort aus einander!“

Ein Schreien, Grunzen, Toben folgte; Lanken war es eine Wohlthat, aus dem Tohuwabohu zu entkommen und zwischen seinen Beschützern heil und unverletzt in’s Freie zu gelangen. Leider nur begnügten sich diese nicht mit ihrer Schützerrolle. Sie hielten ihn wie die beide andern Männer, deren sie sich bemächtigt, fest und führten sie weiter, zu dem Gartenlocal hinaus, und da die beiden Andern, welche größere Erfahrung in solchen Vorgängen haben mußten, ohne viel Protest sich führen ließen und nur lebhaft mit einander flüsterten, ließ sich auch Lanken, ruhig sein Schicksal erwartend und neugierig auf die weitere Entwickelung, fortführen.

Daß diese Entwickelung sich abspielen könne in dem Gebäude der Polizeidirection der Residenz, schwante ihm so ungefähr wohl, aber keineswegs ihr letztes Ende – er hätte wohl sonst gegen seine Verhaftung laut und lebhaft protestirt. Das Ende dieser Entwickelung entsprach nicht seiner Erwartung; denn er wurde nicht, wie er vermuthete, vor einen höheren Beamten geführt, dem er über sich hätte Auskunft geben können und mit dem er wohl bald zu einer Verständigung gekommen wäre; sondern man brachte ihn einfach in eine Haftzelle, ohne für sein Protestiren eine andere Antwort zu haben, als: er werde am nächsten Morgen zum Verhör gelangen.




12.


Aurel Lanken hatte unterdeß die Stunden in einer schwer zu schildernden Aufregung und Thätigkeit zugebracht. Die Abgabe der Geschäfte erforderte eine Menge augenblicklich zu treffender Maßnahmen und Verfügungen, die er einem Nachfolger nicht überlassen konnte; Papiere mußten geordnet und gesichtet, aufgeschobene Bescheide ertheilt werden – und dabei war Aurel in einer Gemüthsverfassung, die seine Gedanken jeden Augenblick von dieser Bedrängniß ablenkte, um ihn innerlich einer ganz andern Bedrängniß anheimfallen zu lassen.

Es lag ein so großes, aber auch so bitteres, unsäglich bitteres Glück in dem, was Regina ihm gesagt – in diesem Vorschlag zur Flucht mit ihm, zu der sie ihn ja förmlich gedrängt hatte. – Es war das offene Geständniß einer unbedingten Hingabe, ja mehr noch, einer Leidenschaft, wie sie für ihn nicht beglückender, nicht berauschender sein konnte. Aber wie furchtbar, wie herzbrechend bitter, das höchste Glück so nahe vor sich zu sehen und davor zu stehen mit zitternden, von unzerreißbaren Banden gefesselten Händen, die es nicht ergreifen, sich nicht nach ihm ausstrecken können!

Doch – es war das Muß, das unerbittliche, nicht umzustoßende, nicht zu erweichende Muß, dem er sich zu beugen, dem er alle schönen Träume von Lebensglück und Zukunft zu opfern hatte, und in der eisernen Härte dieses Muß lag der einzige Trost! Ueber den Schmerz, aus seinem Wirkungskreise scheiden zu müssen, half ihm gerade dieses Versunkensein in die persönlichsten Gefühle fort. Es war so Vieles, was er angeregt und aufzubauen begonnen, so mancher Keim war von ihm gepflanzt und gepflegt worden, weil darin eine für die Landeswohlfahrt fruchtbare Entwickelung vorauszusehen war; so Manches bedurfte noch seiner festen, schützenden Hand, wenn es nicht untergehen oder unter den Einflüssen einer anderen Denkrichtung verkümmern sollte. Aber das Alles verlor den Stachel seiner Bitterkeit in dieser Stunde, wenn er sich sagte: sei es drum – du bist nicht allweise, und guten Willens können auch Andere sein. Vielleicht wird der, welcher nach dir kommt, mit weniger Idealismus, als du, dem Lande ein praktischerer Verwalter sein und bald schon Niemand mehr es bedauern, daß du gingst.

Beschäftigt, wie er war, dazu durchwühlt von allem, was in diesen Stunden in seiner Brust vorging, hatte Aurel Sorge getragen, daß nicht noch Neues, Belästgendes auf ihn eindrang; er hatte seinem Diener befohlen, Niemand zu ihm zu lassen und einlaufende Briefschaften aller Art an sich zu nehmen, bis er sie ihm abfordere.

So kam es, daß er erst am andern Morgen, als der Diener ihm das Frühstück hereinbrachte, alles was eingelaufen war, vielleicht ein Dutzend verschiedenartigster Sendungen zugleich empfing; als er zerstreut sie durch die Hände gleiten ließ und die Adressen überflog, stutzte er bei der einer dieser Adressen – sie war von der Hand seines Vaters geschrieben. Rasch riß er das Couvert auf und las zu seinem nicht geringen Erstaunen:

„Lieber Aurel – sitze hier im Polizeigewahrsam – sie haben mich hier in Numero Sicher untergebracht, weil ich den Unsinn in der Socialistenversammlung nicht ruhig anhören konnte – wunderliche Logik – sitze aber fest. Habe ein wenig gelärmt, und in Folge davon haben sie mir Papier und Schreibzeug gegeben, damit ich es Dir mittheilen könn; wirst ja im Stande sein, mich bald wieder heraus zu lootsen. Dein Vater.“

Betroffen, erschrocken hatte Aurel diese Zeilen überflogen – ein wenig gedemüthigt und empört auch über seines Vaters transatlantische Neigung, sich in „Raws“ einzulassen, die ihn so arg

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_339.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)