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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 23.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Völkerpfingsten.

Von Emil Rittershaus.[1]

Der Winter kam vom Nord geschritten
Durch Wald und Wiese, Flur und Forst,
Und unter seinen eh’rnen Tritten
Der frostdurchzogne Boden borst.

5
Die Welle, die mit raschem Fluge

Gewohnt durch Berg und Thal zu gehn,
Es mußt’ vor seinem Odemzuge
Das Blut der Erde stille stehn.
Des Lebens Pulse mußten stocken;

10
Die Blume lag verdorrt im Feld,

Und schimmernd fielen weiße Flocken
Auf’s Leichenangesicht der Welt.

Da hob der Frühlingssturm die Flügel,
Und jedes Herz war froh gestimmt;

15
Wir wußten’s ja, daß er die Zügel

Der harten Hand des Winters nimmt,
Daß er zerbricht, was dürr geworden,
Und Raum dem Trieb, dem jungen, bringt,
Daß er in brausenden Accorden

20
Ein Lied der Auferstehung singt.

Die Welle brach des Eises Schranken
Und sprudelt’ schäumend himmelan
Und trug den hohen Lenzgedanken
Vom Fels bis zu dem Ocean.

25
Und jetzt! O seht, wie segentrunken

Die Welt im Maienschmucke steht!
Die Morgenröthe ist gesunken
Als Rose in des Gartens Beet,
Und wenn die Sterne leise wallen

30
Am Abend durch des Himmels Raum,

Dann singen noch die Nachtigallen
Die süßen Lieder fort im Traum,
Und alle diese Wunderwonne,
Die singt und klingt und blüht und sprießt,

35
Ist Pfingstgeschenk der goldnen Sonne,

Die auf die Welt die Strahlen gießt. –

Ihr Völker in der weiten Runde,
Wer ist’s, der’s uns verkünden mag:
Wann bricht nach mancher trüben Stunde

40
Für euch herein der Pfingstentag?

Der Knechtschaft Winter wußt’ zu biegen
In’s Joch euch mit der eis’gen Faust,
Und heulend kam in blut’gen Kriegen
Ein Frühlingssturm herangebraust.

45
Es ist vorbei – und selig werden

Möcht’ nun das Herz im Sonnenschein –
O ew’ger Gott, wann soll auf Erden
Denn endlich Völkerpfingsten sein? –

Ihr braucht die Sterne nicht zu fragen

50
Mit kummerblassem Angesicht;

Es kann’s euch jede Blume sagen:
Das Leben ist allein im Licht.
Ihr schaut vergebens nur nach oben,
So lang ihr euch im Traum behagt,

55
Gebückten Haupts der Pfaffenroben,

Der Purpurmäntel Schleppen tragt.
Die Freiheit wird ihr eigner Henker
Bei einem Volk, bethört vom Wahn;
Nur einer Welt der freien Denker

60
Kann einst ein Völkerpfingsten nah’n.


Das Licht in’s Volk! Von allen Zinnen
Gepredigt wider jeden Trug,
Der gerne möcht’ die Welt umspinnen,
Wie er sie einst in Bande schlug!

65
Das Licht in’s Volk, daß es die Flügel

Des Geists gebraucht in stolzer Kraft,
Daß es, entwöhnt von Joch und Zügel,
Sich selbst die bessre Zukunft schafft! –
Zu einem Bunde fest zusammen,

70
Die ihr das Herz der Menschheit weiht!

So wahr der Sonne Strahlen flammen,
Es kommt der Völker Pfingstenzeit.





Nicht zu hoch.

Erzählung von Hermann Lingg.

Aus einer der Berggruppen unserer Alpenkette ragt ein besonders steiler Gipfel empor, der zwar, aus der Ferne gesehen, nur als Zwischenglied mächtiger Höhen und nicht sehr ansehnlich erscheint. Wenn man ihm aber näher kommt, zeigt er sich als eine ganz erhebliche Felsenmasse.

Den Namen dieses Bergriesen, den ich hier verschweigen will, trug auch ein lebendes Wesen, ein Niedriggeborener, der nichts weniger als ein Riese, sondern mehr ein Gnom war, ein Männchen von unscheinbarem Aussehen, klein, etwas verwachsen und von sehr bleicher Gesichtsfarbe. Er hörte es gar nicht gern, wenn man ihn bei seinem stolzen Familiennamen nannte; der Vergleich mit dem Berge fiel doch gar zu spaßhaft ungünstig für ihn aus, und doch mußte er bisweilen spöttische Anspielungen deshalb über sich ergehen lassen. Wer ihm aber wohlwollte – und das war bei der Mehrzahl der Leute seiner Umgebung der Fall – nannte ihn einfach bei seinem Taufnamen Sebaldus „den Herrn Sebald“.

Er war armer Leute Sohn und Schreiber bei dem Anwalte in einem seinem Heimathorte benachbarten Städtchen. Da er von Kindheit an kränklich und zu Feldarbeiten unbrauchbar gewesen, dagegen eine hübsche Handschrift besaß und sich sonst auch fleißig und anstellig erwies, so fand er sich bald an seinem rechten Platze und arbeitete sich in kurzer Zeit so in seinen Dienst hinein, daß ihm sein Herr nicht nur Schreibereien, sondern auch Geld- und andere Commissionen anvertrauen konnte.

Der junge Schreiber wurde nach und nach ein halber Jurist. Jeden Abend ging er in sein Heimathdorf, eine gute Stunde Weges, woselbst er bei einer älteren unverheiratheten Schwester wohnte. Den Mittag über blieb er auf der Schreibstube und verzehrte sein frugales Frühstück, das er von Haus in seiner Rocktasche mitgebracht hatte. Diese freie Zeit, während welcher die Geschäfte ruhten, benutzte Sebald dazu, die juridischen Bücher seines Principals durchzusehen und sich aus ihnen, so gut es ging,

  1. Aus dessen „Neuen Gedichten“ (vierte Auflage, Leipzig, Ernst Keil).
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 369. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_369.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)