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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Quell aller Schmerzen etwas von der Kraft jenes sagenhaften Wassers des Lebens, schlug er die Augen auf.

Elektrisch zuckte es über Ottilie hin, ein Jubellaut brach halb erstickt aus ihrer wildklopfenden Brust, so groß war aber bereits die Gewalt, welche das Kind sich abzugewinnen vermochte, daß ihr selbst in diesem Moment grenzenloser Freude das Bewußtsein blieb, sich still, ganz still verhalten zu müssen. Sie preßte nur ihre Lippen auf des Vaters blasse Stirn und athmete:

„Du lebst.“

Er sah sie traurig an. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Ton ward vernehmbar. Namenlose Unruhe schien ihn zu bedrängen; die verängstigten Augen sprachen Worte, welche sich den Lippen versagten; schwach hob er die Rechte, als wollte er Ottilie näher zu sich ziehen. Sie neigte ihr Ohr zu den sich immer von Neuem bewegenden Lippen und lauschte, als sollte sie des Vaters Seele in sich trinken. Während ihre Augen in die seinen tauchten, ganz Liebe und Jammer, drangen endlich schwache, halb verwehende Worte an ihr Ohr:

„Du hast einen Bruder!“

Der Mund verstummte; der Blick sprach weiter mit jener unaussprechlichen Beredsamkeit, welche dem, der begreift, mehr sagt als tausend Worte, dem Nichtwissenden über nur eine Welt voll Angst ausdrückt. Alles, was noch von Leben in Meinhard war, sammelte sich zur letzten Kraftanstrengung; er richtete sich einen Moment auf; im nächsten sank sein Haupt zurück, und sein Kind wußte, er würde es nie wieder erheben.

Von heiligem Instinct geleitet strich Ottilie leise, ganz leise über die gebrochenen Augen hin, und die Lider schlossen sich. Jene Verklärung, die von anderen Welten predigt, ging in dem stillen Antlitz auf. Ein Zittern flog über das Mädchen hin; ihr Herz schrie zu Gott empor:

„Hast Du mich verlassen?“

Ihr zu Häupten klang fort und fort der melodische Amselruf wie eine Stimme vom Himmel.

Etwa eine Stunde mochte vergangen sein, als der Einödbauer mit seinen Knechten zur Stelle kam, um den Verunglückten, je nachdem, auf seinen Hof oder nach dem Schlosse zu schaffen. Da kein Fahrweg vom Einödhofe nach den Ruinen führte, war in der Eile aus Leitern und Tannenzweigen eine Tragbahre hergestellt worden. Bestürzt standen die Leute Angesichts eines Todten. Der Erbe weit ausgedehnte Besitzes, der letzte Sohn des Mächtigen, der, gleich einem regierenden Fürsten, selbst Solchen, die ihm nicht unterthänig, Gesetze vorschrieb und bei Allen Gehorsam fand, ward auf die armselige Bahre gehoben und zog nun, ein stummer Gast, dem Vaterhause entgegen, das ihm vor einer kurzen Woche Triumphpforten aufgerichtet.




5.

Wohl niemals widerstrebt unser Herz mehr der grausamen Herrschaft einer von außen wirkenden blinden Naturgewalt, wohl niemals unterliegt es derselben schmerzlicher, als wenn ein geliebter Todter auf der Bahre ruht. Wie erhaben, wie großartig ist der Tod! Feierliches Schweigen fordert er, und uns ist, als dürften nur unsichtbare Flügel das Haus umrauschen, in das er eingekehrt – und doch drängt sich gerade Angesichts des Todes nur allzu viel Gefälligkeit auf, drängt sich selbst Gemeines herzu und läßt sich nur durch Abwehr fern halten. Diese Abwehr kennt, im Grunde genommen, aber nur der Arme; der Reiche, der Hochgestellte liegt hier, wie auch sollst im Leben, in den Banden einer rücksichtslosen Tyrannei der Sitte; denn im Hause des Vornehmen wohnt der dem Erhabenen fremdeste Gast: die Etiquette.

Was auch in der verschlossenen Seele des kinderlosen gräflichen Greises vorgehen mochte, er vergaß nicht, jede Vorschrift solcher Etiquette anzuordnen. Reitende Boten gingen und kamen. Durch das vom Morgen bis zum Abend geöffnete Schloßthor strömte schon am nächsten Morgen nach dem Unglückstage die gesammte Nachbarschaft herein, den prunkvoll Aufgebahrten zu beschauen. Wohl mischte sich in die Neugier mancher rührende Zug; denn alle Grund- und Hofbesitzer des Bezirkes hatten den stillen Mann da auf der Bahre schon als Knaben gekannt und gern gehabt – und nun sollten sie sein Antlitz zum letzten Male schauen. Still ward es erst am dritten Tage um den Todten her, als er seine letzte Reise antrat.

Vom Schloßgesinde und einer großen Anzahl von Landvolk geleitet, bewegte sich der Wagen, welcher Meinhard’s Leiche der Ruhe entgegentrug, langsam bergab. Ueber das gefurchte Gesicht des alten Kutschers, der dem Hause seit Jahrzehnten gedient, tropften große Thränen, und der lange Flor seines Hutes bewegte sich wie eine Trauerfahne im Morgenwinde. Kein Laut als die Tritte der Geleitenden störte die Waldesstille; nur zuweilen klirrte leise ein Rosenkranz, oder ein stärkerer Lufthauch trug das sonore Glockengeläute von der kleinen Dorfkirche gedämpft herüber an Ohr und Herz der Leidtragenden. Die hohen Wipfel der Bäume schwankten, als wollten sie dem Heimgegangenen einen letzten Gruß zuwinken, und stumm schwirrten die aufgescheuchten Vögel von Ast zu Ast. Aus dem leicht umwölkten Himmel brach hin und wieder ein Sonnenstrahl, drang durch das duftende Laub und vergoldete den letzten Weg eines Vielgeliebten, der eine Stunde später in derselben stillen Dorfkirche seine Ruhestätte fand, über deren Taufstein dereinst sein hoffnungsreiches Dasein eingesegnet worden.

Es war spät am Abend. Graf Raimund saß einsam in seinem Schlafgemach. Er sah alt und verfallen aus, und über seinem festgemeißelten Gesicht lag es wie Schatten äußerster Müdigkeit. Das im südwestlichen Eckthurm befindliche Gemach, welches den ersten und letzten Strahl der Sonne empfing, trug um diese Stunde einen düsteren Charakter; und die auf dem Tische brennende Lampe erhellte nur ihren nächsten Umkreis, in allen Winkeln lagerten tiefe Schatten. Die strengen Linien altdeutscher Bilder dämmerte von den Wänden nieder. Vor dem Grafen lag eine geöffnete Brieftasche, und einige Papiere waren über den Tisch hingestreut, darunter ein Brief, welchen der Greis jetzt zur Hand nahm und entfaltete. Noch ehe er dessen erste Seite beendigt hatte, schlug er das Blatt um und sah nach der Unterschrift; dann stützte er den Kopf auf die Hand und begann noch einmal das Schriftstück von Anfang an aufmerksam zu durchlesen. Die freien, festen Züge waren von Frauenhand.

„Mein Geliebtester!

Siegmund schläft. Ich saß an seiner Wiege, bis es dunkelte, und schaute ihn an. Wenn das Kind schlummert, gleicht es Dir Zug um Zug; nur die Augen mögen sein Muttererbe sein. Während ich unseren Sohn behüte, fühle ich mich Dir plötzlich seltsam nahe – der Gedanke dringt unaufhaltsam bis in Dein Zimmer, ich sehe Dich dort umhergehen, das lächelnde Auge zu den alten Reimen aufgeschlagen, die, wie Du mir erzähltest, im Schlosse Deiner Väter die Wände schmücke; deutlich vernehme ich den Klang Deiner Stimme; sie liest eben einen der Sprüche und trifft mein Ohr so vernehmlich, daß mein Herz merklich höher schlägt.

Meinhard, ich denke Deiner mit jedem Athemzug – nicht nur weil ich Dich liebe, mehr noch, weil im Bewußtsein, daß alles Licht, alle Wärme nur von Dir ausgehen, mein ganzer Himmel liegt. Erst seit ich Dein bin, seit unser Kind die Augen aufgeschlagen, weiß ich, daß Liebe das Heiligste aus Erden ist. Geheiligt sind fortan all meine Freuden und Leiden. Wäre es möglich, daß ich Dich je verliere könnte, so ginge mehr zu Grunde als Glück und Leben; der Gott in meiner Brust müßte sterben – aber die Götter sind unsterblich; ich kann Dich nie, niemals verlieren! Der bloße Gedanke daran ist ein Verbrechen – vergieb ihn mir! Seit zwei Tagen quält mich namenlose Unruhe; selbst die Liebesworte Deines Briefes konnten sie nicht einschläfern Bleischwer lasten die endlosen Stunden des Fernseins. Wir hätten bei einander bleiben sollen. Keine thörichte Ungeduld, kein Drängen spricht aus mir, nur Sehnsucht, die mich zuweilen anfällt fast wie körperlicher Schmerz. Seit Stunden schon tobt um die Moosburg heftiger Gewittersturm; es grollt von Berg zu Berg, und der Himmel steht meilenweit in Blitzen. Aber hier im Schlafzimmer ist es so todtenstill und öde – ich höre jeden Federstrich.

Gute Nacht! felicissima notte – weißt Du noch, wo Deine weiche Stimme den Gruß des Südens zuerst vor mir sprach? Es war in Sorrent. Schlaf wird bei mir so bald noch nicht zu Gaste komme, um weiter zu schreiben bin ich aber zu ruhelos. Im Erkerfenster, aus dem wir so gern zusammen in’s Thal niederschauen, will ich noch ein Weilchen dem Toben der Elemente lauschen und Deiner denken. Gute Nacht!

Deine Genoveva.“

Graf Raimund las mit zusammengezogenen Brauen langsam bis zu Ende.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_474.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)