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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


duldete sie dies von Andern, und doch war kaum je ein Kind so geschaffen, Impulse hervorzurufen. Keine Welle konnte beweglicher sein. Eben noch sprühend vor Lust, nach Sonnenstrahlen haschend, in deren Gefunkel er tanzte, war Siegmund im Stande, schon im nächsten Augenblicke mit kummervollem Vorwurfe in den großen Augen zum Himmel aufzusehen, weil dort eine Wolke zerfloß, die er gebeten hatte, zu verweilen. Dann wieder sah man ihn mit dem Wildfange Maxi um die Wette toben; jubelnd vor Uebermuth rannten die Kinder einander nach, bis ihnen der Athem ausging, schauten sich bis in den Grund der Augen, wenn Eins das Andere erhascht hatte, und brachen dann in unauslöschliches Gelächter aus, ohne zu wissen worüber. Mitten in der glühendsten Spielfreude genügte aber stets ein Ruf der Mutter, um das Kind augenblicklich an ihrer Seite zu haben.

Fügen, der den Knaben insgeheim vergötterte, war stets entrüstet, wenn dieser irgendwie in seiner Freiheit beschränkt wurde. „Wäre der Bub’ ein Prinz und die gnädige Frau seine Aja, dann ließe ich mir solches Einschränken gefallen,“ sagte er mitunter im Unmuthe zu Jana, wenn er eben Zeuge gewesen war, wie dem Kleinen schon so früh Selbstüberwindung in jeder Form auferlegt wurde. „Solch ein armes, stets auf hoher Warte sichtbares Fürstenkind muß freilich bei Zeiten dahin abgerichtet werden, überall Schranken zu sehen, sei’s nun für die Andern oder für sich selbst. Auch für Alltagsnaturen möcht’ es gelten, weil Die geborene Subalterne sind. Ist aber unter Hunderttausenden einmal eine Natur wie diese aus dem Ei geschlüpft, wozu sie einengen? Gewähren lassen ist Alles bei den Kleinen wie bei den Großen. Laßt doch das Kind frei sein! Es wird schon von selber ausfindig machen, was ihm nützlich ist; es findet überhaupt Alles von selbst aus durch den Engelsinstinct. Laßt ihn doch nach Gefallen lärmen oder auch in sich hineinsinnen! Wenn er so dasteht, wie ein verzückter Heiliger, und seine Sternaugen das ganze Gesicht erhellen, dann weiß und sieht er mehr als wir Alle – das dürft Ihr mir glauben. Jetzt schon weiß das kleine Gemüth sich unsere Stimmungen von unserer Stirn abzulesen, und auf seinem Gesichtchen spielt unser Leid und unsere Freud’ wieder, wie Sonnenlicht und Schatten auf dem Laub. Trotz alledem – nun, mein Trost ist, daß noch Keiner aus einem Sonntagskinde eine Alltagsfigur zurechtgemodelt hat – sonst könnte Einem angst und bange werden.“

Jana lachte zu solchen Ausfällen, machte wohl auch einen schwachen Versuch ihrer Herrin straffe Zucht zu vertheidigen, doch merkte Fügen bald genug, daß sie heimlich seiner Meinung sei. Sie war überhaupt immer seiner Meinung, nicht weil sie ihn damit unbewußt hätte bestechen wollen, sondern weil Alles, was er sprach und that, ihr als das Beste vorkam. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, wie so ganz das liebe Mädchen in ihm aufging, und ebenso wenig verhehlte er sich, wie sehr ihn das beglückte. Gedanken, die er früher nie gehegt, oder als nicht gemäß für sich und seine Ziele abgewiesen hacke, klopften jetzt oft und öfter bei ihm an. Die Vorstellung, später von hier fort zu müssen, all das Behagen zu entbehren, das ihm nicht mehr neu, aber noch ebenso köstlich erschien, wie zu Anfang, war ihm überhaupt sehr unerfreulich; ein Zukunftsbild ungemütlicher Häuslichkeit vielmehr des Mangels jeder wirklichen Häuslichkeit, wobei er früher seine Tage hingebracht, erschien ihm Grau in Grau. Ewig konnte er nicht aus der Moosburg bleiben. Warum nicht thun gleich Andern, sich ein Heim gründen, das ihm eigen blieb, er mochte sich nun aufhalten, wo immer? Der gute Hausgeist für solches Heim war ja gefunden.

(Fortsetzung folgt.)





Skizzen aus deutschen Parlamentssälen.

4. Die deutsche Fortschrittspartei.‘‘‘[1]

„Das Wort hat der Herr Abgeordnete Richter (Hagen).“

Und wenn das „hohe Haus“ auch matt und müde oder – durch die vorhergehenden Redner der Aufmerksamkeit entwöhnt – in lebhafte Privatgespräche vertieft ist, so ist es doch schnell wieder bei der Sache; die Flüchtlinge kehren aus Foyer und Restauration zurück; die Commissarien des Bundesrathes nähern sich der linken Seite, und auf der Rechten schließen sich die Reihen, wie zum Carré, das mit gefälltem Bajonnet den feindlichen Ansturm kampfesfroh erwartet. Zuweilen bleibt es bei einem kurzen raschen Vorstoß, einigen scharfen Hieben, einem flüchtigen Plänkeln – nicht selten aber erfolgt ein mehrstündiger Vormarsch nach allen Regeln der Strategie, mit angezeichneter Munition und tiraillirendem Ausschwärmen nach allen Seiten; genau markiren sich die Punkte, wo es eingeschlagen, überall lebhaftes Feldgeschrei für und wider, und das Gefecht entbrennt auf der ganzen Linie. Nur klein ist das Häuflein, das um den muthigen Führer sich schaart, zur Hälfte mindestens alte Garde, darunter ehrwürdige Veteranen, die treu und beständig das Banner der deutschen Fortschrittspartei hochgehalten in allem Wechsel der Ereignisse und der Meinungen, das Banner der ältesten unserer parlamentarischen Parteien.

Als im October 1858 der Prinz von Preußen die Regentschaft übernommen und seine Ansprache mit ihrer vernichtenden Verurteilung der Heuchelei und Scheinheiligkeit, „alles Kirchenwesens als Mittel zu egoistischen Zwecken“, veröffentlicht hatte, begann das Volk endlich wieder freier zu athmen und glaubte die lange Nacht der Reaction gewichen Die „Landrathskammer“ wurde bei den Wahlen gesprengt, und im neuen Abgeordnetenhause gebot das liberale Ministerium über eine gewaltige Mehrheit. Der italienische Krieg und der Friede von Villafranca im nächsten Jahre zeigten mit einem Male wieder den Jammer deutscher Zerrissenheit in grellster Beleuchtung, Oesterreich und die Mittelstaaten in erbitterter Feindschaft gegen Preußen, alle alten Gegensätze – zwischen Norden und Süden, Katholiken und Protestanten, Demokraten und Constitutionellen – jäh geweckt und neu verstärkt. Aufgerüttelt durch des Vaterlandes Noth, fanden sich in Eisenach und Hannover patriotische Männer zusammen und beriefen eine größere Versammlung Gleichgesinnter auf den 15. und 16. September 1859 nach Frankfurt am Main. Das Mißtrauen gegen Preußen verhinderte die Einigung über ein bestimmtes Programm, aber statt dessen ward auf den mit einer begeisterten Rede begründeten Vorschlag von Schulze-Delitzsch das Statut eines programmlosen Vereins angenommen, der es sich zur Aufgabe stellte, „zum Zwecke der Einigung und einheitlichen Entwickelung des großen gemeinsamen Vaterlandes“ mit allen gesetzlichen Mitteln zu wirken. So entstand der „deutsche Nationalverein“, der die Bewegung rasch in Fluß brachte und unter großer Theilnahme des Volkes überall eine rührige Agitation entwickelte.

Das Ministerium der „neuen Aera“ in Preußen erwies sich in der deutschen Frage sehr bald unentschieden und ohne Muth, nach innen, gegenüber dem vollständig conservirten Beamtenbestand der Reactionsperiode, kraft- und machtlos, und die Mehrheit des Abgeordnetenhauses drängte es nicht vorwärts, sondern stimmte, um die „liberale“ Regierung nicht zu gefährden, sich selbst immer mehr herab. Das preußische Volk gab nicht mißzuverstehende Zeichen seines wachsenden Unmutes: bei drei Nachwahlen wählte es den alten Kammergerichtsrath Taddel, den mannhaften Präsidenten des abscheulichen Waldeck’schen Hochverrathsprocesses, Waldeck selbst und Schulze-Delitzsch, die bis dahin mit den andern demokratischen Führern eine weise Zurückhaltung beobachtet hatten. Auch innerhalb der maßgebenden, 150 Mitglieder zählenden parlamentarischen Fraction Vincke steigerte sich die Unzufriedenheit mit dem stets herrischer sich geberdenden, nach rechts treibenden Führer, und es erstand in

  1. Nicht ohne Absicht bringen wir gerade jetzt, in dem kritischen Momente des beginnenden Wahlkampfes, mit obigem Artikel unsere objectiven Würdigungen der drei liberalen Hauptparteien des deutschen Reichstags (vergl. Nr. 48, Jahrg. 1880 und Nr. 14 d. J.) zum Abschlusse. Bald werden die Wähler aufs Neue an die Urne herantreten, aus welcher das Schicksal der inneren Lage Deutschlands für die nächste Legislaturperiode hervorgehen wird. Das ist ein Moment, der uns Alle an die Pflichten mahnt, die wir dem Vaterlande, seiner freien Entwickelung nach innen, seiner Sicherung nach außen hin schuldig sind. Angesichts der immer mehr erstarkenden Reaction ist das Zusammengehen aller Liberalen ein zwingendes Gebot, und im Hinblick auf die bevorstehenden Neuwahlen rufen wir unsern Lesern zu. Jeder freie Mann thue seine Pflicht – und wähle liberal!
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_524.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2022)