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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

15.

Der Postillon schmetterte sein „Gott erhalte Franz den Kaiser!“ in den hellen Octobermorgen hinein, während die alte, gelbe Karriole durch die Fahrstraße von Lahnegg rasselte. Nur ein Passagier saß im Innern, doch konnte er für zwei gelten, da sein buschiger Kopf bald zum rechten, bald zum linken Wagenfenster hinausfuhr, als wollte er jedes Haus und jeden Steig zu gleicher Zeit in’s Ange fassen. So kam es, daß er schon von Weitem dem schlanken Jünglinge sichtbar wurde, der einige Schritte vom Posthause entfernt stand und sich demselben rasch näherte, als der Wagen still hielt. Sein schmales Gesicht färbte sich leicht, und die grauen Augen blickten dem Ankömmling so beredt entgegen, daß Fügen keinen Moment in Zweifel darüber blieb, wer ihn hier erwartete.

„Lois!“ rief er froh, indem er niedersprang und dem jungen Menschen beide Hände entgegenstreckte. „Das ist ja schön.“

„Grüß Gott, Herr Fügen!“ sagte Lois mit wohlklingender, tiefliegender Stimme, welche Fügen mehr noch als seine Erscheinung an die Reihe von Jahren mahnte, welche seit dem Verkehr Beider als Lehrer und Schüler verflossen waren. Der hochaufgeschossene Seminarist erschien in der langen Soutane noch größer, als er wirklich war. Schon beschattete dunkler Flaum seine Lippen, und in dem intelligenten Gesichte trat ein prägnanter Ausdruck von Kraft hervor. Doch wölbte sich die entschlossene Stirn auch jetzt noch über dämmernden, etwas verschleierten Augen, deren rascher Freudenblitz sich nach der ersten Begrüßung in Stille verlor.

„Ich kam im Auftrage der gnädigen Frau mit dem Einspänner des Auwirthes,“ sagte er, während er dem Reisenden seinen Mantelsack aus der Hand nahm.

„Fahren? Nicht doch!“ sagte Fügen. „Ich habe mich seit einer Stunde schon darauf gefreut, durch den Ort und über die Wiesen zu gehen. Der Reisesack mag sich kutschiren lassen; wir Zwei wollen wandern.“

Während Lois dem vor der Thür des Judenwirthes harrenden Kutscher das leichte Gepäck übergab, ließ Fügen seine Augen über den wohlvertrauten Platz schweifen, auf dem sich nichts verändert hatte. Dort der Brunnen mit den verwitterten Umfassungsmauern drüben das alte von der Straße etwas zurückweichende Wirthshaus, daneben dessen tiefschattiger Garten, wenige Schritte weiter der rothe Spitzthurm des hochgelegenen Pfarrkirchleins! Das Rauschen des Alpbaches drang Fügen in’s Ohr, und der Ton klang wie Heimathslaut. Nun lief der Postexpeditor aus seiner Bude, ihn zu begrüßen – dasselbe treuherzige, nur etwas faltiger gewordene Gesicht von einst! Die Judenwirthin kam über die Straße und bot ihm schon von Weitem die Hand entgegen. Ein Gefühl von Heimkehr überwallte ihn so warm und wohlig, wie seit seiner Knabenzeit nicht mehr, und wuchs, während er nun durch den Ort schritt, wo die Leute feiernd auf den Bänken vor ihren Häusern saßen. Alles erschien ihm geschmückt und festlich. Rothblühendes Bohnengeranke, purpurfarbiges Weinlaub spann sich über die Wände; vom First der steinbeschwerten Dächer hingen goldige auf Schnuren gereihte Maiskolben in Girlanden nieder und berührten fast die blaßrosa Hortensien, welche auf dem Sims der „Lauben“ gereiht standen. In dem kleinen Garten erhoben sich hochstämmige Malven in buntem Flor. Das Alles hatte er ganz ebenso gesehen vor langen Jahren, und die Menschen schienen ihm auch ganz dieselben zu sein wie damals. Er wunderte sich durchaus nicht, von allen Seiten erkannt und begrüßt zu werden, als sei er gestern erst von hier fortgegangen; der Gedanke, daß seine Ankunft durch Lois und den wartenden Wagen angekündigt worden, kam ihm nicht einmal in den Sinn; er nickte nur und warf fröhliche Worte nach rechts und links.

Erst als Lois das Pförtchen zurückschlug, welches durch leichte Umzäunung in Wiesen- und Waldrevier führte, verstummte der Wanderer. Wie oft war er in Gesellschaft Jana’s und der Kinder diesen seinen Lieblingsweg gegangen! Die Sonne stand bereits hinter den Bergen, welche ihre zackigen Schatten weithin über noch frischleuchtenden Wiesengrund warfen; dieser führte, langsam aufsteigend, durch ein kleines, vom Herbst über und über vergoldetes Gehölz.

Auf der Höhe, wo sich der Blick auf die Flußebene öffnete und die Burg in das Bild trat, stand Fügen stille. In alter Schöne prangte das Gebirge; hoch mit Schnee bedeckt glänzten seine Häupter über dem blitzenden Strom; das Womperjoch stand im Purpurschein. Nur für kurze Momente hing das Auge des Wiederkehrenden an der lauteren Herrlichkeit des Bildes; dann kam es über ihn, als sei jeder Augenblick des Zögerns eine Verschwendung, und Fuß und Sinn drängten dem Ziele um so eifriger zu. Der junge Begleiter vermochte nur eben Schritt mit ihm zu halten.

„Es ist doch schön, daß Sie mich einholen kamen, Lois,“ sagte er fröhlich. „Hatte nicht auch Siegmund Lust, von der Partie zu sein?“

„Lust genug,“ entgegnete der junge Mensch mit einem Lächeln, das seinem festgezeichneten Munde besonders gut stand. „Seine Mutter bat ihn aber zu Hause zu bleiben, und wenn die bittet, dann thut oder läßt er Alles, so brennend er auch darnach verlangen möchte. Ich glaube, die gnädige Frau hält darauf, dabei zu sein, wenn Sie unsern Siegmund treffen Und sie hat Recht. Uebrigens – was ich schon vorhin bitten wollte, Herr Fügen: sprechen Sie doch nicht so fremd zu mir! Noch bin ich Schüler, wie zur Zeit, als Sie sich meiner annahmen, und ich hörte so gern wieder das alte Du.“

Fügen schüttelte den Kopf und streifte mit der Hand leicht über das Gewand, welches des Jünglings künftigen Stand bezeichnete. Der ehrliche Blick, welcher ihm begegnete, gewann es ihm dennoch ab.

„Na, für die paar Tage, für diesmal mag’s noch gelten, lieber Geselle,“ sagte er. „Jetzt erzähl’ mir aber von der jungen Gesellschaft, von Siegmund, aber auch von der Maxi! Im Briefe, der mich herbeschied, stand von ihr kein Wort; sie ist doch noch auf der Moosburg? Ich bin neugierig, was aus dem Blitzmädel für ein Kräutlein geworben ist. Was treibt sie, was hat sie gelernt? Ist sie noch immer Dein Verzug?“

Lois’ freie Stirne trübte sich.

„Was hätten wir viel mit einander zu theilen!“ sagte er herb. „Spielzeit ist vorbei, und die Maxi hört nicht. Seit sie aus der Schule ist, hat sie von meiner Jana gelernt, Blumen und Kränze zu winden; darin ist sie geschickt, und verdient sich ihr Gewand damit.“

„Schau, schau! ist das Sprühteufelchen so seßhaft geworden? Dann hat sie Jana auch wohl noch mehr abgesehen, als Kränze winden?“

„Ist nicht weit her,“ sagte Lois rasch und brach dann ab. Seine ernsten Augen wurden weich. „Meiner Jana ließe sich freilich viel absehen, gleich sehen wird ihr aber nicht leicht irgend wer. Ich möcht Ihnen lieber nichts von ihnen Allen berichten, Herr Fügen. Sie sind ja bald mitten drinnen – es dünkt mich gar sonderbar über die eigenen Leute zu reden, und – die auf der Moosburg kommen mir eben vor wie meine Leute, wenn mir auch Keiner verwandt ist, außer der Jana.“

„Dann erzähle mir vom Lois!“ lächelte Fügen; „dagegen wirst Du wohl nichts einzuwenden haben – wie? Daß Du Deine geistlichen Gedanken festgehalten hast, sehe ich. Nun möcht ich auch erfahren, wie es mit der Musik stehst und ob es Dir im Seminar behagt?“

Der junge Mensch antwortete nicht gleich.

„Von Musik kann nur wenig die Rede sein,“ sagte er mit einem leichten Seufzer. „Das ist der Regel unterworfen, wie alles Andere. In den Ferien aber – ganz verlernt hab’ ich’s nicht; ich übte, wo und wie es möglich ward, und Jana läßt sich gern von mir begleiten. Im Uebrigen – jeder Beruf legt seine Opfer auf.“

„Wie alt bist Du jetzt?“ fragte Fügen nachdenklich. „Siebenzehn, wenn ich mich recht entsinne? Richtig! Hm! Weltentsagung ist ein großes Wort. Du wirst darüber mit Dir im Reinen sein. Manch ein Ding, was jeder Andere darf, muß Hochwürden der Herr Curat bleiben lassen.“

Lois’ Wangen färbten sich tief.

„Das gerade ist schön. Wenn der Geistliche nicht wie jeder Andere darf, so zeigt das nur, wie hoch ein Priester steht. Er muß in der Gemeinde sein, wie die Kirche unter den Häusern, fester aufgebaut und höher als Alles, was um ihn her ist. Und was dürfte man denn nicht? Ich möchte kein Mönch werden, der sich lossagen soll von jeder Liebe und jedem Umgang, aber thun möchte ich, wie unser Herr Jesus, der auch der Welt entsagt hat und doch mitten unter den Menschen wohnen geblieben ist und Theil genommen hat an all ihrem Leid und Freud’ und für sich selber nichts begehrt hat, als die Menschen in’s Himmelreich zu führen – das kann nicht allzu schwer sein und Schöneres giebt es nirgends.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_571.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)