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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Wie ist diesem Uebelstande abzuhelfen?

Immerhin wird eine genaue Controlle der aufgegebenen Arbeiten seitens der Directoren, sowie eine Verständigung der Classenlehrer unter einander über die häuslichen Arbeiten der Schule ersprießliche Dienste leisten. Wirksamer aber versprechen zwei andere Mittel zu werden, deren Anwendung nicht dringend genug empfohlen werden kann: Zunächst mögen die leitenden Stellen darauf bedacht sein, anstatt den Lehrplan von Jahr zu Jahr mehr zu belasten, denselben von allen Gegenständen, die nicht unbedingt zur Schulbildung gehören, frei zu machen. Auf unseren Gymnasien wird durchschnittlich viel zu viel Philologie getrieben; die Feinheiten der griechischen Grammatik z. B. gehören schlechterdings nicht in die Schule, auch nicht nach Prima. Philosophische Propädeutik und Logik mit Gymnasiasten zu treiben, will uns als purer Humbug erscheinen, und das massenhafte Einpauken von Jahreszahlen und Namen in den Geschichtsstunden ist fruchtlose Danaidenarbeit.

Sodann möge man dafür sorgen, daß die Schulstunden selbst eifriger und nutzbringender ausgebeutet werden! Fern sei es von uns, die Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue unseres Lehrerstandes auch nur mit einem Worte in Zweifel ziehen zu wollen. Allein die jetzt übliche Methode nöthigt ja die Lehrer geradezu, einen großen Theil fast jeder Stunde mit dem Durchsehen, Abfragen und Controlliren der häuslichen Arbeiten hinzubringen, während doch die Hauptarbeit in den Stunden, nicht aber zu Hause gemacht werden sollte. Jeder wackere Lehrer weiß, daß er eine lateinische Declination in einer einzigen Stunde mündlich sicherer einübt, als wenn er seinen Schülern zehn Beispiele zur häuslichen schriftlichen Ausarbeitung aufgiebt, die ohnehin meist gedankenlos und liederlich ausfällt. Zwanzig Homer-Verse, in der Stunde unter Anleitung des Lehrers geschmackvoll übersetzt, führen die Jünglinge in das Verständniß der griechischen Dichtung leichter und besser ein, als die bei vielfältiger Wälzung des Lexicons vorgenommene sogenannte Präparation eines halben Gesanges der Odyssee.

Wir behaupten mit gutem Bedacht, daß bei einer anderweitigen sehr wohl durchführbaren Vertheilung des Lehrstoffes zwischen Schule und Hans reichlich die Hälfte der Aufgaben, die durchschnittlich dem Hause aufgebürdet werden, den Kindern erlassen werden könnte, ohne daß die Leistungen irgend einer Schule darunter leiden würden.

Willkommene Unterbrechungen des täglichen Unterrichtes bilden die Ferien. Ferien – süßer Laut für jedes Knaben- und Mädchenherz, erlösendes Wort nach langer Plage und Haft! Welch eine Welt der Freiheit und Ungebundenheit thut sich in den Ferien für unsere Kinder auf! Auf alle Berge klettern die frei gewordenen Kleinen; in alle Höhlen kriechen sie; durch alle Büsche streifen sie.

Aber selbst in die herrlichen Ferien hinein verfolgt Schüler und Schülerinnen das Gespenst der Arbeit. Es mag zugegeben werden, daß unter gewissen Umständen Ferienaufgaben nothwendig und nützlich seien. Eine Repetition für Zurückgebliebene, eine Uebersetzung für einen Regentag mögen Eltern und Kindern zugute kommen. Aber Ferienarbeiten um jeden Preis, für Ostern so gut wie für Weihnachten und die Hundstage, scheinen zu den größten Verkehrtheiten zu gehören. Die Ferien sind nicht zur Arbeit, sondern zur Erholung und Zerstreuung bestimmt, und wenn die Kinder vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der freien Natur sich bewegen, ohne auch nur an Grammatik und Katechismus zu denken, so haben sie dazu ihr gutes Recht. Verständige Lehrer verzichten schon deshalb auf alle Ferienarbeiten, weil sie wissen, daß dieselben von der Sonne der Freiheit zu grell beleuchtet, vom Sturmwinde der Ungebundenheit zu unbarmherzig zerzaust werden, als daß das Auge seine Freude daran haben könnte.

Eine andere Frage ist die nach der passendsten Zeit für die Ferien, in erster Linie für die in die Sommermonate fallenden.

Es dürfte nicht leicht sein, in dieser Beziehung alle Wünsche unter einen Hut zu bringen; denn während diejenigen Eltern, die es auf einen mehrwöchentlichen Familienaufenthalt in einem Badeorte oder einer Sommerfrische abgesehen haben, der bequemeren und wohlfeileren Miethen wegen den Juli vom ersten bis zum dreißigsten vorziehen würden, dürften Andere, denen diese Rücksicht fern liegt, die Ferien von Mitte Juli bis Mitte August wünschen, noch Andere die in der Rheinprovinz üblichen sechswöchentlichen von Mitte August bis Ende September mit Freuden begrüßen. Ob eine allgemeine, für das ganze Land oder wenigstens eine ganze Provinz gültige Ferienordnung durchführbar wäre, ist nur nach sorgfältiger Prüfung mannigfacher, zum Theil einander widersprechender Interessen zu entscheiden. Die Rücksicht aber sollte überall auf häusliche Verhältnisse genommen werden, daß wenigstens in einer und derselben Stadt alle Schulen gleichen Ranges dieselbe Ferienzeit inne hielten. Zu welchen Unzuträglichkeiten muß es führen, wenn die Söhne und Töchter eines und desselben Hauses zu verschiedenen Terminen ihre Sommerferien beginnen, weil vielleicht Gymnasium, Realschule und höhere Töchterschule unter verschiedener Verwaltung stehen oder die Dirigenten dieser Anstalten nicht den guten Willen haben, sich untereinander zu verständigen! Eine fatale Zersprengung des Familienzusammenhanges ist die unausbleibliche Folge eines derartigen Particularismus.

Nicht minder lästig ist die an etlichen Orten außerordentlich weit aus einander gehende Zeitfolge der Lectionen. Uns sind Städte bekannt, wo das Gymnasium seine Unterrichtsstunden selbst im Sommersemester um 8 Uhr beginnen und ununterbrochen bis 1 Uhr fortdauern läßt, während Realschule und Töchterschule von 7 bis 11 und von 2 bis 4 Uhr unterrichten. Nicht wenige Eltern haben gleichzeitig einen Sohn auf dem Gymnasium, einen andern auf der Realschule oder eine Tochter auf der Töchterschule. Der Gymnasiast kommt nicht vor 11/4 Uhr zu Tisch nach Hause; Bruder und Schwester müssen bereits 13/4 Uhr wieder zur Schule gehen – wie in aller Welt soll da die Hausfrau eine geordnete und ungestörte Mittagsmahlzeit herrichten? Die Augen der Behörden sehen doch sonst Manches – warum nicht solche offenbare Willkürlichkeiten?

Der Reform bedürftig ist heute an vielen Schulen auch der Turnunterricht. Glücklicher Weise sind die gymnastischen Uebungen, die einst bei wackeren Männern – unglaublich zu hören! – staatsgefährlich erschienen, in ihrer heilsamen Nothwendigkeit für die Jugend längst anerkannt. Aber was wollen zwei wöchentliche Turnstunden bedeuten gegenüber den dreißig und mehr Lectionen, die auf geistige Uebungen verwendet werden? Jeden Tag eine den Leibesübungen gewidmete Stunde dürfte kaum eine übertriebene Forderung genannt werden. Nur lege man sie nicht in die schulfreie Nachmittagszeit, sondern gliedere sie dem anderen Unterrichte als gleichberechtigt ein! – „Das ist nicht möglich,“ rufen viele Lehrer, „woher sollte die Zeit kommen? Welchen Fächern sollten die Stunden abgenommen werden?“ – Es ist doch möglich, und wenn es heute befohlen wird, sehen wir es morgen ausgeführt, und übermorgen leuchtet Manchem ein, wie gut es geht. Ein Quintaner lernt in acht wöchentlichen lateinischen Stunden gerade so viel wie in zehn, und die beiden gewonnenen Stunden sind seinen Muskeln und Lungen zugute gekommen.

Eines der stärksten Bindemittel zwischen Schule und Haus bilden die schriftlichen Censuren. Das ist ein Freudentag für Klein und Groß, wenn die Unterschrift der Classenlehrer bezeugt, daß des Schülers Betragen gut, seine Aufmerksamkeit lobenswerth, sein Fleiß vorzüglich befunden worden sind. Dagegen Wehklagen und ärgerliche Scenen pflegen nicht auszubleiben, wenn das verhängnißvolle Blatt in ganzen Colonnen das entsetzliche „ungenügend“ bei alten und neuen Sprachen, Wissenschaften und Künsten wiederholt und die gefürchtete „besondere Bemerkung“ versichert, daß Max viel tüchtigere Leistungen aufzuweisen gehabt haben würde, wenn er nicht durch sträflichen Leichtsinn und unüberwindliche Trägheit sich und seine Lehrer um die Früchte seiner erfreulichen Anlagen betrogen hätte. In Bezug auf die Abfassung der Schulzeugnisse dürfte ein Wunsch am Platze sein, den sicherlich schon manche Eltern bei der Durchsicht dieser bedeutungsvollen Urkunden gehegt haben. Häufig werden die Prädicate ausschließlich durch Zifferbezeichnungen ertheilt: Religion zwei, Deutscher Aufsatz drei, Schreiben eins etc. Diese rein formale Censirung mag für die Kenntnisse und Fertigkeiten genügen, umsomehr, als das Zeugniß in der Regel ein erläuterndes Schema der Ziffern und ihres Werthes enthält. Minder angemessen erscheint diese Numerirung da, wo es sich um das Betragen der Kinder handelt. Betragen: drei – was, heißt das im Grunde genommen? Hier wäre sehr zu wünschen, daß die Schule sich zu einer kurzen Aeußerung über die charakteristischen Eigenschaften ihrer Schüler: z. B. „vorlaut und empfindlich“, „bescheiden, aber nicht lebhaft genug“, herbeiließe. Einige Anstalten sind in diesen: Punkte mit einen: nachahmungswerthen Beispiele vorangegangen.

Wer über das Wechselverhältniß, in welchem Haus und Schule stehen oder stehen sollten, seine Meinung ausspricht, der kommt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 592. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_592.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)