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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Waldesdunkel führen. Nichts ist da zu hören von dem Knirschen der zahllosen den Park durcheilenden Wagen, nichts vom Hufschlage der Pferde, nichts von dem fröhlichen Kreischen der Kinder, die allenthalben auf dem grünen Rasen ihrer Spiele pflegen. Denselben reizenden Anlagen, natürlich in kleinerem Maßstabe, begegnen wir auch in der Stadt, und sie bilden die einzigen Oasen inmitten der sonst erschreckend langweiligen Ziegelwüste. Die Gleichförmigkeit, in welcher die Wohnhäuser, einige Paläste der Aristokratie ausgenommen, der beiden Städte Philadelphia und Baltimore errichtet sind, hat hoffentlich in der ganzen Welt nicht wieder ihres Gleichen. Bar jeder ästhetischen Regung, bar jedes künstlerischen Schmuckes zeigt sich die Außenseite des Heims der Bewohner der beiden Nachbarstädte. Jeder Häuserblock bietet dieselben trostlosen rothen Backsteinwände, dieselben unzähligen, einander aber äußerst ähnlichen Fensterbänke, Thüreinfassungen und Treppen von – weißem Marmor, dieselben schmalen Boudoirfenster im Handtuchformat, welche sechs Wochentage hindurch tief verhangen sind, um am siebenten, dem Sonntage, das stereotype, mit der Regelmäßigkeit eines Perpendikels hin- und hergehende Bild einer „Lady auf dem Schaukelstuhl“ zu zeigen, die mit der Langeweile der Straße um die Wette gähnt.

Es ist wahr, die amerikanische Nation hat bisher nicht viel Zeit erübrigen können, um an Kunst zu denken. Alles, Alles ist ja Geschäft, aber nicht allzu lange mehr wird es dauern, und die Kunst wird mit vollen Segeln ihren Einzug halten in das Land, dem die Zukunft gehört; sie wird und muß das „home“ und die Städte der Amerikaner schöner gestalten, und ihrem Siegeszuge werden die Ausgeburten der Geschmacklosigkeit und Nützlichkeit weichen. Nach fünfzig Jahren werden die Städte Amerikas sicherlich ein ganz anderes Gepräge haben; denn überall schon beginnt sich das Verlangen nach Kunst, nach künstlerischer Umgebung zu regen; die Grundbedingung, das Geld, ist in reichstem Maße vorhanden – und der Amerikaner ist zu intelligent, um sich auf die Dauer dem erquickenden, belebenden Luftstrome der Kunst zu verschließen.

Der herrlich gelegenen Metropole des frauenberühmten Maryland ist eine höchst interessante Geschichte eigen. Der Schriftsteller, welcher es unternimmt, die Chronik amerikanischer Städte zu schreiben, kommt nicht in Versuchung, seine Zeilen durch seltsame Sagen und Wunder aus dem grauen Alterthum herauszuputzen; denn das größte Wunder sind ja eben die Städte selbst mit ihrer schnellen Blüthe und rapiden Entwickelung. Hat doch Baltimore, die fünfte Stadt der Union, z. B. erst vor wenigen Monden seinen 150. Geburtstag gefeiert.

Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich am oberen Patapsco ein Ort, der zu Ehren des damaligen Grundherrn von Maryland, Lord Baltimore, „Baltimore Town“ genannt wurde. So primitiv die ersten Anfänge aber auch waren, in der kleinen Stadt steckte ein Unternehmungsgeist, der mit der Zeit den größeren Häfen und Nachbarstädten viel zu schaffen machte. Die Geschichte Baltimores hat viel Paralleles mit derjenigen Venedigs. Wie dort, so wuchs auch hier ein stolzes, unternehmendes Geschlecht tüchtiger Kaufleute und Seefahrer heran, die auf ihren selbsterbauten schnellsegelnden „Klippern“ alle Meere durchstreiften, zur Zeit der Continentalsperre zu den verwegensten Blockadebrechern gehörten, den ganzen westindischen, mexicanischen und südamerikanischen Handel an sich rissen und das kleine Baltimore noch vor Ablauf des achtzehnten Jahrhunderts zu einer Metropole des Seehandels der Neuen Welt machten. Nicht geringen Antheil an diesem Aufblühen der Stadt hatte der deutsche Theil der Bevölkerung; eine Reihe der achtbarsten Firmen war in ihren Händen, und wie sehr man ihre Intelligenz zu schätzen wußte, geht aus dem Umstande hervor, daß, als 1782 die ersten Stadtväter Baltimores, sieben an der Zahl, ernannt wurden, fünf derselben Deutsche waren.

Auch als die Revolution der dreizehn Colonien ausbrach, standen die Deutschen nicht zurück, und als das Doppelgefecht von Lexington und Concord geschlagen war und der Continental-Congreß Truppen verlangte, bildete sich in Maryland ein vollständig deutsches Regiment und eine deutsche Artillerie-Compagnie, welche beide Truppenkörper mit großer Auszeichnung unter General Smallwood fochten und in mancher Schlacht ihr Blut für ihr Adoptiv-Vaterland vergossen.

Mit dem Jahre 1796 zur „City“ erhoben, wuchs Baltimore immer mehr empor, und wohl verstanden es seine Handelsherren, sich Ansehen zu verschaffen. Im Kriege von 1812 liefen in drei Wochen allein vierundvierzig Kaperschiffe aus dem Hafen der Stadt, und die Heldenthaten derselben bilden eines der glorreichsten Capitel der Geschichte jenes Krieges. Wie sehr die kleine Stadt den Engländern zu schaffen machte, beweist, daß die britischen Befehlshaber 1814 besonders angewiesen wurden, das „Piratennest am Patapsco“ ganz exemplarisch zu züchtigen, aber die Bevölkerung Baltimores, unter Leitung des deutschen Artillerie-Officiers Armstädt, heizte den britischen Linienschiffen dermaßen ein, daß sie vorzogen, sich aus dem Staube zu machen. In bedeutender Zahl fochten die Deutschen Baltimores in dem entscheidenden Kampfe bei North Point mit, wo wieder Oberst Armstädt den Oberbefehl führte und die Engländer schlug. Interessant ist ferner die Notiz, daß innerhalb dieser Kämpfe in Baltimore Amerikas wunderschöne Nationalhymne entstand, das Lied vom Sternenbanner.

Nach Beendigung des zweiten Unabhängigkeitskrieges schwang sich Baltimore erst recht empor, und zahlreiche bahnbrechende Neuerungen sprechen von dem regen Geiste, der die Bewohner der jungen Stadt beseelte.

Hier wurde der erste Flußdampfer gebaut, hier das Kohlenleuchtgas zuerst als Stadtbeleuchtung angewendet. Baltimore ist ferner die erste Stadt, welche eine Eisenbahn anlegte, die erste, in welcher Eisengebäude errichtet wurden, die erste, welche Cylinderformpressen benutzte und die erste Telegraphenleitung des Continentes fertig stellte. Zwar trat im zweiten Viertel des jetzigen Jahrhunderts ein entschiedener commercieller Rückgang ein, aber die Calamität, die den Handel der Stadt zu vernichten drohte, ward überwunden, und heute erfreut sich dieselbe einer Blüthe, wie nie zuvor.

Baltimore ist jetzt eine der hervorragendsten Städte Amerikas, und man darf derselben kühn eine rein deutsche Bevölkerung von hunderttausend Seelen zuschreiben. Wie die deutsche Handelswelt noch heute durch die achtbarsten Firmen vertreten ist, so unterhalten die Deutschen Baltimores ferner zwei Tageblätter und mehrere andere Zeitschriften, eigene, auf Gemeindekosten erhaltene englisch-deutsche Schulen und zahlreiche gesellige und wohlthätige Vereine.




Blätter und Blüthen.

Die Vererbung des Accents. Man erkennt in der Regel den Ausländer an dem „fremden Accent“ seiner Aussprache; denn es ist viel leichter, in den Geist einer Sprache einzudringen, als sich die richtige Wiedergabe der jedem Dialekte eigenthümlichen Modulationen der menschlichen Stimme anzueignen. Bei Leuten, die erst in ihren Jugendjahren fremde Sprachen erlernen, ist dieses Vorhandensein des fremden Accents leicht erklärlich. Der in dem Kindesalter empfangene Eindruck der Muttersprache behält in der Regel den neu einwirkenden Einflüssen gegenüber die Oberhand. Diese allgemein bekannte Thatsache wird jedoch noch verständlicher, wenn man die merkwürdigen Erscheinungen in Betracht zieht, die bei Taubstummen, welche die articulirte Sprache erlernt haben, beobachtet wurden. So berichtete vor Kurzem eine englische gelehrte Fachzeitschrift von einem jungen, von seiner Geburt an taubstummen Schottländer Folgendes: In seinem siebenzehnten Lebensjahre erlangte derselbe in Folge wiederholter Fieberanfälle sein Gehör wieder. Er begann sofort zu sprechen, aber die Hausgenossen konnten ihn nur mit Mühe verstehen und bemerkten bald, daß der junge Schottländer, dessen Eltern aus dem schottischen Gebirge stammten, das Englische mit demselben fremden Accente aussprach, welcher den Hochländern jener Gegend, wenn sie Englisch lernen, eigen ist. Der junge Mann hat aber den gaelischen Dialekt seiner Eltern niemals gekannt, da er das Gehör erst während seines Aufenthaltes in Nieder-Schottland, wo jener Dialekt nicht gesprochen wird, wiedererlangte. Dieser interessante Fall, welcher nur durch die Macht der Vererbung zu erklären ist, steht keineswegs vereinzelt da. Ein Sachverständiger aus Manchester, Joseph Alley, berichtet gleichfalls von einem Taubstummen, der erst in seinem siebenzehnten Jahre das Sprechen lernte. Derselbe hielt sich von seiner frühesten Kindheit in der Grafschaft Lancashire auf, und dennoch verrieth seine Aussprache deutlich den in seinem Geburtsorte, der Grafschaft Stafford, üblichen Accent[WS 1].

Noch interessanter ist schließlich die Wahrnehmung, welche der berühmte Kenner der spanischen Literatur G. Ticknor[WS 2] in der Taubstummenanstalt zu Madrid gemacht hatte: Keiner von den dort aufgenommenen Schülern hat jemals in seinem Leben einen Laut vernommen, und ihre Aussprache war nur das Resultat der Nachahmung der äußeren Bewegungen ihrer Lehrer. Diese Lehrer aber waren ohne Ausnahme Castilianer, und trotzdem sprachen die einzelnen Taubstummen stets mit dem Accente ihrer Provinz das Spanische aus. Man unterschied bei denselben ganz deutlich die eigenthümlichen Accente der Catalonier, der Basken und der Castilianer, ja sogar die selteneren von Andalusien und Malaga. Diese Thatsachen bilden einen interessanten Beitrag zum Capitel von der Vererbung physiologischer Fähigkeiten und bewahrheiten den alten Spruch, daß eben Jeder sprechen muß, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.




Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Accenct
  2. George Ticknor; Vorlage: Tickner
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 882. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_882.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)