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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

von außen an- und eingebildete Konvenienz, sondern vielmehr ein von allen besonderen, von allen „positiven“ Dogmen und Kulten Unabhängiges, ein dem Menschen Immanentes, d. h. eine mit dem Begriffe Mensch untrennbar verbundene Stimmung, entsprungen dem menschlichen Abhängigkeitsgefühl, der menschlichen Hülfe- und Anlehnungsbedürftigkeit, welches und welche nur von größenwahnwitzigen Doktrinären geleugnet werden können. Solche haben sich viele Mühe gegeben, ein ganz und gar religionsloses Volk aufzuspüren. Es ist ihnen nicht gelungen, obzwar, wie allen bekannt, der Funke des religiösen Gefühls in Völkerstämmen, welche der Thierheit nahestehen, nur schwach glimmt und nur in der Form kindisch fetischistischer und schamanistischer Aeußerungen aufdämmert. Aber doch bezeichnen diese Aeußerungen die Gränzlinie, wo die Bestie aufhört und der Mensch beginnt. Denn wie auf hohen Kulturstufen Religion in des Wortes höchstem Sinne das Sicheinsfühlenwollen des Endlichen mit dem Unendlichen ist, so regt sich auch schon auf unteren und untersten im Menschen der dunkle Trieb, seine Besonderheit mit der Allgemeinheit in Beziehung zu setzen und in Harmonie zu bringen. Das ist Idealismus, idealistisches Bedürfniß. Es liegt auf der Hand, daß und warum das Volk überall und allzeit für sein idealistisches Bedürfniß nur in der Religion, im religiösen Vorstellen, Glauben und Thun Befriedigung suchen und finden konnte und kann. Denn wenn ein unlange verstorbener berühmter Büchermann, welcher sich sein Lebtag mit Absicht und Aengstlichkeit volksfremd gehalten und verhalten hat, mit einer Zuversicht, welche dem Bildungsphilister natürlich gewaltig imponirte, die bevorstehende Ersetzung der Religion durch die Kunst ankündigte, wobei etwa der Genuß göthe’scher Dichtungen und beethoven’scher Symphonieen die Bedeutung von Kultakten haben würde, so war das eben nur eine volksfremde Zukunftsmusik, von welcher man wie von einer anderen, noch bekannteren, sagen kann: Viel Geschrei und wenig Melodie. Dazu muß ich jedoch anmerken, daß ich hier unter Volk selbstverständlich nicht die sogenannten „flottanten“ Bevölkerungen, welche, traurig zu sagen, von allem Zusammenhang mit naturgemäßen Verhältnissen mehr und mehr losgelös’t werden, verstanden wissen will, sondern das seßhafte oder, wie es Gottfried Keller so bündig als treffend genannt hat, „das bleibende Volk, das echte“.

Die Stellung des Historikers zur Religion ist übrigens gegeben. Die Geschichtewissenschaft kennt und anerkennt keinen alleinseligmachenden Glauben, keinen unfehlbaren Papst und kein unfehlbares Buch. Sie achtet in der religiösen Idee den edelsten Versuch des strebenden Menschengeistes, eine Lösung des großen Daseinsräthsels zu finden und die jedem denkenden Menschen unablässig sich aufdrängenden Fragen: „Woher kommen wir? Warum und wozu sind wir da? Wohin gehen wir?“ mehr oder weniger befriedigend oder auch unbefriedigend zu beantworten. Was jedoch die einzelnen Glaubenssysteme, Kirchen, Konfessionen und Sekten angeht, so soll sie der Historiker zwar nicht mit der Objektivität einer erkünstelten Gleichgiltigkeit, wie solche jetzt in der Mode ist, wohl aber mit der Objektivität der Gerechtigkeit, also unbefangen und ohne Parteibornirtheit, als die verschiedenen Erscheinungsformen der religiösen Idee betrachten, welche Erscheinungsformen allesammt nur eine zeitliche Bedeutung, allesammt keinen unbedingten, sondern nur einen beziehungsweisen Werth haben.




2.

Ein tiefsinnigster Seher, Shakspeare, hat bekanntlich unsere sogenannte Welt eine Bühne geheißen, auf welcher jede menschliche Persönlichkeit eine Rolle spielen müsse. Man könnte das, meine ich, auch auf die Völkerpersönlichkeiten übertragen und dann sagen, daß die Wohnsitze der orientalischen Rassen, deren zugleich feurige und grüblerische Phantasie ihren Intellekt beherrscht, von jeher die Lieblingsstätten gewesen, allwo der rastlos in der Menschheit arbeitende religiöse Gedanke neue Formen anzuthun sich bemühte. Und weiter wäre zu sagen, daß wiederum den Orientalen semitischer Rasse, deren biblische Stammtafel mit den Ergebnissen der modernen Ethnologie freilich keineswegs sich völlig deckt, eine vorzugsweise religiöse Rolle zugetheilt worden sei. Zum Beweise dessen braucht man ja nur die drei Namen Mose, Jesus und Mohammed zu nennen. Wenn jedoch ein bekannter Orientalist unserer Tage, der Franzose Ernst Renan, all sein Wissen und seinen ganzen Scharfsinn aufgeboten hat, um die Aufstellung zu begründen, der Monotheismus, der eingottheitliche Glaube, sei ein ursprünglicher Besitz, sei eine Erfindung, ja so zu sagen eine uranfängliche Naturanlage der semitischen Rasse gewesen, so war das zwar ein geistreicher Einfall, ist aber keine religionsgeschichtliche Thatsache. Vielmehr steht fest, daß auch die Semiten, mit Einschluß der Hebräer, anfänglich nicht Monotheisten, sondern Polytheisten gewesen sind. Verschiedene semitische Stämme, z. B. die Assyrer, Babylonier, die Phöniker, hielten bis zu ihrem Untergange am Polytheismus fest, blieben also, was wir konventionellerweise Heiden zu nennen pflegen. Andere wurden im Verlauf ihrer Bildungsgeschichte aus der Sphäre der vielgötterischen Naturreligion in die Region der eingottheitlichen Geistesreligion herübergeführt, also die sogenannten Kinder Israel, die Hebräer, durch ihre großen und kleinen Propheten, die Ausgestalter des Jahvethums; ebenso die sogenannten Kinder Ismael, die Araber, durch ihren Propheten Mohammed, den Festbegründer und Gesetzgeber des Allahthums.

Das sind Vorgänge von ungeheurer Wichtigkeit und unberechenbarer Tragweite gewesen. Noch bis zu dieser Stunde trägt das Antlitz der civilisirten oder, genauer gesprochen, der europäisch-amerikanisch-christlichen und der mohammedanischen Welt die geistige Signatur, welche ihr der semitische, zuerst durch die hebräischen Propheten zu einer sittlichen Macht ausgebildete Monotheismus verliehen hat.

Aus dieser Weltanschauung heraus hat der Stifter des Islâm sein Werk unternommen und durchgeführt.

Lassen Sie uns nun zuvörderst einen raschen Blick auf das Land werfen, woher der Mann kam, und sodann diesen selbst ins Auge fassen.

Südlich von den großen syrischen und mesopotamischen Wüsteneien dehnt sich die mächtige Halbinsel Arabien zwischen dem rothen und dem persischen Golfe weit ins arabisch-indische Meer hinaus. So gelegen, hat das von einem Volke semitischer Abkunft bewohnte Land von unvordenklicher Zeit her ein abgeschlossenes, auf sich gestelltes und darum eigenthümliches Dasein geführt. Nicht aber ein einförmiges; denn es hatte sich je nach den verschiedenen Bodengestaltungen, den klimatischen Verhältnissen und den Nahrungsbedingungen verschiedenartig gestaltet. In den zwar schmalen, aber ungemein fruchtbaren Küstenlandschaften, von welchen die arabische Halbinsel von drei Seiten umsäumt ist, hatte sich frühzeitig eine auf emsige Acker- und Gartenwirthschaft gestützte seßhafte Kultur entwickelt, waren Dörfer und Städte entstanden, hatte sich gewerbliche Thätigkeit vielseitig geregt und hatte dieser ein lebhafter Handelsbetrieb sich zugesellt, Karawanenzüge nordwärts durch die Wüsteneien nach Syrien und in die Euphratgegenden, Handelsschiffe westwärts an die Küste Afrika’s, ostwärts an die Gestade Persiens und Indiens entsendend. Anders auf der gewaltigen Hochebene, welche das Innere der Halbinsel ausfüllt, eine

unermeßliche Steppe mit bizarr gestalteten Felsbergen, wildzerrissenen Schluchten und zahlreichen Oasen mit brunnenreichen und früchteschweren Dattelpalmenhainen. Diese weiten Landschaften mit ihren plötzlichen Uebergängen von wildester, schreckhaftester Oede zur Ueppigkeit tropischer Vegetation, mit ihrer Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit, mit ihrem weitaus den größten Theil des Jahres hindurch wolkenlosen Firmament, aus welchem bei Tag eine glühende Sonne ihre Stralengüsse niedersendet, während bei Nacht die Gestirne groß und klar herableuchten, diese Landschaften mit ihren prächtigen Gewittern, ihren Orkanen, Sandhosen, Luftspiegelungen und Wolkenbrüchen haben etwas Eigenartiges, das an’s Unheimliche streift, etwas, was die Einbildungskraft höchst energisch an- und aufregt und sie mit den kühnsten Bildern füllt. In diesen Gegenden siedelten oder vielmehr wanderten, von ihren Stämmeschechs patriarchalisch regiert, die echtesten Araber, die Beduinen, Nomaden, deren Reichthum Kameele, Rosse und Schafe ausmachten und die zumeist in ihrer Person den Hirten, Jäger, Krieger und Räuber zu vereinigen wußten. Ein ganz unbändiges Freiheitsgefühl war diesen Wüstensöhnen eigen und, daraus entsprungen, ein in seiner Art äußerst reizbares Ehrgefühl. Damit verband sich eine wilde Rachelust, aber auch eine gewisse ritterliche Gastlichkeit und Galanterie, Treue in Freundschaft und Haß, sowie eine frohlockende Freude an Abenteuern und Wagnissen aller Art. Dies alles hat, in den Schmelztiegel einer heißen Phantasie geworfen, unter den Arabern der vormohammedanischen Zeit eine Poesie von außerordentlicher Eigenwüchsigkeit, Frische und Kraft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_010.jpg&oldid=- (Version vom 29.6.2021)