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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

entschiedene Protest gegen einen außerweltlichen Gott, gegen einen Gott, von dem Goethe sagt, „daß er nur von außen stieße, im Kreis das All am Finger laufen ließe“. Gott ist die die Welt in ihrer Unendlichkeit durchdringende, allwirkende und allgegenwärtige Kraft, die in ihren Gesetzen erkennbar und deshalb Geist ist. Gott ist nicht eine Persönlichkeit neben anderen Persönlichkeiten, überlegend und beschließend, was er in jedem Augenblicke thun soll. „Er ist der Becher aller Fülle, und seine That ist, daß er schäumt.“

Wie aber der Geist der allgegenwärtige Grund der Welt ist, so ist er auch das Ziel aller Weltentwickelung. Die wahre Aufgabe der Menschheit besteht darin, den Geist zum bewußten Lebensprincip aller Verhältnisse zu machen. Die Geschichte der Menschheit ist die ewige Menschwerdung Gottes. Erst als Gottmensch hat der Mensch seine Bestimmung erfüllt.

Von der Höhe dieser Welt- und Lebensbetrachtung schaut nun Sallet in den „Ernsthaften Gedichten“ hernieder auf das Treiben der Menschen um ihn her. Aber was er da gewahrt, treibt ihm die Röthe der Scham und des Zornes in’s Gesicht. Vor dem grauen Riesendom und dem festen Königsschloß stehen die Menschen zerknirscht und anbetend, ohne zu bedenken, daß Dom und Palast vor der Zeiten Sturm wie Spreu zerstäuben werden, während die Menschheit einzig und allein das Unverwüstliche ist. So lassen sich die Menschen, sie, die freien Geisteswesen, zu willenlosen Werkzeugen herabwürdigen. Die Selbstsucht der Großen läßt die Menschheit nicht zur wirklichen Einheit und Freiheit kommen. Die geistesträge Masse steigt zum Vieh hernieder und nimmt willig die Schläge an, wenn ihr nur Futter geboten wird. Damit das Volk nicht zum Bewußtsein des frevlen Spieles, das mit ihm getrieben wird, komme, bietet man ihm allerlei Spielzeug – Sterne, bunte Kreuze und pomphafte Titel.

„Was aber soll dem Mann solch Zeug,
Das nur dem Kind zum Danke?“

Dazu kommen die zahmen Propheten, die über allem Hoffen und Harren zum Narren werden, servile und kriechende Zeitungslaffen, die das Krumme grade und das Grade krumm machen.

Mit furchtbaren Keulenschlägen wendet sich deshalb Sallet an das Gewissen seiner Zeit. Er bekämpft die Reaction, nicht weil sie neue Steuern bringt, sondern weil sie sich am Heiligsten, was der Mensch hat, an der Freiheit und dem Geiste, versündigt und den Menschen nicht zum Bewußtsein seiner göttlichen Würde kommen läßt. Daneben hält ihn sein Glaube aufrecht, daß, wenn auch die weite Erde in Verknechtung stöhnt, doch der Schlachtruf der Freiheit nicht vergeblich erschallen wird. In der „Fernsicht“ erblickt er eine Zukunft, wo nicht mehr Herren und Knechte, sondern nur freie Götter sich zum Feste gesellen.

Dieselben Grundgedanken wie die „Ernsthaften Gedichte“ vertritt das „Laienevangelium“. Hier zeigt Sallet, wie er bei allem Radicalismus der Principien sich den klaren besonnenen Blick für die Bedingungen eines gesunden geschichtlichen Fortschritts bewahrt hat. Dadurch unterscheidet er sich nach seinem eigenen Urtheil von Feuerbach, dessen Begabung und sittlichem Muth er selbstverständlich alle Achtung zollt.

Feuerbach, so schreibt er an seinen Bruder, habe den geschichtlichen Faden ganz und gar abgebrochen und den Menschen blos als Menschen plötzlich auf eigene Füße stellen wollen. Der reine Mensch existire aber nicht, sondern alles wurzele in früheren Bildungen. Eine weltgeschichtliche Thatsache, wie das Christenthum und die christliche Bildung, lasse sich nun einmal nicht ausstreichen aus der Geschichte der Menschheit. – Sallet weiß auch diesem Theile der religiösen Ueberlieferung sein Recht zu wahren.

„Die fromme Sage gleicht dem gold’nen Ei,
Das blickt geheimnißvoll aus weichem Neste.“

In dem Ei gähren lebendige Kräfte, die als goldener Wundervogel aus demselben hervorgehen, wenn der Gedanke die Schale gesprengt hat.

„Nur wenn man sie uns aufzwingt als Geschichte,
Dann macht man sie zum Märchen, zwecklos, toll,
Und den lebend’gen Geist in ihr zu nichte.“

So betrachtet Sallet die ganze evangelische Geschichte als ein großes Gleichniß, dessen Sinn die gedankenlose Buchstabentheologie nicht gefaßt, sondern kläglich entstellt hat.

Der „Christus“, der „Gottmensch“, den die Orthodoxie irrthümlich als eine einzelne historische Persönlichkeit aufgefaßt, wodurch sie sich in tausend Widersprüche verwickelt hat, ist in Wahrheit die ideale Menschheit, wie sie geistverklärt und geistdurchdrungen Eins ist mit Gott, und die Bedeutung des Stifters der christlichen Religion besteht darin, daß er „mit kühnem Blicke des Vaters Wesen in sich selbst erkannt hat“.

Zweifellos ist in diesem „Laienevangelium“ mehr Verständniß für das innerste Wesen des Christenthums, als in tausenden von den gelehrten dogmatischen Compendien und Katechismen, die von gläubiger Professorenweisheit strotzen. Daneben läßt es sich Sallet nicht nehmen, seinen „christlichen“ Zeitgenossen gelegentlich ihr Bild im Spiegel der von ihnen so oft im Munde geführten neutestamentlichen Ueberlieferung zu zeigen. Dann aber trifft er auch jedes Mal die Krebsschäden seiner Zeit mit erschütterndem Ernste. Seine sittlichen Ansprüche sind unerbittlich, wenn sie auch die denkbar höchsten sind. Er verfolgt die Selbstsucht, die Gemeinheit bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel; er reißt der Heuchelei die Maske vom Gesicht, wo er nur immer sie findet. Eines der großartigsten Gedichte ist in dieser Hinsicht die „Politik der Pharisäer“. Wie zermalmend trifft Sallet mit prophetischer Gewalt die Grundsätze, oder besser gesagt die Grundsatzlosigkeit der Reactionsmänner!

„Paßt nicht genau auf euch das Fratzenbild
Der saubern Obersten und Pharisäer?

Steht Rede! Sperrt ihr euch nicht sorgsam ein
Rath haltend und Gericht, vom Volke ferne?
Schleicht ihr nicht durch die Nacht in’s Haus hinein,
Um den zu haschen, den ihr hättet gerne?

Macht ihr zu Staates Wohl und Sicherheit
Gemeine Sache nicht mit Schächern, Schächer?
War eure Hand und Casse nie bereit
Zu dingen für Verbrecher den Verbrecher?“

Wenn dann der Spitzbubendialect der Diplomaten sich entschuldigen will, daß das allgemeine Wohl ein schlechtes Werkzeug auch zu guten Zwecken erfordere, so erwidert Sallet, was schlecht sei, bleibe ewig schlecht:

„Wer allen Guten sich zur That vereint,
Braucht nicht zu schleichen durch der Nacht Verstummen.
Wer es mit allen Guten ehrlich meint,
Braucht nicht im Lügenpelz sich zu vermummen.

Der Staat wird keusch und frei, wird sittlich sein,
Wo alle ehrlich an der Menschheit hängen.
Sorgt man dort oben nur für sich allein –
Dann ist’s ein Fuchsbau mit geheimen Gängen.“

Wir schlagen ein anders Gedicht auf: „Wisset ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?“

Diesen Spruch legt der Dichter als Maßstab an die Thaten der Kirche, an die Vertilgung der Albigenser, an die Mißhandlung Galilei’s, der es nicht fassen konnte, daß Fortbewegung Sünde sei, an die zahllosen Scheiterhaufen und die Mordscenen der Bartholomäusnacht. Da haben die Päpste gezeigt, weß Geistes Kinder sie seien.

„Und du vernahmst die Mähr auf Petri Stuhle
Und ließest lächelnd deinen Bannstrahl ruhn,
Und ging die Welt noch heut in deine Schule,
Du würdest heute noch ein Gleiches thun.“

Dann erinnert sich der Dichter, daß auch seine Ahnen einst als flüchtige Hugenotten dem Ketzerhaß haben weichen müssen. Er dankt dem Geschick, das ihn dadurch zum Kind des deutschen Geistes gemacht hat, und ruft:

„Ihr meine Brüder, alle, deutsche Männer,
Weß Geistes Kinder ihr, vergeßt es nicht!
Noch schleicht die Brut der Tilger und Verbrenner
Um euch mit Schmeichelrede, die besticht.

O blicket hinter lächelnd fromme Züge!
Da nistet, tief versteckt, Verrath und Tod,
Erkennt das Riesenscheusal ew’ger Lüge,
Das noch die Geister zu verschlingen droht!

Da, wo des Menschen Wort fand Anerkennung,
Wo der Gedank’ auf große Zukunft weist,
Auf Siege sinnend wohl, nicht auf Verbrennung –
Da wacht und waltet eures Meisters Geist.

Bewußt und muthig schreitet mit den Besten
Fort zu der Menschheit höchstem Liebesziel!
Laßt mit der Barbarei verschollnen Resten
Den Blödsinn treiben fort sein Kinderspiel!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_099.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)