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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Dies bringt uns auf die Abstammung der Scylla, und über diese erzählten die griechischen Kinderfrauen und Schiffer den lauschenden Kleinen gar mancherlei Märchen. Da hieß es: Es war einmal eine schöne Königin; die hieß Scylla, und diese Scylla liebte der Vater der Götter über alle Maßen. Hera, in Eifersucht entbrannt, zürnte der Beglückten und sann auf Rache. Sie beraubte sie ihrer Kinder. Die unglückliche Mutter suchte diese voller Verzweiflung, und wie sie nicht zu finden waren, ging sie grollend in die Einsamkeit, bezog eine dunkle Höhle, und aus Haß und Neid gegen glückliche Mütter fing sie an Kinder zu rauben und zu fressen.

Andere erzählten, Scylla sei die Tochter des Königs von Megara gewesen, die ihren Vater aus Liebe zu dem schönen kretischen Seekönige Minos, durch Ausreißen eines purpurfarbenen Haares, das der Alte auf seinem Scheitel trug, verrathen hatte, von dem Jüngling aber, der von der Liebe einer Verrätherin nichts wissen wollte, verleugnet, zur Strafe an sein Ruder gebunden und durch die Meere geschleift wurde, bis sie sich in jenes Ungeheuer verwandelte. Ihre Eltern, erzählen die Einen, sollten Phorkys und die schon genannte Hekate Kratäis gewesen sein, während sie Andere als Tochter des Triton, des Poseidon erscheinen lassen; der Vater also auch hier auf jeden Fall „ein dunkler Ehrenmann“.

Am schönsten gestaltet sich die Sage bei Ovid; da war Scylla, „so Dichtermund nicht lügt“, dereinst eine schöne, vielumworbene Jungfrau, der aber Liebe das Herz nicht rühren wollte. Kalt und gleichgültig ging sie zu den Nymphen des Meeres, denen sie als Gesellschafterin sehr willkommen war. Gewandlos – es war im Hochsommer – wandelt sie heimwärts, im trockenen Sande des Ufers hin und erfrischt hier und da die brennenden Glieder in lauschigen Buchten. Hier erblickt sie der schillernde Glaukos, einst ein schöner Fischerknabe, der, nachdem er von dem Wunderkraute gegessen, in der Fluth zum weissagenden Gotte geworden war; begierig, seinen zahlreichen Liebesabenteuern, ein echter Don Juan des Mittelmeeres, ein neues zu gesellen, stellt er der auf eine Klippe fliehenden Scylla nach. Aus den Wellen heraus stammelt er ihr seine Liebe, von der die Spröde durchaus nichts wissen will. Zornig schwimmt er – nicht kühlt die Fluth seine Gluthen – zum Zauberpalast der Kirke, sie um ein Liebeselixir für Scylla bittend. Kirke jedoch möchte Glaukos für sich selbst gewinnen, und als dieser davon nichts wissen will, beschließt sie, die Nebenbuhlerin zu verderben. Sie mischt abscheuliche Säfte und macht sich auf nach dem „winzigen Golfe, gekrümmt in geschweifetem Bogen“, in dessen Nähe Scylla ihre Mittagsruhe zu halten und in dessen Fluth sie ihr Bad zu nehmen pflegte. Sie vergiftet das Wasser, und als Scylla in die Wellen steigt, geht die plötzliche Verwandlung vor sich: als menschenfeindliches Scheusal bleibt sie am Orte und rächt sich ihrerseits später an Kirke durch Lockung der Genossen des Odysseus, welchen Kirke liebt.

Ein Landsmann der Scylla, der ihr einst gegenüberwohnende sicilianische Dialektdichter des vorigen Jahrhunderts, der rüstige Giovanni Meli, scheint die Scylla gesehen zu haben, ehe die grausame Metamorphose vor sich gegangen (oder hatte sie später eine Entzauberung erfahren?); er beschreibt sie in seinem humoristischen Epos „La fata galanti“ folgendermaßen:

„Die Zöpfe schienen wie mit Gold durchzogen;
Ein Rundgesichtchen trug der Hals, der feine,
Die Stirne hoch, die Nase sanft gebogen,
Das Mündchen wie ein Ring mit Purpurscheine;
Das Antlitz frei, von Anmuth überflogen,
Die Augen leuchtend wie zwei Edelsteine:
Die Scylla war’s, so schön beim ersten Schauen,
Und schöner immer – mögt mir wohl vertrauen.

So sah ich morgens sie auf einem Steine
Am Meeresstrand, das Fischnetz in den Händen,
Den Korb zur Seite ihr mit Brod und Weine,
’nen andern für die Fische. Abzuwenden
Von ihrem zarten Antlitz, das im Scheine
Der Sonn’ erglänzte, die mit heißen Bränden
Sie traf, die Strahlen, trug sie, unverletzet,
Von Stroh ein Hütchen, zierlich schräg gesetzet.“

Dergestalt vermöchte sie wohl einen modernen Glaukos zu verführen, als Scheusal jedoch schreckt sie, wie gesagt, Niemand mehr, und diese Ohnmacht hatte denn auch schon das spätere Alterthum, das die Dinge römisch-objectiv anschaute, erkannt. Seneca gesteht, daß der Scyllafels dem Reisenden durchaus nicht gefährlich sei, und den Bewohnern Scillas ist sogar alle und jede Erinnerung an die alten grausigen Fabeln verloren gegangen. Wir sehen heute ihre Barken schaarenweis um den großen und kleinen Scyllafelsen hergelagert; der kleine ist wie eine Art Wellenbrecher vor dem großen zu denken. Wir fahren auf schwacher Barke zu ihm hinan; leise athmend hebt sich das durchsichtige Meer an dem Gesteine empor, und nur aus der Grotte tönt es hohl und dumpf wie Schluchzen und Seufzen. Daß sich diese Laute bei Sturm und tosender Brandung in Brausen und Heulen verwandeln, ist wohl einzusehen; daß diese Brandung aber hier nicht schlimmer wirkt, als an jeder andern ausgebrochenen Küste, wie an jedem andern Cap, darf man getrost behaupten. Wer bei Sciroccosturm die ebenfalls felsige und unnahbare Küste Amalfis entlang fuhr, wird sich des abscheulichen Gebrülls erinnern, das in der Grotte dell’ Orso, der nach jenen Lauten benannten Bärengrotte, verübt wird.

Die Scylla mit ihrem Felsen würde also längst der Vergessenheit anheimgefallen sein, wenn nicht die Stadt dahinter für Erhaltung des Namens gesorgt hätte. Die Lage dieser ist in zwei Worten geschildert: Im Rücken derselben, wie an der gesammten Küste Calabriens hin läuft das Hauptgebirge, hier eine nur schmale Ebene zwischen sich und dem Meere freilassend. Diese Ebene wird von einem vom Hauptgebirge stracks gegen das Meer, wo er in einem Cap endigt, laufenden Hügelrücken in zwei Hälften getheilt, in zwei sogenannte Marinen, welche, vor Zeiten vom Meer aufgebaut, dieses nur wenig überragen; auf diesen Ebenen sowie an den Hängen des Hügelrückens und der dahinterliegenden, von reicher Vegetation bedeckten Berge hat sich das Städtchen „Scilla“ angesiedelt.

Es existirte schon im Alterthum, und auf dem großen Felsen stand damals ein Minerva-Tempel, nach welchem dieses Cap, wie jenes bei Sorrent, den Namen Cap der Minerva erhielt. Nach Strabo, der bekanntlich kurz vor Christi Geburt schrieb, legte dort schon Anaxilaus, der Tyrann von Rhegion, dem nahen Reggio, etwa um 480 v. Chr. einen Wachtthurm gegen die Piraten an, und das jetzt verfallene Castell aus den Zeiten der Normannen hat später gleichem Zwecke gedient.

Die Stadt von heute ist noch nicht hundert Jahre alt; Alterthümer und etwaige Merkwürdigkeiten enthält sie nicht. Sie stellt sich, wie so viele ihrer süditalienischen Schwesterstädte, welche von Fischern, Winzern und Ackerbauern gegründet wurden, aus der Ferne sehr nett, im Innern aber unwohnlich und ziemlich unsauber dar, so harmlos ihre Bewohner uns auch entgegenkommen. Es mögen deren ungefähr achttausend sein, und mit redlichem Fleiße suchen sie der Erde an Wein und Oel und dem Meere an Fischen das abzugewinnen, was sie zur Fristung eines fast bedürfnißlosen Daseins brauchen. Der Fischfang und besonders der Fang des Thunfisches ist aber gleichzeitig ihre Lieblingsbeschäftigung, und man kann dreist behaupten, daß jeder Scillaner ein geborener Fischer ist. Gilt es, den Thunfisch mit festliegenden Netzen, den sogenannten Tonnaren zu berücken, so erheischt der Fang des Schwertfisches dieselbe Kraft und Gewandtheit des Mannes, wie sie in den Alpen bei der Jagd auf Gemsen erforderlich ist. Das Merkwürdigste dabei aber ist, daß er noch heute fast genau so ausgeführt wird, wie ihn schon Strabo beschreibt.

Vom Maste einer größeren Kundschafterbarke aus werden die zwei kleineren nachfolgenden Barken benachrichtigt, sobald ein Fisch in Sicht war. Eine derselben macht sich in der bezeichneten Richtung auf und spießt die Beute mit einem spitzen, an langem Stabe befestigten Eisen an, das, wenn es festsitzt, mit der Barke durch ein langes sich abrollendes Seil in Verbindung bleibt; wird der Fisch schwach, so rudert die zweite, die Todesbarke an ihn heran und holt ihn ein. Oft sitzen die Kundschafter auch auf dem großen Felsen und geben ihre Signale von da aus – selten entgeht so ein unglücklicher Fisch-Odysseus ihren Späherblicken.

Die Scillaner kennen jede Fischart und deren Lebensweise; alle Listen haben sie studirt, um die Stummen da drunten zu berücken; in der übrigen Freiheit pflegen sie ihr Stückchen Wein- und Oelland, pflücken sie die hier so üppig gedeihenden „indischen Feigen“, während die Frauen der Seidenzucht obliegen.

Es ist ein Leben des Friedens, was hier längs der Südküste Calabriens bis Reggio hinunter geführt wird; nur einmal wurde dieses – vor fast hundert Jahren – auf so entsetzliche Weise unterbrochen: Ein schreckliches Erdbeben, wie die Geschichte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_294.jpg&oldid=- (Version vom 10.2.2023)