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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

nicht erreicht – sollte er seinen Weg fortsetzen? Sollte er umkehren? „Ich kann es nicht!“ sagte er und wandte sich wieder gegen den Teich.

Nur eine kurze Weile, und er war am Ziele.

Noch war der Mond nicht so hoch gestiegen, daß der ganze Teich von seinem Lichte überfluthet gewesen wäre. Drei Seiten des Ufers waren in tiefes Dunkel gehüllt, während die vierte in bleichem Lichte erglänzte.

Da wandelten sie, lichtbeschienen, die Frauen Ibrahim’s, eine ausgenommen. … Diese eine aber war Nefiseh, und Abd-er-Raschid’s Augen, welche die Geliebte ängstlich suchten, fanden sie alsbald. Dort im Dunklen schritt sie neben seinem Vater mit gesenkter Wimper, ein Bild edler, keuscher Weiblichkeit.

Ohne zu säumen, eilte Abd-er-Raschid zu den Beiden.

„Ein schöner Abend,“ sagte er mit erkünstelter Ruhe. „Wie wär’s mit einer Fahrt auf dem Wasser?“

„Ein glücklicher Einfall!“ erwiderte Ibrahim mit heiserer Stimme. „Knabe, lös’ uns den Kahn!“

„Knabe?“ fragte Abd-er-Raschid zornig in sich hinein, und er folgte dem Befehle, wiewohl widerstrebend; o, er wußte nur zu gut, warum der Vater ihn in der letzten Zeit wie einen Unmündigen zu behandeln liebte. Ein Knabe, ein unreifer Knabe, sollte er sein – in den Augen der schönen Nefiseh.

Die Kette, welche den Kahn mit dem Festlande verband, war gelöst. Ibrahim Bey[WS 1] stieg in denselben und winkte Nefiseh, ihm zu folgen. Sie gehorchte schweigend, und schon erhob auch Abd-er-Raschid den Fuß, um das schaukelnde Fahrzeug zu betreten – da – er meinte, das Herz müßte ihm stille stehen vor Zorn und Unmuth – da schnellte Ibrahim, der das Ruder ergriffen hatte, durch einen raschen Stoß gegen die marmornen Stufen den Kahn weit hinaus, mitten auf die mondbeglänzte Fläche des Teiches. Abd-er-Raschid stand einen Augenblick mit krampfhaft geballten Händen; dann wandte er sich jählings und stürmte von dannen.

„Mein Roß!“ rief er vor der Gartenpforte dem Reitknechte zu. „Mein Roß, Ali, schnell mein Roß!“

Wenige Secunden später schwang er sich auf das feurige Thier, und er war kaum im Sattel, als es schnaubend davon stob. Hei, wie der Rappe ausholte! Durch die dunkle Schubra-Allee, über den Canal, in die mondhellen Sandflächen der Abbasijeh hinaus ging der wilde Ritt – an den Mamelukengräbern vorbei, die Mokattamhöhen hinauf.

Die einsamen Wächter der Grabmoscheen, die den verwegenen Reiter hatten vorübersausen sehen, hielten ihn für einen Ginn (bösen Geist) und sprachen leise ein Gebet.

Roß und Reiter hatten die Höhe erklommen; da stand das edle Thier, vom hastigen Ritte erschöpft, wie angewurzelt; seine dunkle Silhouette und über ihm die Abd-er-Raschid’s zeichneten sich scharf vom hellen Himmel ab und nahmen sich wie eine herrliche Reiterstatue aus.

Abd-er-Raschid’s Blick schweifte über die mondbeschienenen, sandigen Hügel und Ebenen zu seinen Füßen. Da überkam es ihn wie tiefe Wehmuth: solch ein Boden war es, auf dem einstmals die luftigen Zelte seiner Ahnen standen; über solche Sandebenen waren sie Jahrhunderte lang auf feurigen Rossen im Vollgenusse ihrer Freiheit dahingejagt – die edlen Söhne der Wüste. Ihr ganzes Leben, wie die Ueberlieferung es schilderte, stand plötzlich vor Abd-er-Raschid’s Seele: Auf heißem Boden im Schatten des vom Winde umbrausten Beduinenzeltes hatten sie das Licht der Welt erblickt; dort hatten sie gekämpft und gejagt, geliebt und gefreit, ein unabhängiges, stolzes Leben geführt, bis Hassan-Ibn-Ali von dem Stifter des jetzigen ägyptischen Herrscherhauses in die Gefangenschaft geführt wurde. Der edle Beduinenhäuptling ertrug sein Loos nur wenige Monate lang; er starb am Heimweh, an der Sehnsucht nach Freiheit. Seine Söhne aber gewannen in verächtlicher Verweichlichung ihre schimpflichen Fesseln lieb; eine fürstliche Apanage ersetzte ihnen bis auf den heutigen Tag die Freiheit und die Herrschaft über die stolze Wüste. Der Mensch vergißt so leicht sein Edelstes, verliert so schnell sein Bestes in den weichen Armen des Genußlebens.

O, es war eine lange Heerschaar verklagender und strafender Gedanken, die an Abd-er-Raschid’s Seele in der heiligen Stille der Wüste vorüberzog. Der Verfall seines Hauses, die Entnervung der Seinigen, von der er selbst nicht frei war, erfüllten sein Herz mit tiefem Groll. Es war ihm, als müßten die Leiber seiner Ahnen, die fern in Arabiens heißem Sande schliefen, im Schmerz über die entarteten Enkel auferstehen, waffenklirrend und zornblickend. Sie sahen ihn mit den ernsten bleichen Gesichtern strafend und drohend an – ha, und was war das? Liebliches gesellte sich in seiner Phantasie zu dem Schrecklichen: Nefiseh’s geliebte Augen tauchten plötzlich vor ihm auf. Sie blickte aus dem sie nur halb verhüllenden Schleier verlangend zu ihm auf; dann senkte das holde Geschöpf die langen Wimpern; verschämt stand sie da, als ab sie der Entschleierung harre. O, so würde sie vor ihm stehen am Hochzeitstage, in jener weihevollen Stunde, wo es dem Muslimen vergönnt ist, den Schleier, welcher das Antlitz seines Weibes verhüllt, endlich, endlich zu heben.

Abd-er-Raschid schloß die Augen, ganz versunken in die Vorahnung dieses seligen Augenblicks. Es ist ein tiefes, naturnothwendiges Bedürfniß des Menschenherzens: ein heiß ersehntes Glück, das uns unerreichbar und ewig verloren ist, wir müssen es uns erträumen, erdichten, um es, wenn auch nur auf Augenblicke, in süßer Täuschung zu genießen. Der Traum ist das Manna der Seele, die entsagen muß.

So träumte lange auch Abd-er-Raschid; die heiße Stirn in die weiche Mähne des edlen Rappen geschmiegt, ließ er seine Seele schweifen, schweifen zum verlorenen Paradiese seiner Sehnsucht. Wie einst die Alten, so fand auch er sein Manna in der Wüste. Um ihn lag schweigend die sandige Einöde. Kein Laut, kein Hauch! Nur dann und wann ertönte der Schrei eines einsamen Wüstenvogels oder der Athem des Nachtwindes küßte leise die glühende Wange des weltverlorenen Träumers.

Nun aber scholl aus dem Gestrüpp der Wüste das unheimlich melancholische Geheul eines Schakals an sein Ohr.

„Sei mir gegrüßt!“ rief er, „Du Stimme der Natur! Das Thier der Wüste schreit nach der Erfüllung des ihm angeborenen Rechts – was weiß ich: nach seinem Fraß, nach Wasser, nach Blut. Und ich? Bin ich ein so weichherziger Schwärmer, daß ich mir thatenlos rauben lasse, was mein ist von Rechts und Natur wegen, daß ich träume statt zu handeln?“

Stolz schüttelte er sein schwarzes Lockenhaar.

„Auf, mein Roß!“

Und von Neuem begann der wilde Ritt – der Heimritt.

Zu Hause angelangt, übergab Abd-er-Raschid die Zügel seines Rappen einem Reitknechte, einem altbewährten Eunuchen.

„Geh’,“ wandte er sich an den ehrerbietig Grüßenden, „melde meinem Vater meinen Besuch, wenn er zu so später Stunde mir noch den Eintritt gestattet! Ich erwarte die Antwort in meinen Gemächern.“

Der alte Diener kehrte alsbald mit der Meldung zurück, daß Ibrahim seinen Sohn erwarte, dann aber trat er an den Divan heran, auf dem sein junger Gebieter ruhte.

„Auch ich will Dir ein Wörtlein sagen,“ begann er, „laß das Musiciren, Herr! Dem Gotte der Franken mag es willkommen sein, unserem Gotte Allah aber ist Musik nicht wohlgefällig. Wenn der Böse einem Muslimen zu einer Sünde verlocken will, so bedient er sich dazu der Musik, und musikalische Instrumente sind die Muezzin (Gebetrufer) des Teufels, mit denen er die Muslimen lockt und ruft, daß sie ihn anbeten.“

„Wer sagt das?“ lachte Add-er-Raschid.

Feierlich erwiderte der Alte:

„Mohammed sagt es selbst. Das solltest Du wissen, Herr! Und noch ein weises Wort unseres Propheten möchte ich zu Deinem Heile hinzufügen: wenn ein Muslim keine Jungfrau zum Weibe nimmt, so nehme er ja keine Wittwe, sondern eine geschiedene Frau! Denn gegen diese hat er eine mächtige Waffe in den Worten: ‚Sei demüthig! Du hast keinen Grund stolz zu sein, – sonst hätte Dich Dein erster Gatte nicht verstoßen.‘ Jene aber, die Wittwe, wird bei jedem Anlaß den Tod ihres Gemahls beklagen und behaupten, dieses oder jenes hätte der Verewigte nie und nimmer verbrochen.“

„Darauf erwidere ich,“ gab ihm der Jüngling zurück, „mit einem anderen Spruch, der wahrer ist als der Deine: Keine Ehe ist so dauerhaft, keine heiliger, als diejenige, welche Vetter und Muhmen schließen; denn sie tragen eine doppelte Liebe im Herzen, die angeborene, verwandtschaftliche und die eheliche. Und nun gehe!“

(Schluß folgt.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ibrahim-Bey
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_303.jpg&oldid=- (Version vom 20.2.2023)