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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Ich habe wenig Sympathie mit einer Meisterschaft, die aus der Noth eine Tugend macht; Kargheit der Phantasie und Kühle der Empfindung kann ich nie für Vorzüge halten, selbst wenn sich die ganze Modenwelt entschlossen hat, für Autoren zu schwärmen, welche beides in ihren Werken zur Schau tragen. E. Vely hat mehrere Novellensammlungen herausgegeben, so auch neuerdings eine solche unter dem Titel: „Südlicher Himmel“ (Herzberg und Leipzig, Verlag von C. F. Simon). Von den zwei Novellen der Sammlung verdient die erste: „Joca Davis“, den Vorzug; sie kam zuerst in „Unsere Zeit“ zum Abdruck und erregte damals durch ihr warmes, südliches Colorit – sie spielt in Dalmatien –, durch die Lebendigkeit der Schilderung und die spannende Handlung Aufsehen in der Lesewelt. Außer diesen Novellen hat E. Vely einen größeren Roman in vier Abtheilungen veröffentlicht: „Drei Generationen“ (drei Bände, Herzberg und Leipzig, C. F. Simon). Sie glauben vielleicht, daß „Die Ahnen“ von Freytag, die uns einen ganzen Stammbaum durch lange Jahrhunderte herunterturnen lassen, den Anlaß zum Roman der Frau Vely gegeben haben, doch in den Romanen eine Familienchronik mehrerer Geschlechter zu geben, ist schon früher üblich gewesen: ich erinnere Sie nur an die Romane von Henrik Steffens: „Walseth und Leith“ und Andere, besonders an den Roman der Fanny Lewald: „Von Geschlecht zu Geschlecht“, mit welchem das neue Werk der Frau Vely einige Aehnlichkeit hat; denn es beginnt ebenfalls mit Bildern aus der französisch-frivolen Cultur des vorigen Jahrhunderts.

Von den Freytag’schen „Ahnen“ unterscheiden sich diese Romane dadurch, daß sie nicht, wie diese, über Jahrhunderte hinwegvoltigiren, sondern die Familienchronik dreier Geschlechter in ihrem inneren Zusammenhange darstellen. So greift in dem Vely’schen Roman die jugendliche Heldin der ersten Generation noch als Großmama in die Geschicke der dritten ein. Es ist einleuchtend, daß jeder dieser Romane eigentlich aus einem Romancyklus besteht, indem jede Generation ein begründetes Recht auf selbstständige Behandlung ihrer Erlebnisse hat.

Fanny Lewald hat in der That für ihren Cyklus acht Bände gebraucht, während E. Vely die Chronik dreier Geschlechter in drei Bänden erzählt. Das liegt in der Darstellungsweise der beiden Schriftstellerinnen; Fanny Lewald liebt das epische Verweilen, ja eine gewisse Langathmigkeit, während der schriftstellerische Puls der Frau Vely sehr beschleunigt geht; Fanny Lewald analysirt ihre Charaktere und die Entwickelung ihres Seelenlebens bis in’s Detail; Frau Vely begnügt sich oft mit einzelnen erhellenden Lichtern. Bei Fanny Lewald überwiegt die Verstandesthätigkeit, bei E. Vely das Gefühl, das sich oft in anmuthigen lyrischen Schilderungen und Ergüssen ergeht.

Sie erwarten gewiß, verehrte Freundin, daß in einem solchen Familienroman jene Frage der Erblichkeit der Anlagen und Charaktereigenschaften, wie ich selbst sie in meiner „Erbschaft des Blutes“ poetisch zu behandeln versuchte, eine Rolle spielt. Dies ist indeß nicht der Fall; Frau Vely scheint ein solches Gesetz der Vererbung nicht anzuerkennen. Da ist in der ältesten Generation eine kokett-graziöse Baronin von Ungleich, welche keine größere Ehre kennt, als die Maitresse ihres Fürsten zu werden; sie selbst ist ebenso wie ihr Mann, der zuletzt Minister wird, ganz grundsatzlos und von der frivolsten französirenden Richtung. Der Sohn aus dieser Ehe, Werner, ist aber ein tüchtiger Charakter, der sich an demagogischen Umtrieben betheiligt, zum Tode verurtheilt, zu langer Gefängnißhaft begnadigt wird und dann zugleich mit seiner Geliebten Hildegard sich vergiftet. In der anderen Linie ist der Wolf Ungleich der ersten Generation eine Kraftnatur, Anhänger revolutionärer Grundsätze, der seinen Adel ablegt, seinem Fürsten herausfordernd gegenübertritt. Sein Sohn aber, obgleich er die Befreiungskriege mitmacht, ist von schwächlicher Art. Zu Darwin’s Theorien hat Frau Vely keinerlei Beiträge geliefert. Den Hintergrund der ersten Abtheilung bildet die französische Revolution, welche die Pomadentöpfe der Rococowirthschaft in ganz Europa in Scherben schlägt; in die zweite fallen die Befreiungskriege und die demagogischen Bewegungen, in die dritte die liberalen Bestrebungen der vierziger Jahre.

Die landschaftlichen Bilder, wie die Liebesscenen des Romans durchweht ein echt poetischer Hauch. Alles in demselben ist freilich nicht niet- und nagelfest. Die Bekehrung der Gertrud durch den alten Juden hat etwas allzu Plötzliches und wenig Glaubhaftes, und daß die Baronin Aglaë dem wildfremden Mann, dem sie zufällig begegnet, die Papiere ihres Mannes ausliefert, erscheint mir durchaus unmotivirt, und doch giebt diese Handlung den Ausschlag für das tragische Ende Werner’s und Hildegard’s.

Sie sehen, verehrte Freundin, Sie haben die Wahl, in welches dieser Werke Sie sich vertiefen wollen, und wenn Sie am Strande sitzen und der von den fernen Horizonten des baltischen Meeres herüberwehende Wind Ihnen in den aufgeschlagenen Büchern blättern hilft, so gedenken Sie auch wohl des fernen Freundes, der in die endlose Fluth der Literatur untertaucht, um einige Perlen für Sie heraufzuholen.




Recht und Liebe.

Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Und dann wäre ja Alles wie es soll, Alles gut,“ unterbrach der Baron Regine. „Ich könnte mit Euch gehen, und Ihr Beide pflegtet mich; ich ließe mir von Benning eine Rente senden, und im Uebrigen möchte aus Dortenbach werden, was da will. Nicht wahr,“ wandte er sich an den Doctor, „auch damit sind Sie einverstanden – Sie sind einverstanden, daß Regine nie mehr mit dem Worte Dortenbach gequält werde, daß man ihr nie wieder von ihren Erbansprüchen rede …“

„Nein,“ sagte Leonhard ruhig. „Damit kann ich nicht einverstanden sein. Regine ist meine Braut, und ich habe als Verlobter das Recht und die Pflicht, Einspruch wider ein so thörichtes Verzichten zu erheben.“

„Nun sehen, nun hören Sie es selbst, Oheim!“ rief Regine zitternd vor Aufregung.

Der Baron sah ihn verwundert an, dann sagte er:

„Ich höre es selbst, Kind – ich höre es mit Verwunderung. Aber eigentlich – weißt Du, daß er eigentlich Recht haben wird, wenn wir ihn nur ausreden lassen?“

„Wozu noch viele Worte darüber verlieren?“ fuhr Regine fort. „Das Recht, Einspruch gegen meinen festen Entschluß zu erheben, hat Niemand; das Wort, welches ich gegeben, habe ich längst im Stillen zurückgenommen und nehme es hier laut zurück. Und nun lassen Sie mich gehen, Onkel!“

Leonhard sah sie, abwechselnd erröthend und erbleichend, an.

„Regine,“ sagte er, sich zur Ruhe zwingend; „das können Sie nicht …“

„Weshalb nicht? Habe ich nicht das Recht dazu?“

„Das Recht, ja – tausendmal das Recht. Aber nicht die Macht. Wie Sie das Recht, aber nicht die Macht haben, auf Ihr Erbe zu verzichten.“

„Was soll mich hindern?“

„Das, was uns an jedem Tage in unserem Leben hindert, unser volles Recht zu behaupten. Wehe der Welt, wenn das Recht in ihr herrschte, wenn das Höchste das Recht wäre! Die Liebe steht höher, und Liebe gewinnen ist ein fortwährendes Verzichten auf Rechte und Rechthaben.“

„Liebe!“ sagte Regine mit unsäglicher Bitterkeit.

„Ja, Liebe. Sie können mir die Liebe mit dem Munde aufkündigen, aber Sie können sie nicht aus dem Herzen reißen, höchstens sie in die lügenhafte Maske des Hasses kleiden. Das ist Alles, Alles, was Sie können. Und das ist auch Alles, was ich kann. Wir sind einfache, volle und ganze Naturen, Regine; Sie wie ich. Wir können uns nicht hingeben, ohne es ganz, voll und für immer zu thun. Als solche haben wir uns gefunden und in uns unsere Schicksale. Sie mögen verzichten können, auf was Sie wollen, auf Ihre Natur können Sie nicht verzichten, nicht auf das, was das Große und Edle Ihrer Natur ist.“

„Und darauf trotzen Sie?“ fragte, ungeachtet ihrer inneren Erschütterung wie verachtungsvoll die Lippen aufwerfend, Regine.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_383.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)