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verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

dasselbe; der Localverkehr auf beiden Linien ist unbedeutend; denn die Mehrzahl der Reisenden bewegt sich zwischen den Hauptpunkten Reval einerseits und Petersburg und Dorpat andererseits, und daher muß eine Anzahl von Post- und Landstraßen dem Verkehr im Innern nachhelfen. Granitrücken, die das Land auch in seinen sumpfigen Theilen durchziehen, bieten treffliches Material zum Straßenbau. Wo im Norden der fast horizontal lagernde Jurakalk an die Oberfläche tritt, erscheint der Boden von Natur geebnet, und die Wagen rollen dort zeitweise über die nackten Fließen dahin. Für das Unterkommen der Reisenden ist dagegen auf den Poststationen höchst bescheidene Fürsorge getroffen. Man gewinnt aus der Einfachheit und Aermlichkeit vieler dieser Unterkunftsstellen ein recht trübes Bild von den Culturbedürfnissen der Bevölkerung und glaubt sich in einem noch weniger civilisirten Lande, als es wirklich der Fall ist.

Bei meinen ersten Fahrten über diese endlosen Flächen, die rings ein dunkler Wald besäumt, über diese menschenleeren Wege hin und an diesen strohbedeckten, zum Theil ihrem ursprünglichen Herbergszweck entzogenen Krügen vorüber, wurde es mir so recht klar, daß es nur die Gleichförmigkeit und die Einsamkeit, sowie der Mangel jedes anregenden und aufregenden Erlebnisses ist, was den Reisen in Esthland ihren Charakter giebt. Die Phantasie hat hier Zeit genug, an die vereinzelten menschlichen Wohnsitze, an die dürftigen Bauernhäuschen oder an die hohen Dächer gutsherrlicher Schlösser ihre Spiele zu knüpfen. Ziehen noch dazu Frühlingsstürme oder herbstliche Wolkenschatten über diese Ebenen hin, dann erscheint das Land als die natürliche Heimath jener wehmüthigen Volksweisen, welche es hervorgebracht hat. Und wahrlich! Jüngling wie Greis, Schulmädchen wie Schloßfrau, Esthe wie Deutscher: was in Esthland geboren und erwachsen, trägt einen Zug der Sentimentalität in seinem Gemüthe.

Etwa eine Stunde war ich durch den thaufrischen Morgen dahingefahren; in den wenigen Häusern, im Pastorat am Wege lag noch Alles im tiefen Schlafe, und weder Mensch noch Fuhrwerk waren mir begegnet. Da endlich bemerkte ich weit vor mir zwei wandernde Gestalten. Sie sind bald eingeholt – und wirklich: ich habe mich nicht getäuscht; sie sind es: mein alter Reisegenosse und sein Großkind! Nach kurzer Ueberredung meinerseits steigen sie zu mir in den Wagen.

Nur noch eine Weile, und es wurde lebhafter auf der Straße; zahlreiche Fußgänger schritten vor uns daher, und von den Seitenwegen lenkten Fuhrwerke ein, die sich, wie die Fußreisenden, sämmtlich nach der gleichen Richtung hin bewegten; das Ziel dieser Fahrenden und Wanderer ist die vor uns liegende Kirche von Karusen. Man begiebt sich zum Morgengottesdienst, und vor der Kirche herrscht bereits volles, buntes Leben. Gefährt steht neben Gefährt; in Gruppen haben sich die Bauern zusammengesetzt: Frauen ordnen ihr Schuhzeug oder stillen seitab ihre Säuglinge. Das Bild ist farbenglänzend, wie die Volksfeste des Südens; denn der Esthe liebt in seiner Tracht kräftige Farben.

Der Rock des Mannes ist braun, oft mit rothem Saum und kleinen silbernen Knöpfen verziert, während die Kniehose weiß, die Weste roth oder farbig gestreift, der Strumpf blau ist. Die Mützen der Frauen und der Kopfreif der Mädchen, welche von steif gespanntem, glänzendem Atlas gefertigt werden, zeigen meist helle und leuchtende Farben und sind mit breiten, bunten Schleifen und Bändern geziert. Das weiße Oberhemdchen trägt vielfach Stickereien von Seide und Flittern. Prachtstück ist aber der Rock. Von der Hüfte abwärts ist er mit zollbreiten Streifen farbigen Tuches verziert, dazwischen mit seinen weißen und gelben Linien gestreift und wird am Gürtel so gefaltet, daß oben nur eine Farbe sich zeigt. Wo die Falten sich öffnen, tritt eine zweite, vom Knie abwärts eine dritte Farbe hervor. Jeder Schritt giebt ein Auf- und Niederwallen der Farben, einen Wechsel im Vorwiegen der einen und der anderen[1]. Die Strümpfe sind mit bunten Zwickeln versehen. Bunt ist das Brusttuch, und bunt sind die gestrickten wollenen Handschuhe, die beim Kirchgange selbst im Sommer nicht fehlen dürfen.

Die Farbenwirkung der Kleidung wird durch die Haartracht des Volkes erhöht. Der Esthe ist vorwiegend blond, und nur in der alten Sakala, der zu Livland gehörigen Umgegend von Fellin, herrscht bei blauen oder grauen Augen das kastanienbraune Haar vor. Bei den Männern gilt wie bei den Frauen das lang herabhängende, frei wallende Haar für eine besondere Zierde, wie denn unter dem breiten, dunkeln Männerhut in der Regel eine helle Mähne hervorquillt, während unter dem farbigen Frauenkopfschmuck glänzendes Flachshaar in großer Fülle sichtbar wird.

Den Esthen sind nicht blos die scharfen Sinne der uncultivirteren Völker, sondern auch Neigung und Fähigkeit zu künstlerischem Gebrauche derselben eigen. Sie sind von hoher musikalischer Begabung. Ihr Chor- und Quartettgesang, die Dilettantenorchester, die Dorfvirtuosen auf dem Organon der Schule, vor Allem aber die Sangweisen ihrer Volkslieder überraschen auch das verwöhnte musikalische Ohr.

In gleichem Maß ist der Farbensinn der Esthen entwickelt, wie denn die Zahl der aus dem esthnischen Volke hervorgegangenen Maler überraschend groß ist.

Auch an dichterischer Begabung fehlt es dem Volke nicht. Sein Nationalepos, Sohni, der Felsensohn (Kalewi Poëg)[WS 1], ist in deutscher Uebersetzung und Bearbeitung zu bekannt, als daß hier seine groteske Phantastik und seine Selbstständigkeit gegenüber dem finnischen Epos Kalewala’s weiter auszuführen wäre. Ebenso haben die esthnischen Sagen und Volksmärchen rasch die Beachtung aller Freunde der Dichtung erworben.

Die esthnische Sprache ist reich und von besonderem Wohlklang; sie ist von allen finnischen Idiomen entschieden die wohlklingendste. Die specifische Form der Dichtung ist die Alliteration, und zu den zartesten Liedern der Esthen gehören die Elegien, die, meist von Frauen gedichtet, auch besonders von Frauen im Gedächtniß des Volkes festgehalten werden.

Der körperliche Typus der Esthen ist kräftig, in einzelnen Gegenden hochgebaut. Man findet viel hübsche Frauen unter ihnen, doch altern sie früh; die Männer dagegen gewinnen, wie es bei Völkern geringerer Bildungsstufe meist der Fall ist, erst im Alter die Schönheit eines ernsten und würdigen Gesichtsausdruckes. Das bekannte Abendmahlbild des Esthländers Ed. von Gebhardt in der Berliner Nationalgallerie zeigt uns mehrere solcher typischer Esthenköpfe.

Im Gegensatz zu den Russen, die vorzugsweise von Pflanzenkost leben, nähren sich die Esthen hauptsächlich von Fisch und Milch, und vielleicht liegt hierin der Grund ihrer größeren Enthaltsamkeit von Branntwein. Einst waren es Spielstuben, in welchen sich die esthnische Jugend versammelte – die vielen Spiellieder zeugen noch von dieser Sitte – und erst als die schwedische Regierung diese Spielversammlungen verbot, begannen die Krüge ihre Rolle zu spielen, von denen es noch im Ausgang der fünfziger Jahre eine große Zahl gab, die alle nach dem Typus gebaut waren, den unser Bild zeigt. Seit etwa zwanzig Jahren hat die Zahl der Krüge sehr abgenommen und Bier ist vielfach an die Stelle des Branntweins getreten.

Eine große Rolle spielt im Leben des Esthländers das Pferd[2]; denn die kleine, aber starke, rasche, ausdauernde und zugleich anspruchslose Rasse, die auf Oesel und in Esthland gezogen wird, bildet eines der besten Besitzthümer des von der Natur nur kärglich bedachten Landes. Auch die beiden runden Klepper, die uns immer tiefer in das Land führten, waren von echt esthnischer Rasse.

Das esthnische Volksgebiet überschreitet die politischen Grenzen des Gouvernements Esthland, und wir finden noch zahlreiche esthnische Sprachinseln in den angrenzenden Provinzen, namentlich in Livland. Darum hat auch der Künstler auf dem diesem Artikel beigegebenen Tableau Bilder aus der in Livland gelegenen Stadt Pernau dem Leser vorgeführt: die charakteristische esthnische Kirche und die anmuthige Silhouette dieses auch als Seebad oft besuchten Hafens, wie sie sich von der See aus dem Beschauer darbietet.

Von der Kirche von Karusen fuhren wir im raschesten Trabe über die Ebene, die in dem Geschichtskundigen manche Erinnerung weckt, nach dem Flecken Leal[WS 2]. Hier erreichte die Ueberraschung meines alten Reisegefährten, welcher über die Fortschritte des Landes zu wiederholten Malen seine Freude geäußert hatte, den höchsten Punkt. Als er zuletzt vorbeigewandert, lagen dort, wie er erzählte, am Fuße des Schloßberges nur die Kirche, die Häuser des Predigers und Arztes und fünf Krüge. Jetzt war der Anfang

  1. Einen ganz ähnlichen Rock, doch nicht so farbenreich, tragen die Frauen in einigen Orten des badischen Schwarzwaldes.
  2. Das erweist sich leicht aus dem Vergleiche mit anderen Ländern. Auf 1000 Menschen kommen in Frankreich 80, im deutschen Reiche 82, in Großbritannien und Irland 85, in Oesterreich-Ungarn 99, in Schweden 105, in Dänemark 177, in Esthland aber 212 Pferde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. estnisches Nationalepos Kalewi Poëg
  2. Leal: Lihula

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1882, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_399.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)