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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

es erfordert; der Arme correspondirte früher entweder gar nicht, oder doch nur überaus selten, wobei er sich noch ein Opfer auferlegen mußte, und genau in demselben Falle befindet er sich heute dem Reisen gegenüber.

Nachdem nun eine zwanzigjährige Erfahrung gezeigt hat, daß die einheitliche billige Tarifirung des Postportos die soeben charakterisirten Unterschiede in der Correspondenzfähigkeit aufgehoben hat, daß alle Theile der Bevölkerung die Annehmlichkeiten des brieflichen Verkehrs in gleicher Weise genießen können und in der That sich zu Nutze machen und daß in Folge dieser einheitlichen billigen Tarifirung die Post erst zu dem Verkehrsmittel geworden ist, welches sie heute darstellt und von dessen möglicher Ausdehnung man vorher keinen Begriff hatte; nach allem Diesem ist in der That nicht abzusehen, warum nicht die gleiche Maßregel bei dem Personenverkehr auf den Eisenbahnen die gleichen Folgen nach sich ziehen soll. Dafür, daß nach Einführung eines billigen Fahrpreises die Anlässe zum Reisen sich mehren, soll nur angeführt werden, daß, abgesehen von den Besuchsfahrten in Feiertagswochen und Ferienzeiten, der Kaufmann in vielen Fällen statt eines mehrmaligen Briefwechsels, der den Abschluß eines Geschäftes um Wochen verzögert, lieber in einem Tage durch persönliche Rücksprache die betreffende Angelegenheit regulirt. Man denke an den Amerikaner, der, wie kürzlich die Zeitungen meldeten, die Reise von seiner Heimath nach Hamburg machte, um eine Stunde mit einem Geschäftsfreunde zu conferiren und eine Sache zu ordnen, wegen deren er bereits Monate lang vergebens correspondirt hatte.

Es sei ferner darauf hingewiesen, daß die Einführung besserer Verkehrsmittel stets die Verkehrsfrequenz je nach der Bequemlichkeit des neu Eingeführten gehoben hat.

Jeder Bewohner einer großen Stadt hat sich aus eigenem Anschauen überzeugen können, daß die Omnibusse, sobald sie zweckmäßige Linien befuhren, gute Geschäfte machten, daß die später als die Omnibusse gebauten Pferdebahnen einen großartigen Verkehr vermittelten, an den vor zwanzig Jahren noch kein Mensch dachte, und der Berliner endlich sieht mit Erstaunen, wie viele Leute täglich die Stadtbahn, ein ganz neues Verkehrsmittel, benutzen, während die Pferdebahnen immer noch, ebenso wie die Omnibusse, gefüllt sind und glänzend bestehen.

Wollen wir die Rentabilitätsfrage des Passagierportos praktisch prüfen, so müssen wir zunächst in annähernder Weise zu constatiren suchen, wie groß wohl nach Einführung des einheitlichen Tarifs die durchschnittliche Fahrstrecke sein wird.

Man irrt in jedem Falle, wenn man vermeint, daß die Billigkeit des Tarifs veranlassen werde, daß nunmehr die Leute vorzugsweise weite Strecken durchreisen werden; die Billigkeit und Bequemlichkeit des Transportes wirkt auf alle Entfernungen gleichmäßig ein. Beweis hierfür ist der Stadtpostverkehr in Berlin, welcher in die Millionen geht, wiewohl der Brief innerhalb der Stadt ebenso thener ist, wie bis nach der österreichisch-türkischen Grenze. Daß aber dem so ist, ist nur ganz natürlich; denn man schreibt eben zu jeder sich bietenden Gelegenheit, und die meisten sich bietenden Gelegenheiten müssen sich ja in der Nähe finden. Man betrachte sich die Verhältnisse in der Provinz.

Jede Kreisstadt bildet einen Centralpunkt, wiederum concentriren sich alle Interessen der Provinz in deren Hauptstadt, und so wird sich, einige Welthandelsplätze ausgenommen, der Verkehr im Briefwechsel, wie beim Reisen, immer als ein provinziell localer herausstellen, und die Hälfte der Entfernung der Hauptstadt von den Grenzen der Provinz als Durchschnittsdistanz anzunehmen sein.

Diese ist mit 120 Kilometer nicht zu gering bemessen, und nun können wir das Exempel construiren. Ein gewöhnlicher Zug, welcher täglich 60 Kilometer hin- und dieselbe Strecke zurückfährt, verursacht, laut einer fachmännischen Berechnung, das ganze Jahr hindurch gegen 45,000 Mark Kosten, die doppelte Entfernung also 90,000 Mark, und jeder einzelne Zug, da im Ganzen während eines Jahres gegen 730 Züge gehen, rund 120 Mark. Nun setze man den Fahrpreis unserer heutigen dritten Classe auf 1 Mark fest, so sind, da ein Waggon dieser Classe 50 Personen befördert, 2½ Waggon zu besetzen, um die Kosten zu decken, bei einem Fahrpreis von nur 50 Pfennig 5 Waggons. Man ersieht hieraus leicht, daß an der Rentabilität der Neuerung kaum zu zweifeln ist, um so weniger als heute Jedermann im Stande ist, sich eine Vorstellung von dem Verkehr, welcher sich entwickeln würde, zu machen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die Einführung des einheitlichen Personentarifs bedeutende Aenderungen im Eisenbahnbetriebe zur Folge haben würde, und wir wollen auf einige der zunächst liegenden eingehen. Vor allen Dingen würde die vierte Wagenclasse aufhören, da für dieselbe kein Bedürfniß mehr vorhanden sein würde. Viele Länder kennen gar keine vierte Classe, und so würde das Verschwinden derselben in Deutschland kein Schaden sein. Andererseits würde die Umwandlung der dadurch entbehrlich gewordenen Wagen in solche dritter Classe sofort dem gesteigerten Bedürfniß abhelfen.

Ebenso könnte die erste Classe aufhören, weil dieselbe, allzu luxuriös eingerichtet, unnütze Kosten verursacht. Es ist bekannt, daß in anderen Ländern die erste Wagenclasse unserer zweiten entspricht. Der Verkehr der Berliner Stadtbahn, welche nur zweite und dritte Classe besitzt, zeigt die Entbehrlichkeit der ersten und vierten. Dabei macht sich in demselben Verkehre, wiewohl er sich nur in Groschen bewegt, die merkwürdige Erscheinung bemerklich, daß Niemand, der sonst dritter Classe zu fahren gewohnt ist, an die Benutzung der zweiten denkt. Ist aber Jemand zu vornehm, um mit anderen Leuten zusammen zu fahren, so mag er sich ein Coupé allein miethen oder sich einen Salonwagen halten und diesen, gleich den Schlafwagen, gegen theures Entgelt mit einrangiren lassen.

Ein weiterer Punkt ist die Aenderung der Controlle. Die Bezeichnung der zu durchfahrenden Strecke auf den Fahrscheinen ebenso wie sonstige Bemerkungen würden aufhören; man würde die Billets so kaufen, wie heute Briefmarken. Die Anzahl praktischer Vorschläge, wie die Controlle einzurichten sei, ist dabei Legion. Man kann, wie es bei der Berliner Stadtbahn der Fall ist, Niemanden ohne Billet auf den Perron und vom Perron lassen. In Frankreich darf Niemand den Bahnhof verlassen, ohne sein Billet abzuliefern. In den Vereinigten Staaten geht ein Beamter durch den fahrenden Zug und verkauft die Billets etc.

Wie Eingangs bemerkt, ist es die Verstaatlichung der preußischen Bahnen, welche der Idee des einheitlichen Personenportos die Ausführungsfähigkeit giebt. Die Ausdehnung des Systems auf das ganze deutsche Reich scheint uns aber auch nicht großen Schwierigkeiten zu unterliegen; denn so gut wie die Reichspost es zu Stande gebracht hat, den Zehnpfennigtarif mit den nicht ihrer Verwaltung unterstehenden süddeutschen Postanstalten und sogar mit der österreichisch-ungarischen Post aufrecht zu erhalten, kann es auch die Verwaltung der preußischen Eisenbahnen thun, und der Weltpostverein mit seinem Zwanzigpfennigtarif, der doch noch viel größere Schwierigkeiten zu überwinden hat, macht die Probe auf das Exempel; denn in ihm ist der Durchgangsverkehr enthalten.

Es scheint kaum nöthig, auf die Vortheile, welche die Einheitlichkeit des Personentarifs auf Eisenbahnen nach sich ziehen würde, näher einzugehen, denn sie liegen auf der Hand. Wir begnügen uns daher, diese Vortheile in Kürze zu charakterisiren.

In erster Reihe würde dem Staate, als dem Besitzer der Eisenbahnen, aus einem Verkehre, der bisher seine Verzinsung nicht zu decken vermochte, eine großartige Einnahmequelle erwachsen, welche, zuerst zum Ausbaue des Bahnnetzes verwandt, immer neue und größere Einkünfte liefern würde. Das Publicum würde dagegen aus der Verkehrserleichterung den Vortheil der leichten Bewegungsfähigkeit und alle aus derselben resultirenden Ergebnisse, die in engem Rahmen sich überhaupt nicht detailliren lassen, ziehen.

Sicherlich wird jeder Leser dieser Zeilen sich den Nutzen, den er persönlich bei der neuen Einrichtung genießen kann, vergegenwärtigen, und damit wäre der Zweck, den der Verfasser dieses Aufsatzes verfolgt, erfüllt, nämlich die Frage der einheitlichen Normirung des Personentarifs auf Eisenbahnen in der großen Masse zur Discussion zu bringen, da es sicher ist, daß eine Frage, welche die Interessen so vieler Millionen innig berührt, wenn sie einmal zur Besprechung gelangt, nicht mehr ruhen kann, bis sie ihre Lösung gefunden hat.

So wollen wir denn hoffen, daß das deutsche Volk sich den Ruhm erwerben wird, eine wirthschaftliche Neuerung, deren Einführung unseres Erachtens unausbleiblich ist, in ihrer ganzen Wichtigkeit zu erfassen und zur Durchführung zu bringen.

Max Karfunkel.     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_446.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2023)