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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Palmsonntag! Die Glocken läuteten; festlich gekleidete Leute gingen nach der Kirche auf dem Markte, und Knaben und Mädchen liefen mit Palmzweigen durch die Gassen und schwangen sie hoch in den Händen, und die Frühlingssonne schimmerte über dem Städtchen. Am Hochaltar der Kirche flammten die Kerzen, und der Weihrauch umhüllte das Bild der mater dolorosa sowie den greisen Pfarrherrn in seinem glitzernden Ornate und seinen Akolythen, den jungen Benedictiner Reinhold. Er trug das weite Almutium über dem dunklen Ordensgewand, und die Leute waren sehr erfreut und erbaut, ihn statt des gewöhnlichen Ministrantenjungen am Altare dienen zu sehen.

Der Pfarrer hatte die Leidensgeschichte Christi vorgelesen; das Wunder der Verwandlung beugte Aller Kniee zur Erde nieder, und leise und zagend begann die Orgel wieder mit ihren gemüthstiefen Tönen. Fromme Geigen nahmen die seltsam weiche Melodie auf, und nun setzte eine Menschenstimme ein, metalltönig und glockenrein, und sang, was einst Jerusalems Bewohner gesungen bei dem Einzuge des Herrn: „Benedictus qui venit in nomine domini — Gebenedeit, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna dem Sohne David’s!“

Es war eine Frauenstimme, und Reinhold durchschauerte es im tiefsten Herzen. Der weiche Hauch des Orients schien ihn zu umwehen, die Palmen zu rauschen über seinem Haupte; er sah im Geiste den Mittler in den Straßen der heiligen Stadt, reitend auf dem Füllen einer Eselin, und in diese frommen Gefühle hinein traf wie ein greller Blitzstrahl der Gedanke: das ist Eva’s Stimme. Die Röthe stieg ihm in’s Gesicht; sein Denken schweifte ab von dem heiligen Dienst; er versäumte es, die Kniebeugung des Priesters mitzumachen, und ärgerte sich wieder über seine Zerstreutheit, sodaß er verstimmt aus dem Gotteshause fortging.

Die Leute vor der Kirche grüßten ihn so ehrfurchtsvoll wie den Pfarrer selbst, und sie hatten ihn doch als kleinen, wilden Jungen unter ihren Augen aufwachsen gesehen; es kam ihm vor, als verdiene er diese Ehre nicht, und rasch, mit gesenkten Augen, ging er dem Elternhause zu.

Noch immer war er im Zwiespalt, ob er nicht Mittags sich bei dem Rittmeister entschuldigen sollte, aber des Vaters ernstes Wort und der Mutter Zureden entschied, und so ging er hinüber nach der grünumrankten Villa. Der alte Soldat war heiter, Eva unbefangen, freundlich, und so gab sich auch Reinhold dem Augenblick hin, und die harmlose Gemüthlichkeit des Studenten brach bei ihm durch. Da hob der Rittmeister sein Glas:

„Sie hätten doch nicht in die Kutte kriechen sollen, Reinhold. Sie wären ganz der Kerl gewesen, einmal ein Mädel glücklich zu machen — indeß, ’s ist vielleicht gut so, wenn auch einmal solch wackeres Blut in’s Pfaffenthum schlägt.“

Er stieß mit dem jungen Theologen an, der aber erschrak und fand mit einem Mal, daß sein Benehmen nicht seinem Stande gemäß gewesen sei; er wurde ernst und schweigsam. — Der Rittmeister hob die Tafel auf und zog sich zurück zu seinem Mittagsschläfchen.

Die jungen Leute blieben allein. Reinhold hatte sich entfernen wollen, aber das wäre unhöflich gewesen, und so blieb er, und das unbefangene Wesen des Mädchens, ihr nichtssagendes und doch anmuthiges Plaudern gab ihm Fassung und Stimmung wieder. Das Pianino stand in der Nähe des Fensters; einladend winkten die weißen Elfenbeintasten, und er bat Eva, zu spielen oder zu singen. Sie ließ sich nicht bitten; ohne Ziererei setzte sie sich an das schöne Instrument, und Reinhold ließ sich in dem Fauteuil nieder und sah, wie die weißen, schlanken Finger die volltönigen Accorde griffen. Sie sang, und wunderbar ergriff es den jungen Theologen; er hatte sich nicht getäuscht — das war dieselbe glockenklare Stimme, welche in der Kirche das „Benedictus“ gesungen. Es war eine ungemein einfache, volksthümliche Melodie, von welcher Paul Flemming’s altes, schönes Lied getragen wurde:

„Ein getreues Herze wissen,
Hat des höchsten Schatzes Preis;
Der ist selig zu begrüßen,
Der ein treues Herze weiß;
Mir ist wohl bei höchstem Schmerze,
Denn ich weiß ein treues Herze.“

Jeder Ton und jedes Wort schlich sich ihm hinab in die tiefste Seele, langsam, aber mit zwingender Gewalt, und es drängte ihn hinaus in die laue Frühlingsluft. Er mußte fortgehen, und wenn man ihn auch für ganz unhöflich gehalten hätte.

Ein getreues Herze! Wo hatte er ein solches, außer bei Vater und Mutter und bei dem weißhaarigen Pfarrer, aber wenn der Tod ihm diese nahm, dann stand er allein, allein. Es war ihm seltsam weh an dem Abend des Palmsonntags und doch wohl zugleich; er war zärtlich und gesprächig mit seinen Eltern, als wollte er sich dankbar bezeigen, daß ihre Herzen noch für ihn und mit dem seinen schlugen. Er saß bis spät in die Nacht mit ihnen zusammen, und von der Villa herüber klangen die Töne des Instruments, bald jauchzend, bald klagend, als ob auch dort eine Seele ihr innerstes Fühlen aussprechen wollte.

Die Passionswoche war angebrochen. Reinhold wich dem Anblicke Eva’s aus; sein Gemüth versenkte sich tief in die schmerzlichen Geheimnisse der Passion des Herrn; nur manchmal hörte er wie ist tiefster Seele die schlichte Melodie des Liedes von Paul Flemming; wie aus weiter Ferne klang es zu ihm heran mit schmeichelndem Locken; dann schüttelte er das Haupt, ergriff sein Brevier und versuchte, zu beten. Einmal hatte er indeß auch Lessing’s „Nathan“ wieder zur Hand genommen und hatte im dritten Aufzug den siebenten Auftritt gelesen, das ewigschöne Evangelium der Toleranz.

Der Gründonnerstag und Charfreitag, an welchen die katholische Kirche Alles aufbietet, um durch Feierlichkeit und Seltsamkeit der Ceremonien auf das Gemüth der Gläubigen zu wirken, da in schwarzbehangener Kirche keine Glocke klingt und keine Kerze brennt, außer den matten Lichtern am Grabe des Erlösers — sie ließen Reinhold ganz aufgehen in seinem Berufe, und er amtirte, soweit ihm gestattet, an der Seite des greisen Pfarrers.

Es war am stillen Freitag, Nachmittag in der vierten Stunde. Der Himmel war trübe, und feiner Regen sprühte nieder — das Städtchen war still, todtenstill. Da kam das Dienstmädchen aus der Pfarrei mit verweinten Augen und schluchzte es mehr heraus, als sie es sprach:

„Der Herr Pfarrer ist todt.“

Reinhold sprang entsetzt von seinem Sitze auf; er glaubte nicht recht gehört zu haben; er war bis vor Tische mit dem väterlichen Freunde zusammen gewesen — aber es war bittere, ernste Wahrheit: ein Schlagfluß hatte dem theuren Leben ein plötzliches Ende gemacht; um die dritte Stunde Nachmittags war er entschlafen.

Reinhold eilte nach dem Pfarrhause. Weinend kam ihm die bejahrte Wirthschafterin entgegen und führte ihn in das trauliche Studirzimmer. Trübe sah der graue Tag durch die Fenster herein; auf dem Tische flackerte unsicheren Scheins noch immer die Sterbekerze, und auf dem alten braunen Sopha lag der todte Pfarrer mit seinem gewohnten milden, freundlichen Gesichtsausdruck. Hier hatte der Tod wenig verändert, und das geschlossene Auge konnte ebenso gut das Zeichen ruhigen Schlafes sein. Reinhold faßte nach einer der auf der Brust liegenden Hände des Todten; sie war kalt und steif, und ihn überlief ein nie gekanntes Gefühl des Schauers; er tauchte seine Fingerspitzen in das kleine Weihwasserbecken und sprengte mit dem heiligen Naß dem Verstorbenen über das Gesicht, daß einige Tropfen wie große, helle Thränen darauf haften blieben; leise schluchzte die alte Gertrud in ihre vor die Augen gepreßte Schürze.

„Schlaf wohl, Du guter, wackerer Mann! Deine Thaten werden vor dem Throne Gottes für Dich zeugen. Gesegnet sei Dein Andenken!“ sagte der junge Benedictiner halblaut, Gertrud aber drückte ihm die Hand und sprach mit verhaltenem Weinen:

„Ja, er war gut, mehr als die Leute es wissen und zu wissen brauchen; die Armuth wird bitterlich weinen an seinem Sarge, aber am meisten habe ich verloren. Sie kennen es noch nicht aus Erfahrung, was es heißt, ein getreues Herze wissen.“

Reinhold zuckte zusammen; er dachte an das Lied von Paul Flemming, und die alte Haushälterin fuhr fort:

Sehen Sie, ich habe den Todten da gekannt, wie er noch ganz jung war, als einen frischen Studenten, und ich habe ihn lieb gehabt — heute kann ich’s ja wohl sagen, und wie er so daliegt, mag er’s immerhin hören. Wir waren Nachbarskinder und sind mitsammen aufgewachsen. Seine Mutter war eine fromme Frau, die durchaus einen geistlichen Sohn haben wollte, und Gustav hat das Opfer gebracht; die alte Frau hat’s nie erfahren, wie’s ihm manchmal schwer geworden ist, aber mir hat er’s erzählt, wenn er in die Ferien kam, wie geistlos sein Studium, wie beschränkt und engherzig seine Lehrer und Mitschüler seien. Er war eben einer von denen, welchen das überlieferte Wort

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_454.jpg&oldid=- (Version vom 10.7.2023)