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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Der Londoner Silbermarkt.

Wer sich in unserem rasch lebenden Jahrhundert, da Zeit Geld und Geld Zeit ist, den Luxus gestatten kann, zu Schiff und bei Tage in London anzukommen, den sollte die Furcht vor einer längeren Seefahrt, vor Schmutz, Unbequemlichkeit und auswandernden Schafen und Hämmeln als Mitpassagieren nicht bewegen, sich in einem Eisenbahncoupé der Hauptstadt des britischen Reiches zu nähern; denn nur wenn der Reisende an den zahllosen flachen Kähnen, imposanten Segelschiffen, gewaltigen Dampfern, an den ungeheuren Werften und den schier endlosen Waarenlagern vorbei die Themse hinaufdampft, dann empfindet er mit der Schärfe und Frische des ersten Eindrucks, daß er in die gewaltigste Handelsmetropole der Welt einfährt, daß er am Markte steht, wo vier Welten ihre Schätze tauschen. Ist er gelandet, hat er sich einer Droschke anvertraut, die in Reih und Glied mit den unübersehbaren Reihen von Karren, Kutschen und Omnibus vorwärtsstrebt und sich mit wunderbarer Geschicklichkeit durch den Wagen- und Menschenknäuel bewegt, dann führt ihn der Schwager in nicht allzulanger Zeit an einem viereckigen, einstöckigen, fensterlosen, rauchgeschwärzten Gebäude vorbei, welchem er wahrscheinlich keine Beachtung schenken würde, wenn ihm nicht wohlgenährte Portiers in einer ehrfurchterweckenden Livrée und mit unbeschreiblich würdevollen Gesichtern die Frage nach den Einwohnern desselben nahe legten. Wendet er sich an einen prosaischen Menschen, so wird er unfehlbar die Antwort erhalten: Das ist die Bank von England. Vielleicht führt ihn sein Schicksal an eine poetische Natur, und dann wird ihm die Erwiderung, daß dort König Mammon wohne, der entweder der Vater, Sohn oder Milchbruder des Gottes Mercur sei und bei dem geräuschvollen Leben in der Stadt und im Hafen seine Hand im Spiele habe. Besagter Poet meint damit zweifellos nicht, daß König Mammon nur eine Residenz besitze. Wie jeder große Fürst hat er mehrere Hoflager, aber nur eine officielle Hauptstadt; denn Niemand kann leugnen, daß der große König überall loyale Unterthanen zählt, obwohl uns Allen seit unserer frühesten Jugend gelehrt worden ist, Schätze zu sammeln, welche der Rost und die Motte nicht verzehren, obwohl wir in unseren Schulaufsätzen die Menschen beschworen haben, ihr Herz nicht an die Güter zu hängen, welche das Leben vergänglich zieren, und obwohl wir schon in Quarta dargelegt haben, daß alle Uebel und Leiden aus dem menschlichen Golddurste stammen.

Unter Golddurst verstanden wir natürlich die ungeregelte Begier nach Geld, mochte sich dieser Trieb auf Kupfer, Silber, Gold, schäbige Fünfgroschenstücke oder nagelneue Vereinsthaler richten. Hätte Jemand der strengen Anklage gegen unser Jahrhundert dadurch zu entgehen versucht, daß er behauptet hätte, er empfinde nur den Durst nach Silber, so würden mir ihm unfehlbar erwidert haben, daß wir den Ausdruck Golddurst gewählt, weil es der edlere, und daß auch der Silberdurst verwerflich sei.

Nebenbei bemerkt, war es in der That nöthig, das Streben nach dem Besitz edler Metalle Silberdurst zu nennen, wenigstens so weit das letzte Jahrzehnt in Frage kommt, da die Goldproduction in jener Zeit gesunken ist (ein berühmter Gelehrter in Wien, Professor Süß, hat sogar die düstere Prophezeiung ausgesprochen, daß die Tage des Goldes gezählt seien), während die Production des Silbers in demselben Grade stieg.

Während die Goldausbeute in den fünf Jahren von 1866 bis 1870 etwa 2700 Millionen Mark betrug und von 1871 bis 1875 auf etwa 2400 Millionen Mark herunterging, stieg die Silberproduction von 1200 Millionen Mark in dem Quinquennium 1866 bis 1870, auf 1700 Millionen Mark in dem Jahrfünft 1871 bis 1875. Wenden wir uns daher mit der Treulosigkeit, welche nun einmal in der von Grund aus verderbten und bösen Menschennatur liegt, von der sinkenden Größe ab und heften wir unsern Blick auf das steigende Gestirn!

Noch immer werfen Central- und Süd-Amerika große Mengen Silber auf den Londoner Silbermarkt. In den letzten Decennien haben die Gruben von Comstock in Nevada reiche Erträge geliefert, die jedoch nicht bestimmt abzuschätzen sind. Die amerikanischen Delegaten der letzten Pariser Münzconferenz gaben sie auf 33 Millionen Dollars für das Jahr 1870 an. Statistiker und Edelmetallhändler haben sie auf das Vierfache dieser Summe berechnet.

Die Aufnahme der Baarzahlungen in Nordamerika hat einen guten Procentsatz des dort gewonnenen Silbers absorbirt, und bedeutende Mengen werden von San Francisco direct nach Ost-Asien verschifft, aber ein großer Bruchteil dieses Silbers verläßt den neuen Erdtheil noch immer mit dem Bestimmungsorte London, nachdem es in den Minenländern geschmolzen und in Barrenform gegossen worden ist. Nehmen wir von dem auf dem Oceane hoffentlich sicher herüberschwimmenden Silber für einen Augenblick Abschied und fragen wir uns, welche Umstände gerade London zum Sitze des Silbermarktes gemacht haben, ist es doch so weit von den Fundstätten des Erzes entfernt!

Schon die geographische Lage bestimmt England zum Zwischenhändler zwischen Ost und West und London zum Weltmarkte. Der sich über jeden Platz der Erde erstreckende Handel Englands, die zahlreichen, in allen fünf Welttheilen zerstreuten Colonien führten natürlich zu mannigfachen finanziellen und commerciellen Beziehungen mit der Hauptstadt. Ueber sechszig coloniale und fremde Banken haben ihre Filialen in London, und außerdem werden manche Bestellungen und Zahlungen durch Londoner Kaufleute und Banken vermittelt, da Niemand gern im directen Handelsverkehr mit wenig bekannten ausländischen Firmen steht und sich lieber eines Londoner Hauses als Mittelsperson bedient.

So ist London der große Markt wie für jeden Handelsartikel, so auch für Silber, und ein Ort für große internationale Zahlungen, das clearing-house der Welt geworden. An keinem Orte sind so bedeutende Summen verleihbaren Capitals vorhanden. Vielleicht hat ihm auch die größere Sicherheit vor Kriegsgefahr eine unvergleichliche Stellung schaffen helfen. Gesetzt, Paris wäre im Jahre 1870 der große Geldmarkt der Welt gewesen, welche furchtbaren Folgen müßte die Einschließung der Stadt gehabt haben!

Doch kehren wir zu unseren Edelmetallsendungen zurück!

Sobald ein Westindienfahrer im Londoner Hafen oder in Southampton oder Liverpool angekommen ist und in Kisten und Kästchen wohlverpackte Edelsteine, Gold- und Silberbarren an die englische Küste geführt hat, sendet die Bank von England einige ihrer Beamten ab, um die Schätze in Empfang zu nehmen. Alle Edelmetallsendungen aus überseeischen Ländern werden nämlich zur größeren Sicherheit an die Bank von England adressirt, und die Händler und Agenten können sie erst dort in Empfang nehmen. Wer in der City einem der mit zwei oder vier Pferden bespannten Wagen begegnen sollte, welche die wenig umfangreichen, aber schweren Edelmetalle zur Bank transportiren, der wird, ohne zu wissen, was für Waaren an ihm vorüberrollen, keine Ahnung von den ungeheuren Werthen haben, welche an das Bullion-Office[1] der Bank abgeführt werden. Das Bullion-Office liegt auf der Rückseite der Bank in Lothbury Street. Nachdem sich eins der großen Thore geöffnet hat, wandern Edelsteine, Gold- und Silberbarren und Silberdollars in die Bankkeller hinab.

Besagtes Bullion-Office möge man sich nicht etwa als ein schönes, mit allem modernen Comfort ausgestattetes Zimmer vorstellen! Mit seinem gewölbten Dache, einigen Pulten und Wagen bietet es einen durchaus ernsten und fast ärmlichen Anblick dar. Nur nach der Ankunft eines Westindienfahrers erheitert sich seine düstere Physiognomie, soweit sich die Physiognomie eines solchen Gemaches erheitern kann. Dann erscheinen die Empfänger der Edelmetalle, und die Bedienten sind eifrig damit beschäftigt, die Barren und Münzen aus den Kellern heraufzuholen. Die Bank übernimmt es gegen eine mäßige Provision, die angekommenen Sendungen zu wägen. Dann erklingt den ganzen Tag über das Gerassel der Geldstücke, welche in die kupfernen Wagschalen geschüttet und wunderbar rasch gewogen werden. Zum Zählen ist natürlich keine Zeit.

Aber, wird man fragen, genügt denn das Wägen, um den Werth zu ermitteln? Könnte ein Barren nicht inwendig von Eisen sein und nur eine dünne Silberschicht auf der Oberfläche enthalten? Allerdings! Aber darum wird auch jeder Barren, wenn er nicht von einer Firma geliefert wird, die sich eines durchaus ehrlichen Namens erfreut, noch einmal umgeschmolzen. Darauf wird er mit den feinsten Instrumenten auf seinen Feingehalt untersucht. Die Wissenschaft ist heutigen Tages so weit fortgeschritten, daß die Untersuchung eines kleinen Stückchens, welches vom Barren abgeschlagen wird, zur Prüfung genügt. Erst wenn diese Probe den

  1. Bullion nennt man ungemünztes Gold oder Silber. Früher hieß Bullion die königliche Münze, in welche Gold und Silber, das nicht probehaltig war, eingeliefert wurde.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_467.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2023)