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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

bemerkt, die niederländischen Küsten einst eine ganz andere Bildung als heute aufzuweisen hatten, und wir vermögen das Entstehen und die allmähliche Formation dieses Meerbusens fast Schritt vor Schritt zu verfolgen, wennschon manche Einzelheiten noch immer in Dunkel gehüllt oder streitig sind. Da jedoch die Geschichte der Zuydersee mit jener des Niederrheins unzertrennlich verschlungen ist, so werden wir des besseren Verständnisses halber auch die letztere mit der nachfolgenden Darstellung verbinden müssen.

Im Alterthume, zur Zeit der Römer, bestand die „Zuydersee“ noch nicht in ihrem gegenwärtigen Umfange. Der Name deutet jedenfalls auf friesischen Ursprung, da das Attribut „südlich“ nur vom Standpunkte Frieslands aus zutrifft; der mittelalterliche Name ist „lacus Almeri“ oder „Almari“. Wohl aber war schon zur Römerzeit ein See, „Flevo“ genannt, vorhanden, und in Willibald’s „Leben des heiligen Bonifacius“ wird erzählt, daß Letzterer über ein stillstehendes Wasser („stagnum Almeri“) gezogen sei. Hieraus darf gefolgert werden, daß die Zuydersee zu jener Zeit, das heißt im achten Jahrhundert nach Christus, noch keinen Meerbusen mit Ebbe und Fluth darstellte und daß damals der Durchbruch der Nordsee zwischen Stavoren und Enkhuizen ebenfalls noch nicht stattgefunden hatte, wennschon eine Verbindung mit der Nordsee durch eine schmale Meerenge bestanden haben mag. Ebenso war damals Friesland von der heutigen Provinz Nordholland noch nicht getrennt, sondern erst im dreizehnten Jahrhundert erhielt die Zuydersee im Wesentlichen ihre jezige Gestalt, wobei es sich natürlich von selbst versteht, daß schon frühere Ereignisse und Durchbrüche ihre definitive Bildung vorbereiten halfen. Im Jahre 839, am St. Stephanstage (26. December), überströmte eine gewaltige Wasserfluth ganz Friesland, sodaß sie beinahe die Höhe der Dünen erreichte, und wahrscheinlich hat damals schon ein theilweiser Durchbruch der Nordsee stattgefunden; eine zweite große Ueberfluthung aber trat im Jahre 1170 ein, in Folge deren die Meereswellen sogar bis nach Utrecht vordrangen, wo man bei dieser Gelegenheit Seefische unmittelbar vor den Stadtmauern fing.

Weitere Ueberschwemmungen werden sodann aus den Jahren 1195, 1203, 1237, 1250 und 1282 gemeldet, obwohl die gedachten Jahreszahlen, der sich häufig widersprechenden Angaben wegen, auf chronologische Genauigkeit keinen Anspruch machen können. Ob sonach, wie Manche behaupten, die Zuydersee schon im neunten Jahrhundert, und zwar in Folge der oben erwähnten Ueberfluthung von 839, im Wesentlichen ihre gegenwärtige Ausdehnung erhalten, oder ob allmählich jede neue Sturmfluth immer mehr Land von dem nördlich von Enkhuizen-Stavoren gelegenen Gebiete fortgespült habe, bis endlich im dreizehnten Jahrhundert auch noch das letzte Stück Land zwischen Stavoren und Enkhuizen hinweggerissen und so die Nordsee mit dem Flevosee zur Zuydersee vereinigt wurde, ist heute mit Sicherheit nicht mehr festzustellen. Nimmt man jedoch Letzteres an, so wäre den vorhandenen spärlichen Urkunden zufolge das Jahr 1282 aller Wahrscheinlichkeit nach als der eigentlich entscheidende Zeitpunkt und sozusagen als das Geburtsjahr der Zuydersee zu betrachten, die sonach gerade heuer das sechste Jahrhundert ihrer Existenz zurückgelegt hätte.

Dieselbe Ungewißheit wie hinsichtlich der Zuydersee herrscht auch bezüglich der näheren Bestimmung der Richtung, welche früher der Rhein in seinem Laufe durch die Niederlande genommen hat. Unbestreitbar ist die Thatsache, daß in jenen Zeiten der Niederrhein einen von seinem gegenwärtigen verschiedenen Lauf gehabt und wenigstens mit einem bedeutenden Arme seine nördliche Richtung beibehalten hat; allein die Angaben über die Mündung dieses Armes in die Nordsee sind außerordentlich verworren und widersprechend.

Während nach der Darstellung des Römers Plinius die heutigen Niederlande ein Delta bildeten, welches er eine Rheininsel nennt, die von zwei in nördlicher und westlicher Richtung strömenden Armen des Flusses gebildet wurde, läßt der spanische Geograph Pomponius Mela, ein Zeitgenosse des Kaisers Claudius, den Rhein durch den Flevosee in die Nordsee münden. Die letztere Annahme dürfte schon deshalb die meiste Wahrscheinlichkeit für sich haben, weil die Yssel und die Vecht, welche beide in die Zuydersee münden, thatsächlich gar nichts Anderes sind, als wahre Rheinarme mit veränderten Namen. So viel steht jedenfalls fest, daß der eigentliche Rhein längs Arnheim, Wageningen, Renen bis nach Wyk-by Duurstede gelaufen ist, wo er sich mit dem Lek vereinigte, um von hier aus über Woerden, Bodegraven und Alfen die Richtung nach Utrecht zu verfolgen. Ob der Rhein zwischen Alfen und Leyden ein festes Bette gehabt habe, ist mit Sicherheit nicht mehr zu bestimmen. Vermuthlich bildete er auf dieser Strecke verschiedene Eilande, während die Frage, ob er sich auch weiter bei Katwyk durch die Dünen einen Weg in die Nordsee gebahnt habe, wiederum sehr zweifelhaft, aus triftigen Gründen jedoch füglich zu verneinen ist. Ueber den uns hier vorzugsweise interessirenden nördlichen Stromarm giebt übrigens der schon erwähnte Pomponius Mela ziemlich deutlichen Aufschluß. „Nicht weit von der See,“ sagt er, „theilt sich der Strom; aber das linksseitige Bett behält den Namen Rhein bei bis zu seinem Ausfluß in’s Meer. Zur Rechten dagegen ist der Fluß zuerst eng und sich selten gleich; dann, seine Ufer gewaltig ausdehnend, ist er nicht mehr ein Strom, sondern ein großer See.“

Hiermit wäre also der Flevosee deutlich genug gekennzeichnet und zugleich gesagt, daß der Rhein mit ihm in Verbindung stehe.

„Nachdem er die Felder bedeckt hat,“ fährt Mela fort, „wird er Flie genannt, und nachdem er ein Eiland dieses Namens umflossen, fällt er, nunmehr wieder ein Strom geworden, in die See.“

Aus den angeführten beiden Stellen haben nun zwar Manche entnehmen wollen, daß schon zu Tacitus’ Zeiten die Zuydersee nicht allein ein großer See, sondern sogar schon ein offenes Meer gewesen sei, das vor seiner Eindeichung von Zeit zu Zeit seinen Busen vergrößert und durch das Abnagen der Ufer seine Grenzen mehr und mehr ausgedehnt habe: gleichwohl aber dürfte aus jenen Stellen mit Sicherheit nur so viel hervorgehen, daß damals ein starker Rheinarm nach Norden gegangen und den Flevosee durchflossen habe; dieser nördliche Arm aber wird, wie schon bemerkt, heute durch die Yssel repräsentirt.

Daß auch die Gestaltung der friesischen und nordholländischen Küsten während der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung eine von der gegenwärtigen sehr abweichende gewesen sein muß, ergiebt sich aus vorstehender Darstellung von selbst. Wir wissen, daß durch Stürme und Hochfluthen Dünen hinweggefegt und Inseln verschlungen wurden, daß sich von Zeit zu Zeit Sandbänke vor dem Strande und in den Fahrwässern ansetzten, von denen viele sich dauernd über Wasser erhielten und später eingedeicht wurden, während andere wieder verschwanden oder an andere Punkte sich verschoben, wodurch sich selbstverständlich auch jedesmal das Fahrwasser und die Meeresströmung an der Küste verändern mußten; da jedoch verläßliche historische Berichte über die nähere Art und Weise dieser Vorgänge fehlen und namentlich von den damaligen Strandbewohnern selbst aus naheliegenden Gründen keinerlei urkundliche Aufzeichnungen vorliegen, so sieht man sich auch in dieser Beziehung meistens auf bloße Muthmaßungen beschränkt.

Schon die Frage, ob die holländische Nordseeküste bereits vor dem elften Jahrhundert ebenso wie heute von einer Reihe selbstständiger, vom festen Lande losgetrennter Inseln umgeben gewesen, oder ob letztere mit dem Festlande zusammengehangen und vielleicht nur durch unbedeutende Untiefen von ihm getrennt gewesen seien, wird von den Chronisten verschieden beantwortet. Die Alten, besonders Plinius und Strabo, kennen und erwähnen eine Anzahl Inseln am „Cimbrischen Vorgebirge“, und ebenso werden im früheren Mittelalter verschiedene solcher Eilande namhaft gemacht, wobei jedoch zu bemerken ist, daß der von ihnen eingenommene Flächenraum damals ungleich bedeutender gewesen zu sein scheint, als gegenwärtig. Vor Allem gilt dies von den Inseln Texel und Wieringen, und gerade diese beiden sind es, die sich, wie ein Blick auf die Karte lehrt, schlagbaumähnlich quer vor die Einmündung der Zuydersee in die Nordsee legen, und die sonach als die nächstgelegenen Trümmerreste der früher bestandenen festländischen Verbindung zwischen den heutigen Provinzen Nordholland und Friesland zu betrachten sind. –

Ernst und schweigsam, düster und fast melancholisch wie die flachen Ufer der Zuydersee, ist auch der Charakter der Menschen, welche die umliegenden Gebiete bewohnen. Rauschenden Vergnügungen abhold, finden sie fast nur im winterlichen Schlittschuhlauf über unabsehbare beeiste Flächen ihre Lust und ihre Erholung. Aber es ist ein stolzer und überaus stattlicher Menschenschlag, diese Friesen, ein echter und unverfälschter Urtypus nordländischer Kraft und germanischen Selbstbewußtseins – man betrachte nur die kräftigen, schlankgewachsenen Gestalten auf der trefflichen Abbildung, die unsern Artikel schmückt! Der Jahrhunderte lange Kampf mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_815.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2023)