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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Die statistischen Zahlen, deren Ergebnisse schon traurig genug sind, treffen hier noch nicht einmal das wahre Verhältniß, indem sie nur die direct und klar hervortretenden Krankheitserscheinungen, nicht aber die weniger an die Oberfläche tretenden, aber um so bedenklicheren allgemeinen Störungen des Organismus registriren. Dazu kommt, daß das junge Hirn auch bei dem Verständniß der Erscheinungen der Außenwelt noch weit mehr angestrengt wird, als der erfahrene und erwachsene Mensch. Abgesehen von der physischen Schädigung, wird daher oft auch eine geistige Ueberreizung eintreten; die Ueberfülle der geistigen Nahrung kann nicht verdaut werden: die Weisheit des Lehrers „geht zu einem Ohre des Schülers hinein, zum andern wieder heraus“. Man frage jeden jungen Mann, der das Gymnasium mit dem Zeugniß der Reife verläßt, wie viel er von dem, was er gelernt haben sollte, wieder vergessen hat, und man wird erstaunliche Resultate zu hören bekommen. Sollte es da nicht im Interesse des Erziehungszweckes geboten sein, die Fülle des Einzuprägenden von vornherein auf dasjenige Maß zu beschränken, welches der Lernende dauernd in sich aufzunehmen vermag?

Das ist aber nur die eine Seite der Sache: das Einprägen von „Dingen, die man doch wieder vergißt“, das „Zu viel“ für den Geist. Wir kommen hierauf noch näher zurück. Die Sache hat aber noch eine andere Seite: die durch dieses „Zu viel“ herbeigeführte Unmöglichkeit, auch dem Körper diejenige Sorgfalt zuzuwenden, die ihm gebührt und die man ihm nicht ungestraft entziehen darf. Diese Seite ist es vornehmlich, welche die Hartwich’sche Broschüre und die dadurch veranlaßte populäre Bewegung in’s Auge gefaßt hat.

Ganz abgesehen von dieser Bewegung[1] ist die Tragweite und Bedeutung dieser Frage auch von einer Seite anerkannt worden, welche einen praktischen Erfolg derartiger Bestrebungen in etwas nähere Aussicht stellt. Der preußische Cultusminister von Goßler hat nämlich unterm 27. October dieses Jahres einen Erlaß an sämmtliche königlichen Provinzial-Schulcollegien und die Regierungen gerichtet, in welchem er mit Nachdruck die ethische und physische Bedeutung eines einsichtig geleiteten Turnunterrichts, welcher mit Bewegungsspielen aller Art verbunden sein müsse, hervorhebt. Dazu genüge, so erklärt der Minister ausdrücklich, ein geschlossener Turnraum noch nicht, da gewisse Uebungen und Spiele in einem solchen gar nicht zur Ausführung kommen könnten: vielmehr müsse überall das Augenmerk darauf gerichtet sein, daß auch ein freier Turnplatz für die Schuljugend vorhanden sei. Ausführlich wird dann die erneute Anregung dieser Seite des Schulunterrichts von dem Minister motivirt. Er sagt hierüber:

„Die Ansprüche der Erwerbung von Kenntnissen und Fertigkeiten sind für fast alle Berufsarten gewachsen, und je beschränkter damit die Zeit, welche sonst für die Erholung verfügbar war, geworden ist, und je mehr im Hause Sinn und Sitte und leider oft auch die Möglichkeit schwindet, mit der Jugend zu leben und ihr Zeit und Raum zum Spielen zu geben, um so mehr ist Antrieb und Pflicht vorhanden, daß die Schule thue, was sonst erziehlich nicht gethan wird und oft auch nicht gethan werden kann. Die Schule muß das Spiel als eine für Körper und Geist, für Herz und Gemüth gleich heilsame Lebensäußerung der Jugend mit dem Zuwachs an leiblicher Kraft und Gewandtheit und mit den ethischen Wirkungen, die es in seinem Gefolge hat, in ihre Pflege nehmen, und zwar nicht blos gelegentlich, sondern grundsätzlich und in geordneter Weise.“

Auch auf den Nutzen und die Zweckmäßigkeit von gemeinsamen Schulspaziergängen, Turnfahrten u. dergl. hat der Minister wiederholt und nachdrücklich hingewiesen.

Mit je aufrichtigerer Freude und Genugthuung wir diese Meinungsäußerung des Herrn Ministers begrüßen, um so schmerzlicher empfinden wir doch in seinen Ausführungen eine unzweifelhafte Lücke: so energisch derselbe nämlich den Nutzen und die Nothwendigkeit der erwähnten Maßregeln betont, so hat er es doch vermieden, darauf einzugehen, wie die Durchführung derselben mit dem bestehenden Lehrplane zu vereinigen sei. Er hat die Nothwendigkeit der von ihm besprochenen Einrichtungen mit scharfer Präcision erwiesen, ohne doch die Möglichkeit derselben eingehender zu erörtern. Und es kann doch keinem Zweifel unterliegen, daß eine zweckentsprechende Reform auf diesem Gebiete undurchführbar ist, wenn nicht für die Ausbildung des Körpers durch eine entsprechende Aenderung des Lehrplanes Zeit gewonnen wird: mit den ein bis zwei Stunden wöchentlich, die bei dem bisherigen Unterrichtsplan Alles in Allem auf die körperliche Ausbildung entfallen, ist eine durchgreifende Reform nicht möglich.

So erblicken wir in dem Erlasse des Ministers zwar ein erfreuliches Zeichen dafür, daß man auf Seiten der Regierung dem Princip der von Hartwich in Fluß gebrachten Bewegung freundlich gegenübersteht. Aber für erreicht halten wir den Zweck der letzteren doch noch keineswegs; denn eben auf die organische Reform des Unterrichts überhaupt legt Hartwich mit vollem Recht den größten Nachdruck, und wir wollen nicht versäumen, ihm gerade hierin theils durch Darstellung seiner eigenen Pläne, theils durch einige neue Ergänzungen seiner Ansicht zu Hülfe zu kommen.

„Wo bleibt,“ so fragt Hartwich mit Recht, „bei einer acht- bis zehnstündigen Arbeitszeit, welche unseren Kindern zugemuthet wird, die Möglichkeit körperlicher Erholung in Spaziergängen und Spielen in Gottes freier Luft, wo die unbefangene Freude an der Natur und ihren Reizen? Ist es nicht bereits so weit gekommen, daß mancher Zögling unserer höheren Lehranstalten das Jünglings- respective Jungfrauenalter erreicht hat, ohne jemals einen Wald oder ein blühendes Kornfeld gesehen zu haben? Wer wollte sich darüber wundern, daß die Unfähigkeit, sich an der Natur zu erfreuen, immer mehr bei unserer Jugend um sich greift, daß die Gesichter unserer Knaben und Mädchen so altklug und erschrecklich ernst auszusehen anfangen? Ist es nicht eine furchtbare und zu ernstestem Nachdenken herausfordernde Thatsache, daß zu den Selbstmorden, welche sich in unserer Zeit in so trauriger Masse vermehrt haben, Kinder bis zu zwölf Jahren hinab ein erhebliches Contingent stellen? Das muß anders werden, wenn wir nicht in demselben Maße körperlich zurückgehen wollen, wie wir uns geistig rapid entwickelt haben. Und es kann anders werden, ohne daß wir von der erreichten geistigen Höhe auch nur einen Schritt zurückzuweichen brauchen.

Ahmen wir doch auch in dieser Beziehung das classische Alterthum nach, auf das wir in unserem geistigen Bildungsgrade mit Recht ein so großes Gewicht legen!

Greifen wir doch ja nicht auf den thörichten Grundsatz einer verkehrten asketischen Richtung unseres Mittelalters zurück, die den Körper nur als eine lästige und störende Fessel des Geistes und seine Venachlässigung [sic! Vernachlässigung] und Abstumpfung als ein sittliches Verdienst betrachtet! Die Natur läßt sich nicht ungestraft verhöhnen: sie rächt sich bis in die spätesten Generationen hinein. Der Discus, das Cricket, der Wettlauf, die Bewegung in freier Luft muß wieder gleichberechtigt neben die Pflege des Verstandes und Gedächtnisses treten. Unsere Jugend wird williger und besser lernen, wenn sie wieder spielen und sich der Alles belebenden freien Natur erfreuen darf; die Zeit, welche systematisch und verständig auf diese Dinge verwandt wird, sie wird durch die größere geistige Frische und Regsamkeit mehr als eingebracht werden.“

Dies zu erreichen ist der Zweck, den sich der von Hartwich zu begründende „Central-Verein für Körperpflege“ gestellt hat. Als nächstes anzustrebendes Ziel und als die Grundbedingung für die Erreichung desselben stellt er die gesetzlich zu fixirende gänzliche Abschaffung des Nachmittagsunterrichtes hin. Der Verein besitzt in Düsseldorf bereits ein nicht unbedeutendes Wiesenterrain, welches der Jugend im Sommer als Spielplatz dient, im Winter zu einer künstlichen Eisbahn umgeschaffen wird. Die helle Begeisterung und Freude, mit welcher die Schuljugend die ihr hier gebotene Gelegenheit zu fröhlichem Spiel in freier Luft ergriffen hat und die aus allen Gesichtern wiederstrahlt, ist der beste Beweis dafür, wie segensreich solche Maßregeln sind. Und dazu kommt noch ein nicht zu unterschätzendes rein ethisches Moment: der Lehrer tritt – was ja bei unserer gegenwärtigen Lehrmethode zur Unmöglichkeit

geworden ist – dem Schüler menschlich näher; er wird statt

  1. Herr Amtsrichter Hartwich hat neuerdings in einer öffentlichen Erklärung ausdrücklich constatirt, daß der Erlaß des Ministers nicht etwa durch seine Broschüre und die dadurch hervorgerufene Bewegung veranlaßt worden, vielmehr von langer Hand im Ministerium vorbereitet gewesen sei. Wir wollen übrigens an dieser Stelle nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß der Stadt Düsseldorf das Verdienst gebührt, diese hochwichtige Frage schon vor einem Jahrzehnt angeregt zu haben. Damals war es der „Düsseldorfer Anzeiger“, der in einer Reihe von Artikeln für eine größere Pflege der körperlichen Ausbildung unserer Jugend eine Lanze brach. Leider verhallte damals die vereinzelte Stimme völlig, heute aber bieten die gemeinsame Wirksamkeit des ministeriellen Erlasses und die unseren privaten Kreisen entsprungenen Bestrebungen begründete Aussicht auf Erfolg.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_828.jpg&oldid=- (Version vom 26.8.2023)