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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Zeit genügen sollte. Ein Gönner, dessen Name heute verschollen ist, bot ihm hierzu hülfreiche Hand, und schon am 18. Juni 1784, also gerade vor hundert Jahren, konnte der Grundstein zum ersten Institutsgebäude und damit zur Erziehungsanstalt Schnepfenthal gelegt werden. Salzmann hatte zu dieser Feierlichkeit die Glieder seiner Familie im Wohnzimmer des Gütchens versammelt und las ihnen tief ergriffen die Urkunde vor, die er in den Grundstein legen wollte. Dann verschloß er sie in eine Blechkapsel und ging mit den Seinigen auf den Bauplatz, wo alle Arbeiter und viele Bewohner der Umgegend einen Kreis geschlossen hatten. Nach einer schlichten Rede legte er jene Kapsel in den ausgehöhlten Eckstein, warf mit einer Kelle gelöschten Kalk darauf und ließ von jedem Gliede seiner Familie dasselbe thun. Unerwartet stimmte ein Musikcorps, welches der Maurermeister Sahlender heimlich bestellt hatte, die Choralmelodie an: „Auf Gott und nicht auf meinen Rath will ich mein Glücke bauen.“ Es war ein unvergeßlicher Moment, der vielen Augen Thränen entlockte.

Unter den ersten Lehrern, die Salzmann für seine neue Erziehungsanstalt gewann, befand sich der berühmte Turnlehrer Chr. Gutsmuths, und einer der ersten Schüler war Karl Ritter, der spätere Begründer der wissenschaftlichen Geographie. Im Spätherbste 1785 wurde die Anstalt feierlich eröffnet.

Dennoch waren anfangs der Lehrer fast ebenso viele wie der Schüler, und erst im Jahre 1788 erreichte die Zahl der letzteren das Ziel von zwölf Zöglingen, welches sich Salzmann ursprünglich gesteckt hatte. Seit 1789 jedoch, nachdem der kleine Erbgraf Georg, nachmaliger Fürst von Schaumburg-Lippe, in Schnepfenthal eingetreten war, steigerte sich diese Zahl zusehends und war im Jahre 1803 bis zu einundsechszig Zöglingen angewachsen. Im Jahre 1791 mußte bereits ein zweites Haus gebaut werden und als auch dieses nicht lange ausreichte, wurde die rasch emporblühende Anstalt durch den Ankauf von zwei neuen Gebäuden abermals erweitert.

Christian Gotthilf Salzmann.
Nach einem alten Stich auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Gotthilf Salzmann, in seinem höheren Alter wie ein Patriarch verehrt, starb am 31. October 1811, im achtundsechszigsten Jahre seines verdienstvollen Lebens und im achtundzwanzigsten seiner segensreichen Wirksamkeit in Schnepfenthal. Seine entseelte Hülle ruht im Eichwäldchen der Hardt[1], unweit des Turnplatzes. Auf seinem Grabe prangt kein Denkmal – er wollte es nicht! Nur einen Hollunderstrauch haben die Seinen darauf gepflanzt, wie er es angeordnet hatte, weil die getrockneten Blüthen dieses Strauches ihre heilkräftige Wirkung oft an ihm bewährt hatten.

Nach Salzmann’s Tode wurde die Erziehungsanstalt von seinem Sohne Karl im Geiste des Verstorbenen fortgeführt, ihm folgte im Jahre 1848 der Enkel des Gründers W. Ausfeld und heute leitet sie thatkräftig Dr. Wilhelm Ausfeld, der Sohn des Letztgenannten. In der Pfingstwoche haben sich in Schnepfenthal die früheren Schüler und Freunde der Anstalt zu frohem Jubelfeste vereinigt, und sie konnten sich überzeugen, daß trotz der im Laufe der Zeit nöthig gewordenen Aenderungen die Grundsätze der Erziehung dieselben geblieben sind.

Ja, Salzmann’s frischer, freier, fröhlicher und humaner Geist hat sich in seiner Stiftung bis zum heutigen Tage lebendig erhalten. Es ist der Geist der Humanität und geläuterter Religiosität, wie er sich aus der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts emporgerungen und vornehmlich in der Schule der Philanthropie zur Geltung gekommen. Salzmann aber, wenn auch kein pädagogischer Reformator, so doch ein scharfdenkender Erzieher von Gottes Gnaden, war kein sclavischer Anhänger dieser Schule, sondern hatte sich ein eigenes System gebildet, das er kraft seines organisatorischen Talentes in Schnepfenthal zur Ausführung brachte, indem er Rousseau’s und Basedow’s Excentricitäten zu vermeiden wußte und Pestalozzi’s bahnbrechende Ideen in seinen Erziehungsplan aufnahm. Die harmonische Entwickelung und Uebung der körperlichen und geistigen Anlagen und Kräfte, und vornehmlich die Heranbildung der Jugend für’s praktische Leben, war das Ziel, dem er mit methodischem Geschicke zustrebte. Und so legte er auf körperliche Abhärtung und Gewandtheit, aber auch auf entschiedene Charakterbildung ein großes Gewicht.

Der Geist der Anstalt offenbart sich schon in dem traulichen Familienleben, das in derselben herrscht. „Vater Salzmann“ wurde der Gründer genannt, „Du und Du“ – das ist die Sprache, in welcher noch heute die Schüler mit dem Director und seiner Gattin verkehren. Die Zöglinge aber sind unter einander gleichberechtigte Brüder, wie verschieden auch die Stellung ihrer Eltern ist. Dazu trägt schon die gleichmäßige einfache Kleidung bei, welche die Anstalt liefert: scharlachrothe Jacken mit kurzen frackähnlichen Schößen, und in früheren Zeiten gelbe Westen und gelbe Hosen. Diese charakteristische Uniform wird jedoch seit Jahren nur noch Sonntags und bei festlichen Gelegenheiten getragen. Salzmann aber legte so hohen Werth darauf, daß er Prinzen und Grafen zurückwies, weil deren Eltern für ihre Söhne eine standesgemäße Kleidung beanspruchten.

Auch die körperliche Abhärtung wird nicht mehr so streng gehandhabt wie sonst, wo man sich in frühester Morgenstunde, gleichviel ob Sommer oder Winter, am offenen Hofbrunnen wusch, wo man sich Entsagungen durch Fasten und Nachtwachen auferlegen mußte, wo man sich mit bloßen Füßen im Schnee herumtummelte, wo man auf dem einen Teiche Schlittschuh lief, im andern aber badete, nachdem das Eis mit Stangen eingestoßen worden u. dergl. m.

Unter allen Leibesübungen aber stand und steht das Turnen obenan, wogegen Reiten und Tanzen wenig mehr geübt wird. Ist doch Schnepfenthal die Pflanzstätte der systematischen Turnkunst, wie sie, Gutsmuths ausgebildet, sodaß Jean Paul empfiehlt, „um jedes Haus herum ein kleines gymnastisches Schnepfenthal zu bauen“. Dadurch und durch die vielfachen Spiele und Feste, die hier abgehalten wurden, wußte Salzmann schon früher das zu erreichen, was jetzt in der Jugenderziehung allgemein erstrebt wird. Auch der Handfertigkeitsunterricht, der heute als eine neue pädagogische Errungenschaft gepriesen wird, in Schnepfenthal aber von jeher an der Tagesordnung war, wird noch gegenwärtig vorzugsweise in den Wintermonaten betrieben.

Und ebenso wird nach wie vor eine strenge Disciplin gehandhabt, wenn auch, nach Luther’s Mahnung, neben der Ruthe stets der Apfel liegt. Wie wäre sonst das junge Blut im Zaume zu halten?

Den wechselnden Ansichten und Verhältnissen entsprechend, ist im inneren und äußeren Leben der Anstalt allmählich Vieles anders geworden, als es der ehrwürdige Stifter geplant. Aber der Geist, der sie von Anfang an belebte, ist bis zum heutigen Tage derselbe geblieben und durch nunmehr 1352 Zöglinge befruchtend in die verschiedensten Kreise des Lebens getragen worden. Aehnliche Anstalten sind in den verflossenen hundert Jahren mehrere entstanden, den meisten aber ist nur eine kurze Lebensdauer beschieden gewesen, während Schnepfenthal unter der Direction des Urenkels des Begründers, Dr. Wilhelm Ausfeld, noch in voller Thätigkeit steht. Und so mögen denn günstige Sterne Schnepfenthal in’s zweite Säculum hinüberleuchten!



  1. „Gartenlaube“ 1859, S. 212.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_403.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)