Seite:Die Gartenlaube (1885) 075.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

zu, die ihr matt die Arme entgegenstreckte. Ein einziger prüfender Blick, ein Befühlen der Kinderstirn und sie wußte, daß hier ein schweres Erkranken im Anzuge war.

„Das kommt davon, wenn man mit solch einem jungen Seelchen umgeht, wie mit einem schlechten Instrument, auf dem man herumdreschen kann, wie man will!“ sagte sie derb in rückhaltslosem Schmerz und unsäglicher Bitterkeit.

Sie hüllte die Kleine in einen Plaid, den sie mitgebracht hatte, nahm sie auf den Arm und reichte Herrn und Frau Lenz die Hand. „Dank, vielen Dank!“ Mehr brachte sie beim Verlassen des Zimmers nicht heraus.

Drunten im Hofe aber löste sich eine hohe Gestalt aus dem Dunkel und trat ihr entgegen. Die kleine Margarete schrak zusammen und ein Beben ging durch ihren Körper, als zwei Hände nach ihr griffen – es war der Papa, der sie mit einer ungestümen Bewegung an sich zog.

„Mein liebes Kind, mein gutes Gretchen, erschrick nicht! Ich bin’s, der Papa!“ sagte seine tiefe Stimme vibrirend. Er hielt sie fest an seiner schwerathmenden Brust, während er sie über den Hof trug, und in dem hellerleuchteten Hausflur, wo alle Hausbewohner auf ihn und das Kind einstürmten, hob er Schweigen gebietend die Hand und ging an den Verstummenden vorüber nach der Schlafstube der Kinder. – –

„Na, dann ist’s ja gut! Zigeuner haben sie nicht gestohlen, und umgekommen ist sie ja sonst auch nicht, Gott sei gelobt und gepriesen!“ sagte Bärbe nachher in der Küche zu den Anderen und nahm den „ersten Ohnmachtsbissen“ nach so vielen Angststunden. „Aber sag’ mir nur Keiner, daß nun auch die Geschichte aus und vorbei ist! Wer den armen Wurm mit seinen schlenkernden Aermchen und Beinchen gesehen hat, wie ihn der Herr vorbeitrug, der weiß genug ... Was hab’ ich heute Nachmittag gesagt? ‚Ein Unglück giebt’s‘, hab ich gesagt ... Aber da heißt’s immer: ‚die abergläubische Bärbe, der Unglücksrabe, die Jammerbase!‘ J ja, spotten kann ein Jeder, das ist keine Kunst, aber beweisen, ja beweisen, das steht auf einem anderen Blatte. Wollen ’mal sehen, wer Recht behält, die klugen Leute, die an gar nichts glauben, oder die alte Bärbe mit ihrer Einfältigkeit! So Eine, wie die mit den Karfunkelsteinen, die wird sich wohl für Nichts und wider Nichts in dem Gang da oben rumtreiben! Es ist nicht das erste Mal, daß solch ein armes, unschuldiges Kindchen ‚nachgeholt‘ wird – denkt an mich – mit unserem armen Gretchen geht’s schief!“

Bei diesen Worten legte sie die Gabel mit dem angespießten Bissen wieder hin und verhüllte ihr Gesicht mit der blauleinenen Schürze. – –

Und wochenlang hatte die Küchenprophetin die schmerzliche Genugthuung, Tag für Tag mit gesteigertem Nachdruck auf „das, was sie gesagt“ hinweisen zu können. Bei all ihrem wirklichen Kummer dachte sie doch schon – ganz im Stillen zwar, aber wehmutsvoll ausmalend – an den schönsten Blumenkranz, der zu haben, und an das goldgedruckte Carmen mit dem Namen „Barbara Wenzel“ auf breitem, weißem Atlasband, als die tüchtige Natur des Kindes siegte und eine plötzliche glückliche Wendung eintrat.

Nun war wieder Sonnenschein im Hause. Herr Lamprecht, der in den Stunden der Gefahr fast nicht vom Bette des Kindes gewichen war, richtete seine gebeugte Gestalt auf, und in Blick und Geberden brach sein feuriges Naturell wieder durch, ja, die Leute meinten, er habe in seinem ganzen Leben nicht so „siegerhaft“ und herausfordernd ausgesehen, wie eben jetzt. Was aber die Anderen im Hause freudig bemerkten, das erbitterte die alte Bärbe förmlich. Er hatte nämlich seinen Vorsatz, die spukhaften Appartements der verstorbenen Frau Dorothea für eine Zeit selbst zu bewohnen, ausgeführt; auch der Korridor war durch eine Thüre vom Flursaal abgeschlossen worden ... Für die alte Köchin war es fast noch schlimmer als eine Gotteslästerung, wenn sie ihn droben ungenirt die verblichenen Gardinen zurückziehen und in sündhafter Herausforderung an das Fenster treten sah. Von der huschenden weißen Frau sprach auch Niemand mehr – natürlich! – durch eine dicke Bohlenthüre konnte doch kein Christenmensch sehen! Aber es wollte auch durchaus der Morgen nicht kommen, an welchem man den Herrn mit umgedrehtem Genick in seinem Zimmer fand – im Gegentheil, es war, wie gesagt, als lebe er neu auf.

Und der Großpapa, der in der „Unglücksnacht“, von Hermsleben kommend, gar nicht vom Pferde gestiegen, sondern gleich nach der Stadt weiter geritten war, er schäkerte und scherzte auch wieder in seiner derbjovialen Weise, aber an dem Tage, wo sein Liebling zum erstenmal die ganzen Nachmittagsstunden außer Bett sein durfte, da brannte ihm doch der Boden unter den Füßen, und er ritt auf und davon. Der infame Schreihals, das verzogene Beest in der oberen Etage jage ihn aus seinen eigenen vier Pfählen, sagte er noch lachend vom Pferde herunter; und die Frau Amtsräthin stand oben am Fenster und streichelte ihren Papagei und reichte ihm mit zierlich gespitzten Fingern ein Stückchen Zucker.

Zwei Tage nachher reiste auch Herr Lamprecht fort – auf lange, sagten seine Leute im Komptoir ... Die kleine Margarete sah verwundert in sein Gesicht, als er sich abschiednehmend über sie bog und ihr die herrlichsten Dinge zu schicken versprach. So habe sie den Papa noch nie gesehen, so „schrecklich vergnügt“ und so wunderlich mit seinen funkelnden Augen, meinte sie.

„Das glaub’ ich gerne,“ sagte Tante Sophie. „Er freut sich, daß sein kleiner Ausreißer wieder gesund ist, und wenn er die Geschäftstour hinter sich hat, dann geht er nach Italien, und wohl noch weiter. Er will sich wieder einmal die Welt ansehen, und er hat Recht! Nach der Angstzeit ist ihm der Spaß zu gönnen – wir Alle haben auf lange genug. Ja, Gretel, an den Bleichtag werd’ ich denken, so lange mir ein Auge im Kopfe steht!“ –

Und die Linden vor der Weberei hatten sich inzwischen sommerlich verdunkelt; aus dem Rosenlaub leuchteten nur ganz vereinzelt, wie vom Himmel gefallene Blutstropfen, die Blüthen des Jacqueminot, und auf den glitzernden Wassern des Brunnenbassins schwammen schon die ersten herabgewehten herbstgelben Blättchen, als die kleine Genesene ins Freie entlassen wurde. Es war Vieles anders geworden, am verwunderlichsten ober war es doch, daß der Papa da oben gewohnt hatte, wo nun, nach seiner Abreise, gerade gründlich gelüftet wurde. Die Fenster standen weit offen, man sah die wundervolle Malerei am Plafond des großen, dreifensterigen Wohnzimmers, und im anstoßenden Gemach den Baldachin eines grünseidenen Himmelbettes. Und auf den Fenstersimsen standen und lagen behufs des Abstäubens allerhand moderne Gegenstände, Rauch-Utensilien, Statuetten, Albums und ganze Stöße von Zeitungen – Herr Lamprecht hatte sich die verfehmten Räume vollkommen wohnlich und nach Bedürfniß eingerichtet.

Die Kleine sah nachdenklich hinauf – aus dem Zimmer mit dem herrlichen Deckengemälde war die Verschleierte geschlüpft, es war die zweite der Thüren im Korridor gewesen, hinter welcher der kleine Fuß im zierlichen Hackenschuh zum Vorschein gekommen war. Seit sie wieder gesund war, wußte sie das Alles ganz genau, allein sie sprach nicht mehr darüber, aus Verdruß, weil Niemand auf ihr Fragen und Erzählen einging – sie wußte ja nicht, daß die Aerzte erklärt hatten, die „Vision“ im Korridor sei bereits der Ausbruch ihrer nervösen Krankheit gewesen. Und so wurde der ganze Vorgang mit seinen unglücklichen Folgen todtgeschwiegen, wie auch nie wieder ein Wort über das Unterbringen der „unmanierlichen Grete“ in einem Institut verlautete.

Auf dem offenen Gang des Packhauses war es auch todtenstill, nur der lustige Sommerwind fuhr manchmal durch das grünschuppige Geschlinge des Pfeifenstrauches, stäubte es muthwillig aus einander und erregte ein flüsterndes Gepläpper der zurückfallenden Blätterzungen ... In der hübschen Stube voll Resedodüfte ober saß gewiß die Frau mit dem lieben zärtlichen Muttergesicht und trauerte; denn die schöne Blanka war nun auch fort; sie war heute früh abgereist und „wohl wieder in Kondition nach dem weltfremden Engelland gegangen“, wie Bärbe heute Morgen zu Tante Sophie gesagt hatte; und darüber war die kleine Margarete aus ihrem halben Morgenschlaf emporgefahren und hatte still, damit die Tante und Bärbe es nicht hören sollten, in ihr Kissen hineingeweint. In diesem Augenblick aber, wo Reinhold in das Haus gegangen war, um seinen Baukasten zu holen, und das kleine Mädchen allein unter den Linden saß, kam die alte Köchin über den Hof her, die Hand unter der Schürze und mit einem wahren Inquisitorenblick die Fenster der obersten Etage im Vorderhaus streifend.

„Fräulein Sophie weiß drum und will, daß ich Dir’s geben soll, Gretchen; aber die Frau Amtsräthin braucht’s nicht gerade

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_075.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2019)