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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

stand ein mächtiger Strauß von Levkoyen und Reseda, wohl der letzte für dieses Jahr aus Tante Sophiens eigenem kleinen Garten vor dem Thore – wie das Alles anheimelte!

Margarete warf Hut und Mantel auf einen Stuhl, schwang sich auf den hohen Fenstertritt und sah hinaus, über den gashellen Markt hin. ... Alles wie sonst, da sie noch in den Kinderschuhen gesteckt und die scharfen Steinkanten des holprigen Pflasters unter den Sohlen gefühlt, da der kleine, zum Theil noch von uralten Vertheidigungsmauern eifersüchtig umschlossene Straßenkomplex, Stadt B. genannt, für sie die Welt bedeutet hatte, in der sie um jeden Preis leben und sterben gewollt! ... Alles wie sonst, der bemooste Neptun auf dem Marktbrunnen, das Eckhaus schräg gegenüber mit seinem Steinbild über der gewölbten Thür – welches besagte, daß der Hausbesitzer zum Bierbrauen berechtigt sei – die schrille, kleine Glocke auf dem Rathhausthürmchen, die eben halb acht Uhr schlug, das ferne Klingeln verschiedener Schellen an den Ladenthüren, und auch die edle Wißbegierde der guten Landsmänninnen, die dort in einem Trupp an der Straßenecke standen und, schlafende Kinder in ihre weiten, runden Kattunmäntel gewickelt, lange Hälse machten; sie konnten sich nicht satt sehen an dem Kronleuchter, der droben in Lamprecht’s guter Stube brannte, und zischelten wacker durch einander – der richtige, rechtschaffene Klatsch an der Straßenecke!

Die junge Dame verließ ihren hohen Standpunkt am Fenster und lachte – sie machte es ja nicht besser als die schnatternde Gesellschaft da drüben, sie huschte ja jetzt auch hinauf, um zu sehen, was Alles dieser Kronleuchter beschien. ...




8.

Das lautlose Huschen wurde ihr nicht schwer. Ein neuer, breiter Läufer von dickflaumigem Teppichstoff verschlang jeden Fußtritt auf der Treppe. Vor Margarete her eilte der Livréebediente mit einer Platte voll Selterswasserflaschen hinauf; er bemerkte die junge Dame nicht, und droben ließ er achtlos die Thüre offen, weit genug für einen Flederwisch wie sie, meinte sie und huschte durch den Spalt.

Der Flursaal war spärlich beleuchtet; nur aus der weit offenen Salonthüre strömte der Kerzenglanz und theilte als breiter Streifen den mächtigen Raum in zwei Hälften, und in dem Moment, wo der Bediente mit seinen Flaschen in die offene Salonthüre trat, schlüpfte Margarete hinter ihm weg in den dunkelnden Hintergrund und trat in eine der Fensternischen.

Sie konnte einen großen Theil des Salons überblicken; und es war wirklich, als säße sie in der Theaterloge und sähe ein interessantes Lustspiel ... Der ersten Liebhaberin – das war die junge Fremde dort an der Tafel zweifellos – konnte sie gerade in das Gesicht sehen; es war ein hübsches, volles, ruhig lächelndes Gesicht auf schneeweißem, rundem Halse und breiten, üppig schönen Schultern. Die junge Dame saß so, daß für die Beschauerin draußen der alte berühmte Lamprecht’sche Tafelaufsatz, ein mächtiges, mit Früchten und frischen Blumen beladenes Kauffahrteischiff von gediegenem Silber, dicht neben ihr zu stehen schien – das gab ein farbenprächtiges Bild; frischer waren die Blumen auch nicht, als der blonde Mädchenkopf mit seinem strahlenden Teint ... Also, das war sie, diese Heloise von Taubeneck, die gegenwärtig eine so dominirende Rolle bei „Amtsraths“ spielte! ... Nun, verwunderlich war es gerade nicht, daß die Großmama über diese neue Beziehung so „ganz und gar aus dem Häuschen“ sein sollte, wie Tante Sophie sich in Berlin ausgedrückt hatte. Eine Nichte des Herzogs – sei es auch nur die Tochter des verstorbenen apanagirten Prinzen Ludwig aus einer unebenbürtigen Ehe – dereinst Schwiegertochter nennen zu dürfen, das übertraf ja weit, weit Großmamas kühnste Wünsche! Wie sie wohl dies unmenschliche Glück trug?

Nun, die ehrgeizige alte Dame lehnte denn auch dort an der Schmalseite der Tafel mit stolzseligem Gesichtsausdruck und die Hände fast andächtig gefaltet, in ihrem Stuhl und verwandte kein Auge von der blonden Schönheit neben dem Sohn, dem einzigen, vergötterten, der in rapider Geschwindigkeit Staffel um Staffel im Staatsdienst erstieg und mit neunundzwanzig Jahren schon „ein Herr Landrath“ war. Wie oft hatte Margarete als Kind ihn aus Papas Munde spottweise „unser zukünftiger Minister“ nennen gehört! Nun war er in der That dem hochgesteckten Ziel nahe, wie Tante Sophie in Berlin erzählt. Sie hatte gesagt, man munkele bereits im Lande, „daß ein Wechsel in Sicht sei – der bisherige Chef des Ministeriums kränkele und habe den Wunsch, nach dem Süden zu gehen. Schlechte Leute aber behaupteten, Seiner Excellenz thue keine Ader weh; die Diagnose rühre nicht vom Arzt, sondern von einer hohen Persönlichkeit her, und der Herr Landrath Marschall würde, trotz seiner wirklich ausgezeichneten Fähigkeiten, keinesfalls den Harrassprung in die hohe Stellung machen, wenn nicht eben – jenes Fräulein Heloise von Taubeneck wäre. „Ja, die Welt ist gar schlecht mit ihrer losen Zunge!“ Damit waren diese neuesten Nachrichten aus der Heimath unter bedauerlichem Achselzucken geschlossen worden; aber der Schalk hatte der Tante aus jedem Augenwinkel gelacht. Uebrigens sei Herbert wirklich ein vornehmer Mann geworden – hatte sie sich beeilt hinzuzusetzen – wie geboren zu einer hohen Beamtenstellung, wo man sich gegen Krethi und Plethi abschließen müsse ...

Nun ja, er war ein hübscher Mann geworden, eine rechte Diplomatenfigur mit seiner vornehmen Sicherheit in Thun und Wesen. Wenn sie ihm in der Fremde plötzlich begegnet wäre, da hätte sie vielleicht gestutzt, aber auf den ersten Blick ihn sicher nicht erkannt ... Sie hatte ihn lange nicht gesehen, es mochten wohl sieben Jahre darüber vergangen sein. Als Student hatte er seine Ferienzeit meist auf Reisen verlebt, und wenn er ja einmal nach Hause gekommen, da war sie dem „eingebildeten Studiosus“, der immer noch keinen Bart und deßhalb auch kein Anrecht auf den diktatorisch geforderten Onkeltitel gehabt, klüglich aus dem Wege gegangen, und er hatte nie gefragt, wo sie stecke – selbstverständlich! –

Nun war ihm aber der Bart gewachsen, ein schöner, dunkler, am Kinn leicht getheilter Vollbart, und aus dem mißachteten Studenten war ein Herr „Landrath“ geworden, der noch dazu mit vollen Segeln auf seine Verheirathung lossteuerte und binnen kurzem eine Tante an seiner Seite haben würde; da konnte man mit gutem Gewissen „Onkel“ sagen – ja wohl, unbedenklich! Das junge Mädchen in der dunklen Fensterecke lächelte schelmisch und ließ die Augen weiter schweifen.

Bei Betreten des Flursaals war ihr ein lautes Stimmendurcheinander entgegengekommen; man hatte sehr lebhaft gesprochen, und sie meinte auch, Großpapas geliebte, rauhe Stimme herausgehört zu haben. Mit dem Eintritt des Bedienten jedoch war es stiller geworden, und jetzt sprach nur eine einzige, ganz angenehme, wenn auch etwas fette Frauenstimme; sie schien gewissermaßen zu dominiren und in der Modulation lag, besonders wenn es galt, eine eingeworfene Frage zu beantworten, eine merkliche Herablassung. Margarete konnte die Sprecherin nicht sehen; sie mochte dem Papa zur Rechten sitzen, während Fräulein von Taubeneck links seine Nachbarin war.

Die unsichtbare Dame erzählte einen Vorfall bei Hofe, hübsch und anschaulich, und unterbrach sich nur manchmal mit einem „nicht wahr, mein Kind?“ – was die schöne Heloise stets mit der Antwort „gewiß, Mama!“ prompt und gleichmüthig bestätigte. So war es also Frau Baronin von Taubeneck, die Wittwe des Prinzen Ludwig, welche neben dem Papa saß ... Wie stolz er aussah! Die finstere Melancholie, welche die Tochter bei jedem Wiedersehen aufs Neue erschreckt hatte, schien heute wie weggewischt von den schönen, wenn auch stark alternden Zügen. Die Großmama war somit nicht die Einzige, die sich in den Strahlen des über der Familie aufgehenden Glücksgestirmes sonnte ...

Frau von Taubeneck beschrieb eben mit gesteigerter Lebendigkeit, wie das Pferd des Herzogs alle Anstrengungen gemacht, seinen Reiter abzuwerfen, als sie plötzlich aufhorchend verstummte. Ueber ihre ziemlich laute Stimme hinweg schwebte ein Klang in das Zimmer herein, ein langausgehaltener Ton – er schwoll und schwoll und blieb doch geisterhaft zart und unirdisch, bis er plötzlich abriß, um eine Terz tiefer einzusetzen.

„Magnifique! Was für eine Stimme!“ rief Frau von Taubeneck halblaut.

„Bah – ’s ist ein Junge, gnädige Frau, ein aufdringlicher Bengel, der Einem seine Kehltöne an den Kopf wirft, wo man geht und steht!“ sagte Reinhold, der an der Tischecke neben der Frau Amtsräthin saß – seine schwache knabenhafte Stimme bebte im verhaltenen Aerger.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_091.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2019)