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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


mehr die Ueberzeugung Bahn, daß Sicherung des deutschen Sprachgebietes in diesem Reiche zunächst ihre wichtigste politische Aufgabe ist. Und stets werden sich doch auch die leitenden Kreise daselbst der Ueberzeugung nicht verschließen können, daß möglichst sorgfältige Abgrenzung der Sprachgebiete, Regelung der nationalen Verhältnisse nach Maßgabe dieser Gebiete und unter Feststellung der unvermeidlichen neutralen Punkte, sodann aber Verhängung einer Art nationalen Landfriedens behufs Hintanhaltung jeder gewaltthätigen Verrückung des status quo die einzig richtige Auslegung des Nationalitätenprincipes für Oesterreich und zugleich das einzige Mittel ist, um dauernd Ordnung in diesem Reiche zu schaffen.

Da scheinen nun freilich der Hoffnung auf eine solche Lösung der Nationalitätenfrage in Oesterreich jene Schlußfolgerungen Hartmann’s entgegen zu stehen, welche dem Sinne nach dahin gehen, daß in konstitutionellen Staaten die Majoritäten entscheiden, und daß in Oesterreich-Ungarn also, wo das Jahr 48 und die liberale Doktrin der Deutschen konstitutionelle Zustände geschaffen haben und die Slaven die Majorität bilden, jede Regelung der Verhältnisse ausgeschlossen ist, welche die Ansprüche der slavischen Majorität nicht befriedigt, das heißt nicht zur Slavisirung dieses Reiches führt. Wenn man aber schon Zukunftspolitik auf Grund eines einfachen Rechenexempels treiben will, so sollten doch wenigstens die Ziffern, mit denen man rechnet, richtig sein. Es ist jedoch unrichtig, daß die Slaven in Oesterreich-Ungarn die Majorität bilden, da nach dem Ergebnisse der letzten Volkszählung die Slaven zu den Nichtslaven in diesem Reiche sich verhalten wie 177:201.

Allerdings bilden die Nichtslaven keine homogene Masse, und manche Elemente unter ihnen, wie die Deutschen und Magyaren, stehen augenblicklich in nationalen Fragen in einem gewissen Gegensatze zu einander. Allein dieser Gegensatz ist kaum so groß, wie jener zwischen einzelnen der slavischen Nationen Oesterreichs, so zwischen den Polen und Ruthenen, und der Gedanke an eine Art von Ausgleich der nationalen Interessen innerhalb der ersteren Gruppe, behufs gemeinsamer Abwehr des slavischen Angriffes, liegt nicht gar so fern, daß er für eine Zukunftspolitik nicht mit in Betracht gezogen werden müßte. Unrichtig ist es weiter, wenn Hartmann in Ungarn nur ein magyarisches Viertel der Bevölkerung einer slavischen Mehrheit gegenüberstellt. Nach der letzten Volkszählung betragen die Magyaren im ungarischen Staatsgebiete 41,16, die Slaven dagegen nur 29,86 Procent der gesammten Bevölkerung, womit auch alle von Hartmann an die These der slavischen Majorität in Ungarn sich knüpfenden Schlußfolgerungen hinfällig werden.

Wohl sollten diese Auseinandersetzungen an und für sich genügen, um nachzuweisen, wie wenig Gewicht den niederschmetternden Darlegungen in dem fraglichen Artikel beizumessen ist. Indessen dürfte es sich empfehlen, das Gespenst des Panslavismus noch etwas näher zu betrachten, das einen so wichtigen Faktor in den Kombinationen Hartmann’s abgiebt. Es sei dabei ganz abgesehen von der Frage, ob ein übermäßig ausgedehnter, zumeist dünn bevölkerter panslavischer Staat mit seinen vielen inneren Ungleichheiten und den in Rußland jetzt schon üppig wuchernden Keimen der Zersetzung überhaupt eine furchterregende Angriffsmacht wäre; auch das Bedenken soll nur gestreift werden, daß es doch unbestimmt ist, ob der Zug zur Bildung großer Nationalstaaten, welcher der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die Signatur gieht, dem nächsten Jahrhundert noch eigenthümlich sein wird. Aber das muß eindringlich betont werden, daß die Hindernisse, welche sich der Bildung eines großen panslavischen Nationalstaates durch Rußland entgegenstellen, nicht nur verhältnißmäßig weit größer sind, als dies bei Italien und Deutschland der Fall war, sondern an und für sich derart sind, daß die Aussicht auf den panslavischen Staat bei einer sorgfältig abwägenden politischen Berechnung nur ganz nebenbei in Betracht gezogen werden kann. Denn hier handelt es sich nicht um die Vereinigung verschiedener Stämme einer Nation, sondern um verschiedene Nationen, die nur in mühevoller und äußerst langwieriger Arbeit zu einer Einheit verschmolzen werden könnten. Nicht allein die großen Verschiedenheiten in Sprache, Schrift und Kirche zwischen den Russen und den meisten übrigen Slaven wären dabei zu überwinden, sondern auch der ausgesprochene Hang der Südslaven zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit, der alte Haß der Polen, der Kulturdünkel der Tschechen etc. Alle diese inneren Verschiedenheiten und Gegensätze sind so groß, daß eine energischere Anziehungskraft Rußlands auf die österreichischen Slaven und die Südslaven ohne eine gewaltsame Unterdrückung dieser, die ja auch ohne Umwandlung Oesterreichs in einen südwestslavischen Föderativstaat zu vermeiden ist, sich gar nicht entwickeln kann. Die einsichtigeren Slaven sind sich dessen auch gar wohl bewußt, und wenn von Slaven selbst ab und zu das Gespenst des Panslavismus heraufbeschworen wird, so mag dies bei Manchen von ihnen wohl auf einer naiven Phantasterei beruhen, den Meisten derselben aber handelt es sich dabei nur um die Vorführung eines Zweckgespenstes, dessen Wirkung sie mit schlauem Lächeln beobachten. Und glaubt denn Hartmann in der That, daß die Entstehung eines panslavischen Staates, wenn die Bedingungen hierfür so günstig lägen, wie er anzunehmen scheint, verhindert werden könnte durch Schwächung oder gar Aufsaugung der die Slaven Oesterreichs trennenden und der freien Aktion nach außen beraubenden Volkselemente und Bildung eines südwestslavischen Föderativstaates? Im besten Falle würde damit doch nichts Anderes erreicht werden, als eine Verzögerung, dann aber, nach Anschluß des slavisirten Oesterreich, durch Volksmasse und geographische Lage eine um so größere Gefährdung Deutschlands durch den neuen Staat.

Nicht unerwähnt darf schließlich bleiben, daß Hartmann in seinen zukunftspolitischen Kombinationen – in grellem Widerspruch mit den jüngsten Aeußerungen des Fürsten Bismarck über die politische Lage – mit der offenen Feindschaft Frankreichs gegen Deutschland und der versteckteren, nur des richtigen Augenblickes harrenden Gegnerschaft Rußlands gegen Deutschland und Oesterreich, sowie mit dem Indifferentismus aller übrigen Mächte Europas gegenüber den hieraus etwa entspringenden Händeln als mit für alle Zeiten gegebenen Faktoren rechnet. Wohl muß zugegeben werden, daß dies für die Politik der nächsten Zeit sehr wichtige Faktoren sind, allein wie viele solche Gegensätze gleichen sich im Lauf der Zeit aus, welche große Verschiebungen in der Stellung der einzelnen Mächte gegen einander hat Europa selbst in diesem Jahrhundert schon erlebt! Und wenn Hartmann den Panslavismus in Rechnung zieht, wer hindert dann Andere, ein Gleiches mit dem Pangermanismus zu thun? 105 Millionen Angehörige der germanischen Völkergruppe in Europa gegen 94 der slavischen! Oder, das hochkultivirte Westeuropa gegen das minder kultivirte Osteuropa! Heißt dies Alles nicht, sich in spekulative Spielereien verlieren?

Wer zu weit denken will, denkt oft zu kurz, und so fehlerhaft die Politik ist, die nur das Heute in Betracht zieht, so ist doch jene noch fehlerhafter, die über dem Ausblicke in eine nebelhafte Zukunft die Forderungen der Gegenwart vergißt. Und für ein Volk, das eben noch so Großes vollbracht, so Langersehntes erreicht hat, gehört unter diesen Forderungen die Wahrung der nationalen Ehre gewiß nicht in die letzte Reihe. Wie wenig es sich aber mit dieser vertrüge, wenn man in Deutschland sich anschickte, aus engherziger und noch dazu unbegründeter Furcht, aus kleinlichem und noch dazu falsch berathenem Egoismus die Stimme des Herzens zu ersticken und den Untergang von 10 Millionen von Brüdern als ein der eigenen Sicherheit gebrachtes Opfer zu fördern, um das „in ihnen gemordete Deutschthum“ durch ungestörten Vollzug der Germanisation der denn Deutschen Reiche zugehörenden Polen, Dänen und Franzosen „verjüngt wieder auferstehen“ lassen zu können, bedarf wohl einer weiteren Auseinandersetzung nicht.

Treu der Pflicht, aber auch treu dem Herzen, das ist der Standpunkt, den die nationalfühlenden Deutschen Oesterreichs seit der Auflösung des früheren, alle Deutschen umschlingenden politischen Verbandes den deutschen Angelegenheiten gegenüber eingenommen haben. Von diesem Standpunkte aus haben sie mit hingebungsvoller Theilnahme die Ereignisse des Jahres 1870 verfolgt und dieser Theilnahme jeden statthaften Ausdruck gegeben, und dem entsprechend wird auch in Zukunft alles in ihrem Herzen nachklingen, was den Brüdern in Deutschland das wechselnde Verhängniß bringt. Den Glauben daran, daß ein ähnliches Empfinden in den Herzen der Angehörigen des Deutschen Reiches lebt, wird auch die jüngste Kundgebung Hartmann’s nicht zu erschüttern vermögen.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_151.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)