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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

gab, in welcher Poesie, bildende Kunst und Wissenschaft bei uns schlummerten und die Musik allein dafür zeugte, daß in dem deutschen Volke noch gesundes inneres Leben wohnte.

Mehr als Händel dürfen wir Sebastian Bach den Unsrigen nennen. Er blieb im Lande als Schüler wie als Meister und sein ganzes Wesen war reicher mit specifisch deutschen Elementen durchflochten, als das seines großen Landsmannes und Zeitgenossen. Seine Werke sind in Folge dessen auch den fremden Völkern schwerer eingänglich als die Händel’s.

Geboren wurde Johann Sebastian Bach am 21. März 1685 zu Eisenach, der Lutherstadt. Sein Vater, Ambrosius Bach, war Stadtmusikus, und der Onkel Sebastian’s, Johann Christoph Bach, spielte die Orgel in derselben Georgskirche, vor deren Portal jetzt Donndorf’s schönes Monument steht. Die Familie, in Thüringen altheimisch und weitverzweigt, machte ihrem musikalischen Namen (b-a-c-h) von jeher alle Ehre. Sie lieferte dem Ländchen eine große Zahl von Kapelldirektoren, Kantoren, Organisten, Hof-und Rathsmusikanten. In Erfurt nannte man die Stadtmusici schlechtweg „die Bache“, und noch lange Zeit nachdem längst Niemand mehr von der Familie dabei war. Einige der Vorfahren und Verwandten Sebastian’s sind auch als Komponisten beachtenswerth. Bei allen Gliedern des Geschlechtes aber ging die musikalische Tüchtigkeit mit den bürgerlichen Tugenden Hand in Hand. Man hielt zusammen, hielt auf Ehre: die Bachs waren geachtete und angesehene Leute und erfreuten sich Alle geordneter Verhältnisse; einzelne, wie Sebastian’s Vater, auch ziemlicher Wohlhabenheit.

Es ist anzunehmen, daß der junge Sebastian Bach frühzeitig mit dem Musiciren begann. Den Grund im Geigenspiel hat er wahrscheinlich beim Vater gelegt, und vielleicht gehörte er auch der seit den Zeiten des Reformators berühmten Eisenacher Kurrende mit an. Die Kindheit unseres Künstlers verlief nicht ungetrübt. Im neunten Jahre verlor er die Mutter, schon ein Jahr darauf auch den Vater. Sebastian kam nach Ohrdruf ins Haus eines älteren Bruders und trat ins Lyceum ein. Wie alle lateinischen Schulen jener Zeit hatte auch das Ohrdrufer Lyceum einen Chor, in welchem zur musikalischen Ausbildung, im Gesang sowohl wie auch namentlich auf den Instrumenten, reichliche Gelegenheit geboten war. Lehrerseminare, Institute für Kirchenmusik und ähnliche Anstalten kannte man damals nicht – die nöthigen Kantoren und Organisten gingen aus den Chorschülern der Gymnasien und Lyceen hervor, und außer Bach haben auch die meisten anderen großen Musiker des 18. Jahrhunderts ihren Lehrkursus an dieser Stelle begonnen: Telemann, Graun, Naumann u. A. In litteris wird Bach kein schlechter Schüler gewesen sein, denn er zeigte sich noch in seinen späteren Jahren als ein firmer Lateiner. In der Musik aber müssen seine Fortschritte rapid gewesen sein, denn er hatte sehr bald seinen Lehrmeister, eben jenen älteren Bruder, der ihn im Klaviere besonders unterwies, überholt. Eine wohl verbürgte Anekdote berichtet uns, daß Letzterer dem Knaben, um vor ihm etwas voraus zu haben, ein Büchlein mit Orgelkompositionen berühmter Meister vorenthielt. Der junge Sebastian aber holte sich Nachts das Orgelbüchlein aus dem Gitter hervor und schrieb es beim Mondenscheine ab. Das ist die Energie des Genies, wie sie aus der Jugendgeschichte aller großen Männer spricht.

In seinem fünfzehnten Lebensjahre vertauschte Bach das Lyceum zu Ohrdruf mit der Michaelisschule zu Lüneburg und blieb hier bis zur Absolvirung der Prima. Die gewöhnliche höhere Karriere des Musikstudiums einzuschlagen, das heißt eine Universität zu beziehen oder nach Italien zu gehen, mußte sich Bach versagen. Eigentlich war schon seine Lüneburger Schulzeit eine Art Anstellung gewesen, denn er wurde dorthin als „Mettenschüler“ berufen und bezog als solcher ansehnliche Präbenden. Wie aus der Ohrdrufer Zeit besitzen wir auch aus der Lüneburger einige Kompositionen Sebastian Bach’s. Letztere sind schon reifer als die ersteren. Was sie charakterisirt, ist der Einfluß von Georg Böhm, einem der bedeutendsten Orgelmeister jener Zeit, der in Lüneburg wirkte und mit seinem jungen Landsmanne – auch Böhm war ein Thüringer – wahrscheinlich in persönlichem Verkehre gestanden hat. In der Chorbibliothek des Michaeliklosters fand Bach für seine Studien und Versuche einen ungewöhnlich reichen Schatz vorzüglicher Muster- und Meisterwerke, die er nach seiner Art fleißig benutzt haben wird. Einen förmlichen und richtigen Lehrmeister hat Bach nie gehabt: er besaß eine eigenthümliche Gabe, sich selbst zu bilden, wie sie gleich stark, und glücklich Autodidakten nur selten zu Theil wird. Alles Kennenswerthe, von dem er erfuhr, suchte er auf, sah es ab und machte es sich zu eigen. Aus der Menge der Vorbilder, welche er in dieser Weise durchnahm und überwand, ist ohne Zweifel die künstlerische Kühnheit und Freiheit, welche Bach auszeichnet, mit erwachsen.

Dieser immer wachsame und unbefangene Bildungstrieb begleitete Bach durch sein ganzes Leben, und noch in der Zeit, wo er längst ein Meister von abgeschlossener Individualität war, hat er es nicht verschmäht, sich um die Art von Hurlebusch und andrer Fachgenossen zu mühen, welche tief unter ihm standen. Aeußere Hindernisse für seinen künstlerischen Fortschritt wurden bewältigt, soweit dies menschenmöglich war: von Lüneburg aus ging er zu Fuß nach Hamburg, um die Meister Reinken und Lübeck zu hören, nach Celle, um in der herzoglichen Kapelle die französische Musik kennen zu lernen. In Arnstadt, wo er im Sommer 1703 als Organist an der „neuen Kirche“ angestellt wurde, sparte er sich von seinen 70 Thalern Gehalt eine genügende Summe ab, um ein Vierteljahr in Lübeck leben zu können und den berühmten Dieterich Buxtehude, sein Orgelspiel und seine weitbekannten Abendmusiken zu studiren. Eine dreifache Urlaubsüberschreitung, welche bei dieser Reise vorkam, ist einer der wenigen Fälle, durch welche der sonst streng gesetzliche Künstler seinen Behörden einen begründeten Anlaß zum Tadel bot. In Arnstadt verlebte er vier stille, fleißige Jahre. Er scheint sich hier infolge seiner Stellung zum Sängerchor zuerst auf dem Gebiete der Kirchenkantate versucht zu haben, und zwar in Anlehnung an den Führer der nordischen Komposition, den genannten Dieterich Buxtehude. Unter den Kompositionen, welche nachweislich in Arnstadt entstanden sind, sei das Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo (Capriccio zur Abreise seines geliebten Bruders) genannt, ein Klavierstück an treuherzigen und launigen Zügen reich und als ein vereinzelter Beitrag Bach’s zu der damals von Kuhnau in Leipzig vertretenen Programmmusik von besonderem Interesse. Zu den in Arnstadt am gräflich Schwarzburg’schen Hofe eingerichteten Opernaufführungen, welche von Schülern, Handwerkern und Beamten des Orts bestellt wurden, ist Bach in keine produktiven Beziehungen getreten.

Im Sommer 1707 siedelte Bach nach Mühlhausen über als Organist der Blasius-Kirche daselbst. Nach der Weise der Bachs dachte auch Sebastian frühzeitig an die Ehe, und kurz nachdem er den neuen Dienst angetreten, führte er seine Base Maria Barbara Bach als Gattin heim. Die „Kaiserliche freie Reichsstadt“ mit ihrer wohlgepflegten musikalischen Tradition bot unsrem Künstler einen vollen Wirkungskreis. Trotzdem blieb er nicht lange hier. Differenzen mit der pietistischen und kunstfeindlichen Geistlichkeit verleideten ihm das Amt und schon im Jahre 1708 finden wir ihn als Hoforganist und Kammermusikus in Weimar, wo er bereits im Jahre 1703 auf einige Monate als Violinist des Prinzen Ernst in Dienst gewesen war. Der Rath von Mühlhausen war und blieb dem Scheidenden sehr freundlich gesinnt. Auf seine Kosten wurde die einzige von den 400 Vokalkompositionen Bach’s gedruckt, welche während Lebzeiten ihres Verfassers im Druck erschien. Es ist die sogenannte Rathswahlkantate vom Jahre 1708: „Gott ist mein König“, eine merkwürdig zerrissene und ungleiche Komposition, aus welcher die Anfängerschaft, die Bach auf dem Gebiete der Orgelkomposition bereits eine Strecke hinter sich hatte, offen heraus sieht. Ihren fertigsten Theil bildet eine Fuge auf den Kaiser Joseph. Es war wieder ein Joseph, Joseph II., dessen Tod etliche achtzig Jahre später auch den jugendlichen Beethoven zur ersten vollen Entfaltung seines Genius trieb.

Der neunjährige Aufenthalt Bach’s in Weimar ist der für seine künstlerische Entwickelung entscheidende Abschnitt seines Lebens. Wenn man sehen will, wie rasch er hier der Meisterschaft entgegenging, so genügt es, mit der eben genannten Rathswahlkantate die Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, die unter dem Titel „Actus tragicus“ allgemein bekannt ist, zu vergleichen. Kaum mag man glauben, daß sie nur drei Jahre nach dem Mühlhäuser Werk entstanden ist! In Weimar war es, wo Bach die Kirchenkantate zuerst aus einem Stein des Anstoßes in ein Kleinod umbildete, dessen sich fortan auch die früheren Gegner freuten. Er verband sie fest mit den volksthümlichen Formen des Choralgesanges und durchtränkte diese mit der ganzen Fülle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_194.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2024)