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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Er legte die Hand unter ihr Kinn und blickte in ihre Augen. Sie antwortete nicht; aber er las die Bestätigung in dem thränenumflorten Blicke.

„So gern möchte man mich hier fortdrängen? So stark ist die Abneigung, Trudchen? – Und Du?“ Er fühlte, wie sie zitterte.

„O!“ sprach sie mit einer Heftigkeit, vor der Linden fast erschrak – „o – ich – siehst Du, es giebt Momente, wo ein Dämon Gewalt über mein Herz bekommt; ich bin hinein gelaufen im hellen Zorn, ich – ich weiß nicht mehr, was ich Alles gethan und gesagt habe – ich schäme mich jetzt; ich hätte still sein müssen, sie können uns ja gar nicht trennen, nein – sie können es nicht! Nun liegt Mama drüben in ihrem Schlafzimmer und die Sophie ist zu dem Doktor geschickt. Ach, Franz, ich habe so lange Jahre Alles geduldig getragen – ist es denn so große Sünde, wenn endlich das unterdrückte Gefühl durchbricht, wenn einmal die Selbstbeherrschung mich verließ? Ich bin heftig gewesen – ich habe mich stets für so ruhig gehalten – wie ein Sturm rissen die Worte mich hin, die ich gehört; ich weiß nicht, wie schwer meine Vorwürfe waren gegen die Mutter. – Und heute, gerade heute, wo sie den einzigen Sonnenstrahl hinaustrugen, der für mich im Hause war!“

„Wir wollen zur Mama gehen, Trudchen, und sie bitten, uns zu verzeihen, daß wir uns so lieb haben – komm!“

Er hatte das so gesprochen, um sie zu trösten, und weil er fühlte, daß irgend Etwas geschehen müsse. Am liebsten hätte er das Mädchen an die Hand genommen und sie hinausgeführt über diese Schwelle.

Sie machte sich los und sah ihn erstaunt an. „Um Verzeihung bitten? Deßhalb?“

„Trudchen, verstehe mich nicht falsch!“ Er wurde fast verlegen vor ihren großen verwunderten Augen. „Ich meinte damit, daß Mama es auf eine angemessene Art erfährt, wie wir von einander nicht lassen werden. Sag’ ihr ein gutes Wort wegen Deiner Heftigkeit. Komm, ich gehe mit Dir.“

„Das kann ich nicht!“ rief sie. „Ich kann nicht um Verzeihung bitten, wenn man mich so gekränkt hat in dem, was mir das Heiligste, das Liebste ist. Ich kann nicht!“ wiederholte sie und trat an ihm vorüber in den Erker.

Er ging ihr nach und faßte nach ihrer Hand; es war ihm wunderlich zu Muthe. Er hatte bis jetzt nur das ruhige maßvolle Weib in ihr gesehen. Aber sie verstand ihn falsch.

„Nein!“ sagte sie, „bitte mich nicht darum, Franz; ich thue es nicht, ich kann es nicht, ich habe es nie gekonnt! Auch als Kind nicht, obgleich sie mich stundenlang eingesperrt haben in eine dunkle Stube.“

„Ich wollte Dich nicht bitten,“ sagte er, „laß mir nur Deine Hand; ich muß doch wissen, daß Du es noch bist, Trudchen.“

Sie beugte sich hernieder auf seine Rechte und drückte einen Kuß darauf. „Wenn Du nicht auf der Welt wärst, Franz, wenn ich hier allein stehen müßte heute!“ flüsterte sie innig.

„Aber Du hast doch um meinetwegen den Kummer,“ erwiderte er gerührt.

Sie schüttelte den Kopf. „Verkenne mich nur nicht,“ sprach sie weiter, „und habe Nachsicht mit meinen Fehlern. Nicht wahr, Franz, das versprichst Du mir?“ Es klang wie Angst aus dieser Bitte. „Sieh, ich bin so trotzig, wenn ich mich gekränkt fühle; hart werde ich dann aus Trotz wie ein Stein, alles Gute schweigt in mir; hassen kann ich, wenn mir niedriges Denken entgegentritt! Franz, Du weißt es nicht, was ich schon gelitten habe darunter.“ –

Sie standen noch immer Hand in Hand. Draußen wirbelte der Schnee vor den Spiegelscheiben in der Dämmerung des vergehenden Wintertages. Es war so still hier drinnen, so warm und traut.

„Franz!“ flüsterte sie.

„Mein Trudchen!“

„Du bist mir nicht böse?“

„Nein! Nein! Wir wollen unsere Fehler ertragen, und wir wollen sie schon bessern; wenn wir uns nur erst ganz allein haben.“

„Du hast keine Fehler,“ sagte sie stolz und überzeugt und schmiegte sich an ihn.

Er war ernst. „Doch, Trudchen; ich bin ein maßlos heftiger Mensch, heftig bis zum Jähzorn.“

„Das sind nicht die schlechtesten Männer,“ meinte sie und schlang den Arm um seinen Hals.

„Weißt Du das so genau?“ erkundigte er sich und sah ihr lächelnd in das liebliche Antlitz, das jetzt so weich in der Dämmerung vor seinen Blicken verschwamm.

„Ja! Die Großmutter behauptete es immer,“ nickte sie.

„Die Großmutter aus der engen Gasse?“

„Dieselbe, Liebster; hättest Du sie doch gekannt! Aber Deine Mutter möchte ich sehen,“ fügte sie dann hinzu.

„Wir reisen hin, Liebling, sobald wir Mann und Frau. Wann wird das sein?“

„Franz,“ bat sie statt der Antwort, „laß uns nicht gleich reisen, laß es mich erst wissen, wie es in einer Heimath ist, wo Liebe, Vertrauen und gegenseitiges Verstehen bei einander wohnen! Laß mich erst wissen, was Friede ist!“

„Ja, mein Trudchen! Wollte Gott, ich könnte Dich morgen hinaus holen in das alte Haus.“

„Gertrud!“ rief es schrill aus dem Nebenzimmer.

Sie fuhr empor. „Mama!“ flüsterte sie, „komm!“

Sie gingen hinüber. Frau Baumhagen stand neben ihrem Schreibtische; eben brachte Sophie die Lampe, und ihr Schein beleuchtete das runde, verweinte Antlitz der Mutter, in dem sich heute eine ganz ungewohnte Entschlossenheit ausprägte.

„Es ist gut, daß Sie hier sind, Linden,“ redete sie den jungen Mann an, während sie die Klappe des Schreibtisches herunterließ und Platz davor nahm. „Wieviel Zeit gebrauchen Sie, um Ihr Haus so in Stand zu setzen, daß Gertrud dort wohnen kann?“

„Nicht lange,“ erwiderte er. „Einige Zimmer sind mit neuen Tapeten zu versehen und dergleichen Kleinigkeiten – das wäre Alles.“

„Schön! Mir kann es recht sein,“ erwiderte sie kühl, „so haben Sie die Güte, morgen Ihre Papiere dem Herrn Oberprediger zuzusenden und das Aufgebot zu bestellen. Ich reise in drei Wochen mit meiner ältesten Tochter nach dem Süden und wünsche, vorher diese – diese Angelegenheit geordnet zu wissen.“

Linden verbeugte sich. „Ich danke Ihnen, gnädige Frau!“ – Gertrud stand bleich bis in die Lippen, aber sie sah nicht herüber zu ihm; er fühlte nur das Eine deutlich, sie litt furchtbar durch diese Scene, um seinetwillen.

„Ich möchte jetzt noch Einiges mit meiner Tochter besprechen,“ fuhr Frau Baumhagen fort, „es betrifft die Ausstattungsgelder und den Ehekontrakt.“

Er war sofort zum Gehen bereit, küßte die Hand seiner Braut und sah sie bittend an. „Bleibe ruhig!“ flüsterte er.

Trudchen aber legte hinter dem Rücken der Mutter die Hand auf des Bräutigams Mund. „Ich will keinen Ehekontrakt!“ sagte sie dabei laut.

„So lebt Ihr in Gütergemeinschaft,“ klang es zurück.

„Das ist das Richtige,“ erwiderte sie. „Wenn ich mich selbst gebe, werde ich mein Geld nicht ausschließen; es käme mir vor wie ein Widerspruch.“

Frau Baumhagen zuckte die Schultern und wandte sich um. Sie standen dicht an einander geschmiegt, die Beiden, und das bittere Wort erstarb ihr auf den Lippen.

„Dein Vormund mag mit Dir darüber reden,“ sagte sie. „Wollen Sie so freundlich sein, Linden, und meinen Schwager aufsuchen? Ich möchte mit ihm sprechen!“

Er küßte Trudchen auf die Stirn und nahm seinen Hut, dann ging er. Gott sei Dank! Er durfte sie aus dieser Lieblosigkeit bald in sein Haus hinüberretten, das arme stolze Mädchen, das ihn so lieb hatte!

Rasch schritt er über den Markt; die frische Luft that ihm wohl. Er war im innersten Herzen empört, daß man sie hatte trennen wollen, Meilen und aber Meilen zwischen sie legen; und wie leicht ist ein Mißverständniß angebahnt; wie leicht, bei dem Charakter dieses Mädchens, dem ein Schein niedriger Gesinnung schon genügen würde zu trotzen, zu hassen, zu verachten. Wie manches Paar, das sich von Herzen liebte, war schon auf diese Weise für immer geschieden. Er wagte es nicht auszudenken, was mit ihm geworden, wenn es so gekommen wäre.

„Pst! Pst!“ scholl es hinter ihm, und als er sich auf dem schlüpfrigen Trottoir umwandte, sah er Onkel Heinrich die Stufen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_402.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2021)