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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

glühte höher auf, und dann spielten die ersten Strahlen der Sonne auf dem braunen Haar Trudchens.

Und nun schlug sie die Hände vor das Gesicht. „Das Glück ist dahin – ich kann ihm nichts mehr sein!“ stammelte sie.

„Sagen Sie lieber: ‚Ich will ihm nichts mehr sein‘!“

„Ach ja, und wenn ich auch wollte!“ schrie sie auf. „Es wird ein so elendes Dasein!“

„Wer nicht gern und freudig etwas will, soll es lieber lassen, und Wen es zum Gebet nicht drängt, der soll die Hände nicht falten.“ Und Frau Rosa wandte sich kurz zum Fenster, setzte sich in ihren Sorgenstuhl und ergriff das Andachtsbuch. Sie überließ Trudchen sich selbst und las halblaut ein Kapitel zur Morgenandacht.

Die Worte schlugen wunderbar an das Ohr der Kämpfenden:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht –“

klang es durch das Stübchen.

„Die Liebe ist langmüthig und freundlich. Und sie erträgt Alles, sie glaubet Alles, sie hoffet Alles und duldet Alles.“

Hatte sie denn die Liebe nicht, die wahre Liebe? Ach, Glaube – Liebe – wie soll sie bleiben, wenn man so grausam betrogen wird! Und das Haus stand vor ihren Blicken, das einsame traurige Haus am Waldesrand, und das Leben der letzten Wochen, so furchtbar öde und leer.

Und „die Liebe erträgt Alles und sie hoffet Alles“ – heißt es.

„Amen!“ sagte Tante Rosa laut. Und Heidchen kam herein, und die junge Frau fühlte plötzlich ihre Hände heruntergezogen, und durch die Thränen in ihrem Auge sah sie, wie die Kleine lächelnd das Schlüsselbund vom Gürtel hakte und es ihr entgegenhielt. „So gut ich es verstand, habe ich Ordnung gehalten,“ sprach sie, „aber so ganz recht wird’s wohl nicht Alles geworden sein; Sie dürfen mir nicht zürnen.“

Sie fühlte die Schlüssel in ihrer kraftlosen Hand; hatte sie sich nicht bis in den Staub gebeugt? „Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht,“ sprach etwas in ihrem Herzen. –

„Ich will ihm vergeben,“ sagte die junge Frau laut. Aber ihr Antlitz war blaß und starr.

„Vergeben mit den Augen?“ fragte Tante Rosa. „Und was dann? Daß Sie ihm weniger glaubten, als einem ausgesprochenen – na, er ist todt, Gott verzeihe ihm – als einem Menschen, der Ihnen völlig fremd war? Nein, kleine Frau, fassen Sie das Herz zusammen und gehen Sie hinauf zu Ihrem Franz und –“

Ich zu ihm?“ klang es schneidend durch das Stübchen. „Ich?“ Klirrend fiel das Schlüsselbund zur Erde; mit bebender Hand riß sie das Kleid vom Stuhle, das sie gestern getragen, und nahm aus seinen Falten die Börse, die den Zettel, den schrecklichen Zettel barg. Ein Weilchen hielt sie das Stückchen Papier in der Hand, dann reichte sie es stumm der alten Dame.

„Ich will nicht gar so kindisch trotzig vor Ihnen erscheinen,“ sagte sie dazu.

Tante Rosa schob die Brille zurecht und las; es flog wie ein Schreck über ihre Züge; nun wie ein Lächeln. Mit unendlicher Verlegenheit sah sie dann in Trudchens Gesicht. „Heidchen,“ rief sie, „Du kannst Zeuge sein, ich war immer die ordentlichste Person mein Lebtag!“

„Ja, Großtantchen, das muß Dir der Neid lassen.“

Und um vorige Weihnacht ist es mir passirt. daß ich einen Brief verlegte. An Linden war er, von Wolff; vier Tage lang haben wir ihn gesucht wie eine Stecknadel. Warte, das war am zweiundzwanzigsten December – fort war der Brief und am sechsundzwanzigsten, da hebe ich zufällig mein Fensterkissen auf, und da liegt das Ding. Wer war froher als ich! Da blieb ich auf bis spät in die Nacht – Linden war bei Baumhagens in Gesellschaft – und wie er endlich kommt, gebe ich ihm den Brief und er steckte ihn achtlos in die Tasche und sagte: ‚Tante Rosa, Sie sollen’s zuerst erfahren, vorhin habe ich mich verlobt.‘ Und in seiner Herzensfreude nahm er mich in die Arme, als wäre ich noch einmal achtzehn Jahre. Sehen Sie, und das –“ sie schlug mit der rechten Hand gegen das Zettelchen, „das ist ein Fetzen von dem Brief, kleine Frau, es stimmt ja ganz genau mit dem Datum!“

Trudchen war schon bei ihr. „Ist es Wahrheit?“ kam es bebend von ihren Lippen.

Die alte Dame nickte. „Wahrheit!“ bestätigte sie. „Rufe mal die Dore; sie hat damals mit gesucht nach dem Briefe und sich dabei eine gehörige Bruse an den Kopf gestoßen, als sie den Schrank abrücken wollte.“

Aber Trudchen wehrte ab. Sie stand noch ein Weilchen stumm, den Kopf gesenkt, Röthe und Blässe in raschem Wechsel auf dem Antlitz, dann ging sie auf die Thür zu und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

Unhörbar schritt sie die Treppen hinauf, und das alte verdrießliche Gefüge schien die kleinen Füße zu verstehen, die so behutsam auftraten, und wagte nicht wie sonst zu knaxen und zu knarren.

Mäuschenstill war es im ganzen Hause; der Korridor stand noch im Dämmerschein, und die alten Bilder an der Wand sahen schläfrig herunter zu dem jungen Menschenkinde. Die Dielenuhr aber sagte ihr bedächtiges Tack! Tack! Das klang so wundersam in Trudchens Ohren, als sie zögernd an der braunen Zimmerthür stand und den Messingdrücker faßte.

Tack! Tack! Wie die Zeit läuft! Nicht eine Minute sollte man zögern, wenn man etwas gut zu machen hat; eine jede Minute ist ihm genommen – rasch! rasch!

Leise drückte sie die Thür auf und schlüpfte hinein. Sie hatte das Kleid eng an sich gezogen, damit die Schleppe nicht rauschte. Aus dem blassen Gesicht schauten zwei große Augen angstvoll in dem Gemach umher, das von der Morgensonne durchglüht war. Jetzt wollte ihr Herz aufhören zu klopfen, nun wieder raste es in vollen Schlägen – dort auf dem großen Stuhl – er war nicht schlafen gegangen, aber der Schlummer hatte ihn doch gefunden. Dort saß er; der kranke Arm lag auf der Lehne des Sessels, der andere stützte den Kopf. Er war noch in der beschmutzten angesengten Joppe von gestern, und ach – er sah so bleich aus, so verändert!

Der Hund, der zu seinen Füßen lag, hob den Kopf ein wenig und wedelte. Und nun kam sie herüber: „Mach Platz,“ flüsterte sie, „da muß ich jetzt hin!“ Und sie knieete vor dem Manne und faßte die leise zuckende, verwundete Hand und zog sie an ihre Lippen.

„Trudchen, was thust Du denn?“

„Vergieb mir, Franz, vergieb mir!“ flüsterte sie weinend, und wehrte seinen Bemühungen sie empor zu ziehen, „Nein, Franz, nein, laß mich, es soll so sein –“

„Verzeihen? Davon ist ja keine Rede. Gott sei gelobt, Du bist da!“

Aber ehe sie aufstand, zerpflückte sie ein Stückchen Papier in tausend Atome, dann lief sie ans Fenster und öffnete die Hand, und wie Schneeflocken wirbelte es in die Luft hinaus. Und als sie sich umwandte, schaute sie in seine ernsten Augen.

„Was war das?“ fragte er und zog sie an sich.

Da schlang sie die Arme um seinen Nacken und versteckte ihre weinenden Augen an seiner Brust. Und so standen sie am offenen Fenster im Lichte der hellsten Sonnenstrahlen. Zirpend schossen die Schwalben an ihnen vorbei, über die Wipfel der Bäume in den blauen Himmel hinein. „Wieder da! Wieder da!“ klang ihr Gezwitscher.

Und unten im Hause ward’s lebendig; ein kleines brünettes Mädchen deckte den Kaffeetisch im Gartensaal. Zwei Tassen, zwei Teller und in die Mitte ein Rosenstrauß – das letzte Mal,“ sagte sie, „nun kann sie es wieder besorgen und schaffen.“ Dann stand sie sinnend und hielt den kleinen rosigen Finger an das Näschen. „Er weiß gar nicht, wie gut er es hat, daß er eine so fügsame, lammfromme Frau bekommt, wie ich bin,“ flüsterte sie. „Freilich, ich könnte nicht in die Verlegenheit gerathen mir einzubilden, er habe mich ums Geld gefreit.“ Sie lachte plötzlich hell auf. „Das wird ’ne nette Aussteuer, wenn Tante Rosa sie besorgt!“ Und sie wirbelte die Gartenthür auf und lief hinaus in die grüne Pracht.

Die Welt war so schön, die Sonne so golden, und Heidchen hatte den kleinen Amtsrichter so lieb. Sie war verlobt, heimlich verlobt, denn der gute Mensch wollte dem Freunde nicht in lauter Bräutigamsseligkeit unter die Augen treten, wo sein Glück im Begriff war zu zerschellen. So hatten sie sich Beide heimlich Treue gelobt und sich heimlich geküßt – nach der Erdbeerbowle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_519.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2024)