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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Regen finden konnte, wenn das drohende Unwetter zum Ausbruch kam. Kaum hatte sie ihren Sitz zu Füßen des Blockes eingenommen, als sie mit beiden Händen heftig an die Brust fuhr, sie fürchtete das Edelweiß verloren zu haben, das sie ins Mieder gesteckt hatte. Erleichtert athmete sie auf, als sie die Blume fühlte. Sie wollte dieselbe bewahren zum lebenslangen Gedenken an diese Nacht – und an die verwegene Hoffnung, die der erste Anblick des weißen Sternes in ihr erweckt hatte. Bei dem Gedanken an jene Minuten schalt sie sich im Stillen um der herz- und athemstockenden Angst willen, von der sie sich beim letzten Worte der so muthig begonnenen Beschwörung hatte befallen lassen. Was hätte sie zu fürchten gehabt – von diesem „so viel guten Geist, der alle braven Menschen gern hat“, wie ihr „Vaterl“ wohl zu hundertmalen ihr versichert hatte?

Sie sah den Alten im Geiste vor sich stehen, in der Gestalt, die ihr der Vater einst geschildert – sie sah den grauen, faltigen Mantel, das weiße Gesicht mit den blauen Augen, den braunen Bart und auf dem lockigen Haar den mit der Edelweißkrone gezierten Hut – eine Gestalt „zum Gernhaben ehnder als zum Fürchten“.

Das hätte sie sich wohl gefallen lassen können, meinte sie jetzt, wenn er in solcher Gestalt ihr erschienen wäre, wenn er sie auf seine Arme gehoben, bis zur Hütte getragen, mit einer Berührung seiner Hand ihren Fuß geheilt und sie noch überdies mit reichen Geschenken bedacht hätte. Sie hätte beschwören können, daß sie von dem Sprüchlein, das der Vater sie einst gelehrt, kein Buchstäbchen vergessen hatte, „’s Bleaml halt,“ dachte sie, „’s Bleaml kann net ’s rechte sein!“ Sie mußte sich wohl beim Zählen der Strahlen geirrt und sicherlich den einen und anderen doppelt gezählt haben.

Zögernd löste sie die Blume von ihrer Brust und begann mit den Fingern die sammetweichen Zacken des Sternes abzufühlen. Und wieder zählte sie dreißig Strahlen. Sie schrak zusammen, die Wangen wurden ihr heiß, und ein Zittern kam in ihre Hände. Aber sie schüttelte den Kopf und wollte nicht glauben. „Ah ja – ah ja – ich hab’ ja vergessen –“ stammelte sie plötzlich, tastete nach der Mitte der Blume – und fühlte richtig die „sechs Schöpferln“ – sechs kugelige Samenknöpfchen. Ein Schauer überlief ihre Schultern. „Na – na – und es kann ja doch net’s rechte Bleaml sein – sonst hätt’ er ja kommen müssen,“ stotterte sie, begann aufs neue die Strahlen zu zählen – und dabei vergaß sie des schmerzenden Fußes, vergaß sie der Nacht und des Himmels, der in der weiten Runde schon behangen war mit dicht geballtem, wogendem Gewölke. Erst als ein greller Blitz zur Erde zuckte, dem ein rascher, krachender Donner folgte, fuhr sie auf.

Da fielen auch schon die ersten schweren Tropfen – und ehe noch Veverl zum Schutze sich enger an den Fels zu schmiegen vermochte, rauschte und klatschte schon ein strömender Regen über das Gestein.

Veverl legte die Blume in ihren Schoß, zog die Kniee in die Höhe und schlug das oberste Röckchen gleich einem Mantel um die fröstelnden Schultern. Es war ein karger Schutz, den sie dadurch gewann. Mit Sausen und Wirbeln peitschte der Wind ihr den Regen entgegen, und bald fühlte sie, wie die kalte Nässe durch das dünne Gewebe an ihren Körper quoll. Ungeduldig harrte sie auf einen Blitz, bei dessen Schein sie in ihrer Nähe einen besseren Unterschlupf zu gewahren hoffte.

Mit einem Male fuhr sie lauschend auf – es war ihr gewesen, als hätte sie Tritte gehört – und nun wieder vernahm sie ein Knirschen und Klirren, als ginge Einer mit genagelten Schuhen über das Geröll.

„Dori – Dori – bist Du’s?“ so rief sie mit hastender, flehender Stimme in Sturm und Nacht hinein.

Die Tritte verstummten, und schon wollte das Mädchen zu neuem Rufe die Lippen öffnen. Da jählings loderte mit einem Donnerschlage, unter dem die Erde bebte und schütterte, ein Blitzstrahl aus den Wolken, bei dessen flammendem Scheine der Wald und die Berge wie in Feuer zu schwimmen schienen – und mit einem gellenden Aufschrei warf sich Veverl in die Kniee. Wenige Schritte vor ihr, inmitten der lohenden Helle, ersah sie eine Gestalt in grauem Mantel, mit geisterblassem Gesichte, welches ein dunkler Bart umrahmte und lockige Haare umwallten, darauf der Spitzhut saß, den eine Krone von Edelweißsternen schmückte.

„Alle guten Geister – der Edelweißkönig!“ vermochte Veverl noch zu stammeln, dann schwanden ihr die Sinne.


Als Veverl aus ihrer Ohnmacht erwachte, waren die klatschenden Schläge des Regens auf ihrer Wange das Erste, was sie empfand. Die kalte Nässe ermunterte sie rasch, und sie fühlte plötzlich, daß ihr Haupt an einer Schulter ruhte, daß ein Maatel ihren Körper eng umschlang, und daß sie von zwei starken Armen durch Sturm und Nacht getragen wurde. Im gleichen Augenblicke erinnerte sie sich an Alles und meinte zu verstehen, was mit ihr geschah. Ein seltsames Gefühl, halb Schreck, halb wonniger Schauer, durchzuckte sie bei dem Gedanken, daß es nun wirklich so gekommen war, wie sie in ihrer Noth geträumt und gehofft hatte: der beschworene Alf war ihr erschienen, hatte sie auf seine Arme gehoben und trug sie wohl jetzt der Almhütte zu.

Es war ihr, als ging es wie im Fluge, während in Wahrheit doch ihr Retter mit ängstlicher Vorsicht über das rauhe Geröll dahinschritt und sich in der sturmerfüllten Finsterniß mit schwerer Mühe einen Weg durch die wirren, triefenden Latschen bahnte. Inmitten des Gebüsches hielt er stille, und Veverl sah beim rasch verflackernden Scheine eines Blitzes, wie dicht vor ihr ein mächtiger Felsblock, als hätte ein Zauberwort ihn bewegt, langsam zur Seite rollte. Gleich darauf war es ihr, wie wenn sie mit jenem, auf dessen Armen sie ruhte, in die Erde zu versinken begänne. Erschrocken fuhr sie zusammen, und während hinter ihr ein dumpfer Schlag sich hören ließ, als hätte sich eine schwere Pforte geschlossen, stammelte sie mit zitternden Lippen den Namen des Erlösers und der heiligen Jungfrau.

Da schlossen sich die beiden Arme fester um ihren Leib, und an ihr Ohr schlug eine traulich klingende Stimme: „Mußt Dich net fürchten, Veverl, es g’schieht Dir nix! Und – is Dir schon wieder besser, han? No – Gott sei Dank!“

Gott sei Dank! Dieses eine Wort gab ihr allen verlorenen Muth zurück. Was Uebles konnte ihr von einem Geiste widerfahren, der vor den heiligen Namen, die sie gesprochen, nicht in Rauch und Luft zerfloß, der selbst den lieben Herrgott auf den Lippen führte? Da konnte es ihr nun gleichgültig sein, ob er sie zur Almenhütte trug, oder in sein eigenes „Geisterhöhl“. Sie wußte, daß er sie vor dem Sturme schützte und ihren Fuß heilen würde – das Wie war seine Sache.

Wohl hob sie jetzt schon mit einem muthigen Blicke die Augen, aber undurchdringliche Finsterniß lag um sie gebreitet. Sie fühlte nur, daß es tiefer und tiefer ging, wie über Geröll und steinerne Stufen. Es mußte ein schmaler Gang sein, durch den sie getragen wurde. Denn sachte streifte sie bald mit den Haaren, bald mit einer Fußspitze die Wände.

Mit jeder Sekunde steigerte sich ihre Spannung und das Gefühl des Wundersamen, von dem sie befangen war. Mit jedem Augenblicke erwartete sie das Aufflammen eines zauberhaften Lichtes, jetzt, und jetzt, meinte sie, müßte sich das unterirdische Reich des Alfen in jener Pracht enthüllen, die sie in ihren Träumereien sich ausgenmlt hatte, und die zu schauen immer und immer das Ziel ihrer stillen Wünsche gewesen war. In dieser Erwartung eines Ungewöhnlichen bestärkten sie die seltsamen, zischenden und pfeifenden Laute, die sie manchmal vernahm, das geisterhafte Flattern, das ab und zu an ihrem Haupte dicht vorüber zu huschen schien, das dumpfe Dröhnen und Knattern, welches sich von Zeit zu Zeit erhob, und das geheimnißvolle Murmeln und Rauschen, das von Sekunde zu Sekunde deutlicher hörbar wurde, das bald wie nahe plaudernde Stimmen klang und bald wie fernes Gelächter.

Nun plötzlich verhielt ihr Retter die Schritte, lockerte den Mantel, der sie umhüllte, und während sie ihn sagen hörte. „So, Veverl, schau, da kann Dir kein Sturm nimmer an und kein Regen,“ ließ er sie niedergleiten auf die Erde. Kaum aber, daß sie auf die Füße zu stehen kam, sank sie mit einem leisen Wehlaut in die Kniee.

„Ja um Gotteswillen! Was hast denn? Du kannst ja net steh’n!“ so hörte sie ihren Alfen ganz erschrocken fragen. „Bist am End gar recht ungut gefallen und hast Dir ’was ’than?“

„Ja – am Fuß – am linken –“ stammelte sie und fühlte sich im gleichen Augenblicke wieder emporgehoben, einige Schritte getragen und achtsam niedergelassen auf ein weiches Lager, während er im Tone ängstlicher Besorgniß ausrief. „O mein Gott! Ja – jetzt versteh’ ich’s. Da muß ich ja ’gleich nachschauen – aber – aber sorg’ Dich net! Es wird ja so g’fährlich net sein! Das wird sich schon wieder machen lassen – ja – da weiß ich gar viel, was gut is für so was!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_806.jpg&oldid=- (Version vom 4.2.2023)