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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Auch Line wurde still. Sie bewunderte zwar das so heiß gewünschte schwarzseidene Kleid und ich die Pantoffeln; das Mädchen verschwand strahlend mit ihren Geschenken, und Hektor fraß die Wurst. Dann aber saßen wir alle Drei, die Frau, der Hund und ich und sahen stumm einander an. Ebenso stumm aßen wir zu Abend und löschten die Kerzen des Baumes.

Es war doch unrecht von dem Komteßchen; der letzte Weihnachtsabend, und sie blieb aus!

Da, als wir eben in das Schlafzimmer treten wollten – der gellende Ton der Glocke, Himmelsakrament, was ist das nun wieder?

Wir hörten, wie die Dörte eilig zur Thüre lief, hörten Stimmen, aufgeregte, halb kreischende Stimmen, dann stürzte die alte Maruschka der Gräfin in die Stube.

„Herr Doktor, kommen Sie doch, kommen Sie doch – unser Kind – unser Komteßchen!“

So schnell bin ich noch nie zum Hause hinaus gekommen und die verschneite Straße hinunter, nach der Probstei. Mit zwei - drei Sätzen war ich die alte ächzende Wendeltreppe hinan und durch den Vorflur in Ilse’s Schlafzimmerchen.

Der erste Blick auf das Bette – es war leer, aber dort am Kachelofen lehnte das Mädchen, und bei dem flackernden Schein des Lichtes sah ich fast entstellte Züge.

„Komtesse?“ fragte ich.

„Es ist schon vorüber,“ antwortete sie mit mühsam beherrschter Stimme, „es ist Alles vorüber, lieber Doktor, ich stehe schon wieder auf gleichen Füßen. Geben Sie mir die Hand, – ich bitte Sie, sagen Sie ihm – –“ Weiter kam sie nicht, denn die Mutter erschien auf der Schwelle.

„Was war denn, Frau Gräfin?“

„Sie sprach im Fieber, sie phantasierte,“ erwiderte die blasse Frau, und ihre Augen musterten mich von oben bis unten. „Schreiben Sie eine niederschlagende Limonade auf, da Sie einmal gerufen sind, und schicken Sie den Trotzkopf zu Bette.“

Ilse sah mich an und lächelte wie verächtlich. „Ich danke – ich bin völlig wohl und bei klaren Sinnen,“ sagte sie. „Gute Nacht, Herr Doktor! Um Gotteswillen, gehen Sie!“

Maruschka setzte sich still ans Bett. (S. 855.)

Ich wandte mich ärgerlich. Es war klar, es hatte etwas gegeben, aber darum mich erst zu holen und nachher so abfallen zu lassen, wie einen – da hört doch Alles auf! „Gute Nacht!“ sagte ich kurz und ging aus der Thüre. Ich tastete auf dem stockdunkeln Flur umher, ohne den Ausgang finden zu können, ich hörte von drinnen noch ein frostiges „Gute Nacht, Mama!“ – rannte an einen Kleiderständer und wollte schon nach Licht rufen, da fiel ein heller Schein in den dunklen Raum, eine Gestalt huschte daraus hervor, zwei weiche zitternde Mädchenarme schlangen sich um meinen Hals und ein thränenbethautes Gesicht drängte sich an meine Wange. „Grüßen Sie ihn,“ schluchzte sie, „sagen Sie ihm, ich wäre das unglücklichste Geschöpf, das auf Erden lebt! Ich habe ihn lieber, als er glauben wird, als er denken kann!“ Und noch einmal stürmisch ihre Arme um meinen Hals, ihre weichen Lippen in meinen Bart –. „Dank für Alles, Du guter Onkel Doktor, was mir das Leben verschönt hat!“ Dann noch ein Kuß, ein leise geflüsterter Gruß an ihn, und sie war verschwunden.

„Daraus soll ein Anderer klug werden!“ murmelte ich vor mich hin und wischte mir die Thränen des Mädchens aus dem Bart oder meine eigenen? „Ist ja ein schauderhafter Weihnachtsabend!“

Wie ich dann ganz verstört in meiner Frau Stube komme, wen erblicken meine Augen? – den Ernst, blaß wie eine Leiche; und seine zitternden Hände streckten sich mir entgegen, während die Line starr wie ein Wachsbild in der Sophaecke sitzt.

„Was bringst Du, Onkel?“ fragte er hastig.

„Nichts, mein Junge –.“

„Du warst eben bei ihr, Du mußt wissen, wie die Sache abgelaufen ist!“

Ich sah ihn an, halb staunend, halb mitleidig. „Armer Junge, ich hätte Dich für gescheiter gehalten,“ drängte es sich über meine Lippen.

„Sie giebt mich auf?“ fragte er, fast heiser.

„Sie läßt Dich grüßen, wenn Du der ‚Er‘ bist, von dem sie mit Thränen flüsterte.“

„Nichts weiter?“ stieß er hervor.

„Sie sagte zu ihrer Mutter, sie wäre wieder klar bei Sinnen –.“

Er lachte kurz auf und setzte sich auf einen Stuhl, trank hastig einen Pokal heißen Weines und blieb stumm.

„Aber Ernst,“ begann Line jammernd, „wie konntest Du auch denken, daß die Mutter es zugeben würde – sie – –“

Da fuhr er auf, sah nach der Uhr und erhob sich. „Um halb Zwölf geht der Eilwagen; gute Nacht! Verzeiht, daß ich Euch störte!“

Hastig nahm er den Hut vom nächsten Stuhl und ehe wir uns besinnen konnten, schlug die Hausthür, und er war gegangen.

„Weißt Da Näheres?“ fragte ich die weinende Line.

„Das, was er mir mittheilte, als er so plötzlich vor mir stand,“ schluchzte sie. „Sie lieben sich schon seit dem Herbst, sie haben sich geschrieben und heute wollte es Ilse der Mutter sagen und sie zur Erlaubniß bestimmen, den Ernst Klauß heirathen zu dürfen. Vorher waren sie mit einander in der Weihnachtspredigt, da hat Ilse geweint und gebetet. Sie hatte ihm gesagt: ‚Sobald ich Mama’s ‚Ja!‘ habe, komme ich zu Doktor’s, warte dort.‘ Er hat aber vor der Probsteithüre gewartet, da ist nun plötzlich Maruschka vorübergestürmt, dann bist Du mit ihr zurückgekommen, und nun hielt er es nicht länger aus und kam zu mir.“

‚O Jugend, o Leichtsinn!‘ dachte ich., und blitzgeschwind rann mir eine Thräne in den Bart. Ich sah ja noch immer das furchtbar veränderte Gesicht der kleinen Ilse vor mir. „Das ist hoffnungslos!“ sagte ich laut, und Line nickte dazu und barg die weinenden Augen in ihren Händen. „Wie sie mich dauern!“ schluchzte sie.

Richtig! Am andern Morgen fuhr ein schwerfälliger Kutschwagen durch den Schnee der Gasse; ich sah einen Moment einen blauen Schleier wehen, eine kleine Hand an der Glasscheibe – und Komtesse Ilse war fort.

Maruschka begleitete sie bis zu der drei Stunden entfernten Bahnstation. Durch die Post erhielt ich aber am selbigen Tage

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 853. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_853.jpg&oldid=- (Version vom 3.3.2023)