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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

rechter Hand öffnete, von wo ein vielstimmiger dumpfer Lärm erschallte, hatte ich den flüchtigen Blick auf die lange Tafel, an welcher der Professor mit seiner zahlreichen Familie und seinen sechzehn Pensionären saß. Es fuhr mir durch den Kopf, daß man in der Stadt sprichwörtlich sagte: „Sie sind so eng verpackt wie Herrn von Hunnius’ Pensionäre.“ Man drängte sich eben zu ihm.

Der kleine Mann – ich war bereits um einen halben Kopf größer als er – erschien alsbald auf der Schwelle, noch ein paar Worte mit seiner eigenthümlich durch die Nase schnarrenden Stimme in das Speisezimmer zurückrufend, trat dann rasch auf mich zu und sagte:

„Sie kommen zu mir, wie Nikodemus in der Nacht. Was bringen Sie mir?“

Das letztere fragte er immer, wenn man zu ihm kam. Ich wußte es und hatte mich darauf vorbereitet.

„Ich bringe nichts, Herr Professur,“ antwortete ich; „ich komme etwas zu holen: Rath in einer für mich wichtigen Angelegenheit.“

Es mochte wohl in dem Tone etwas Besonderes gelegen haben. Er fixirte mich einen Moment durch die großen runden Brillengläser und sagte kurz:

„Dann kommen Sie mit mir auf mein Zimmer.“

Er schritt mir voran, die Treppe hinauf, in sein Arbeitszimmer, schob die Oellampe, welche auf einem mit Büchern und Papieren überdeckten Tisch, dem Verlöschen nahe, dämmerte, in die Höhe; nahm in seinem Korbsessel vor dem Tische Platz und sagte, indem er für mich auf einen Stuhl in der Nähe deutete:

„Setzen Sie sich und sprechen Sie!“

Ich brauchte nicht nach Worten zu suchen; mir war das Herz so voll. Ich sagte ihm alles: wie ich mit meinem Unglauben, meinen Zweifeln gerungen hätte, lange, bevor mir der Herr Pastor so ins Gewissen geredet, wie heute; und daß ich auf dem Punkte gestanden, ihm den Willen zu thun, aber nicht, weil ich überzeugt, sondern weil ich durch seinen Eifer um mein Seelenheil gerührt und erschüttert gewesen sei; und wie der Herr Pastor durch den Fluch, den er über meinen Vater und die Israels ausgestoßen, die immer so gut zu mir gewesen, alles wieder verdorben habe; und wie wir dann geschieden seien.

Der Professor hatte mir, von Zeit zu Zeit die große Brille mit dem Zeigefinger auf die kleine Nase hinaufschiebend, zugehört, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Auch jetzt, als ich nun endlich schwieg, antwortete er nicht sogleich, sondern blickte starr vor sich hin. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihn durch meine sonderbare Beichte in Verlegenheit gesetzt habe, und sagte daher:

„Ich bitte um Verzeihung, Herr Professor, daß ich Sie belästige. Aber ich wußte mir keinen andern Rath.“

Er hob rasch den großen Kopf und sagte lebhaft:

„Von Verzeihen kann hier keine Rede sein. Im Gegentheil: Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir gekommen sind, denn es beweist mir, daß Sie etwas von mir halten, was ich wohl nur von wenigen Ihrer Kommilitonen sagen kann, die mich einfach hassen. Nun: oderint, dum metuant! Und ich halte etwas von Ihnen. Sie haben einen offenen Kopf und ein offenes Herz und machen keine Phrasen, was mir ein Gräuel ist, selbst im Lateinischen, obgleich sie da für euch arme Schelme fast unvermeidlich sind. Ich soll Ihnen also rathen in diesem kritischen Falle. Nun wohl, ich will es thun, so gut ich es vermag. Zuerst: haben Sie Ihrem Vater von dem allen gesagt?“

„Wäre ich dann zu Ihnen gekommen, Herr Professor?“ „Bene dixisti: Ihr Vater wäre auch nicht die geeignete Person gewesen – für diesmal aus zwei Gründen. Einmal ist er hier gewissermaßen Partei, und zweitens ist er kein konfessioneller Christ. Nicht wahr?“

„Ich weiß es nicht, Herr Professor, er hat mir noch nie ein Wort über Religion gesprochen.“

„Eben darum. Gleichviel, nehmen wir es an, wie es jedenfalls der Herr Prediger annimmt. Er ist ein zu eifriger Seelsorger, als daß er nicht, trotz der kurzen Zeit, die er hier im Amte ist, bereits sämmtliche Glieder seiner Heerde genau kennen und auf ihren kirchlichen Werth taxiren sollte. Und Freidenker und Juden das ist Wasser auf seine Mühle. Er nimmt sie ja, wie ich höre, in jeder Predigt vor, zum Exempel soll er in der letzten auf Herrn Isaak Israel, Ihren Nachbarn und meinen sehr würdigen Freund und Parteigenossen, fast unverblümt exemplificirt haben. Nun, er kann es auf diesem Wege noch weit bringen. Doch das gehört nicht hierher. Ihr Vater ist nicht Ihr rechter Vater. Wer war das?“

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte ich; „es wird nie über ihn gesprochen; mein Vater hat mich adoptirt.“

„Ganz recht. Ihre Mutter ist Katholikin – hat mir irgend Jemand gesagt; und daß Ihnen Ihr Vater – ich meine Ihr rechter – einiges Vermögen hinterlassen hat?“

„Ich glaube, ja,“ sagte ich zögernd. Ich fand, daß dies doch auch ‚nicht hierher gehöre‘.

„Man muß in solchen Lagen auch die Verhältnisse beachten,“ fuhr der Professor, der offenbar meinen Gedanken errathen hatte, fort. „Zum Beispiel, daß Sie, so viel ich weiß, und wofür ich andererseits durchaus bin, studiren wollen. Nun wäre es doch sehr schade, wenn Sie sich, indem Sie sich mit der Staats-, also mit der herrschenden Kirche überwerfen, von vornherein jede Staatskarrière kompromittirten, ja, wie die Dinge liegen, unmöglich machten. Selbst in Ihrer Schullaufbahn kann Ihnen das hinderlich sein. Man wird Ihnen freilich trotzdem die Versetzung Ostern nicht verweigern – dazu fällt meine Stimme, als Ihres jetzigen Ordinarius, zu schwer ins Gewicht; aber die Zukunft, mein lieber junger Freund, die Zukunft! Sie sehen, ich mochte Ihnen gern Ihre Zukunft retten.“

„Aber doch nicht auf Kosten meiner Ueberzeugung, Herr Professor,“ wagte ich einzuwerfen.

Er schob die Brille hoch, die von der kleinen Nase fast herabzugleiten drohte, und räusperte sich.

„Die Ueberzeugung!“ sagte er; „freilich, das ist eine schöne, ehrwürdige Sache und werth, daß man ihr hohe Opfer bringt. Aber Ueberzeugungen, besonders die von jungen und so jungen Köpfen, wie der ist, der auf Ihren Schultern sitzt, die können wechseln. Ihr Vater ist ein alter Achtundvierziger, ich auch. Ich habe im Frankfurter Parlament gesessen auf der äußersten Linken und war der Ueberzeugung, daß Deutschland nur durch die Republik zur Einigkeit gelangen könne. Nun sind wir zur Einigkeit auf dem besten Wege, der ein ganz, ganz anderer Weg ist; ja, wir haben sie eigentlich bereits, die heißersehnte Einigkeit, und ich habe mich überzeugen müssen, daß meine damalige Ueberzeugung ein Irrthum war. So war ich überzeugt und habe daraufhin meine Doktordissertation geschrieben, daß eine gewisse Schrift dem Cicero ab- und dem Atticus zuzusprechen sei, und mich überzeugen müssen, daß ich einen Bock geschossen. Mit einem Worte: unsere Ueberzeugungen können wechseln, müssen wechseln: politische, wissenschaftliche, weßhalb also nicht auch religiöse? Ist nicht aus dem Saulus ein Paulus geworden? Sind Sie so sicher, daß nicht auch Ihnen einmal ein Tag von Damaskus kommt?“

„Gewiß nicht, Herr Professor,“ sagte ich; „aber eben deßhalb bin ich auch nicht sicher, daß er mir kommt.“

Ein flüchtiges Lächeln zog über die wunderlichen Züge. Das machte mir Muth, weiter zu sprechen:

„Sagen Sie mir nur das Eine, Herr Professor: glauben Sie, Sie selbst denn an das alles, wozu ich mich bekennen soll?“

Das Lächeln war sofort verschwunden.

„Ich meine, es handelt sich hier nicht um das, was ich glaube, sondern um das, was Sie glauben, respektive nicht glauben,“ sagte er mit Nachdruck und fuhr, als er meine bittere Verlegenheit sah, in milderem Tone fort: „Lieber junger Freund, ich gehöre wahrlich nicht zu denen, welche, wenn ihr Kind zu ihnen kommt, sie um ein Stück Brot zu bitten, ihm einen Stein reichen. Sie sind nicht mein Kind, und sind kein Kind mehr – das beweist der Muth, den Sie in dieser Angelegenheit an den Tag legen. Aber Sie sind doch auch noch kein Mann, und so ist es schwer, Ihnen die Wahrheit zu sagen und so zu sagen daß Sie sie verstehen. Ich will es versuchen und will Ihnen bis an die äußerste Grenze entgegenkommen, die ich freilich nicht überschreiten darf. Sehen Sie, die Sache ist die, daß heutzutage wenige – ich meine von den wahrhaft Gebildeten, die nicht bloß studirt, sondern auch gedacht haben – den Lutherischen Katechismus, wie er da steht, in Bausch und Bogen mit gutem Gewissen und aus voller Ueberzeugung unterschreiben könnten.

Dennoch bekennen sie sich zur Kirche und mit Recht. Die Kirche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_062.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)