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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Der Tod wäre mir freilich lieber gewesen,“ erwiderte er mit seinem schwermüthigen Lächeln, „aber man fragte mich eben nicht. Ebensowenig, ob ich das Tischlern verstehe, wozu man mich kommandirt hatte, als neine Hand so weit geheilt war. Siehst Du, Kind, so bin ich Tischler geworden und auch sogleich Sargtischler. Denn es waren viele von uns in einem jämmerlichen Zustande ins Gefängniß gekommen; gar manchem zehrten Kummer, Gram und Verzweiflung am Herzen und die bange Sorge um die Ihren, die sie oft hilflos zurückgelassen; dazu die veränderte Lebensweise und – genug, der Tod hielt reiche Ernte, besonders in den ersten Jahren, und ich hatte vollauf Gelegenheit, mich in meiner neuen Kunst zu üben. Mein Fleiß und meine Geschicklichkeit blieben nicht unbemerkt; man machte mich zu einer Art von Oberarbeiter und gewährte mir sogar einen kleinen Nebenverdienst, worauf ich es eben abgesehen hatte. Konnte ich doch so aus dem Gefängniß heraus für Frau und Kinder, wenn auch kümmerlich, sorgen; das Uebrige, hoffte ich, würden ja wohl barmherzige Menschen thun. Da – Kind, erschrick nicht! – da eines Tages läßt mich der Direktor rufen, um mir mitzutheilen, daß meine Frau sich habe von mir scheiden lassen, wozu sie, als Gattin eines zu entehrender Strafe Verurtheilten – abgesehen von der Lebenslänglichkeit der Strafe – berechtigt sei. Und wieder ein paar Monate später folgte dieser Mittheilung die andere, daß sie geheirathet habe. Ich war darauf gefaßt gewesen, aber die Wahl, die sie getroffen hatte, erschreckte mich: ein früherer Kollege von mir, der aber bereits, ehe ich nach Waldheim kam, in Trunk und Wüstheit schier verkommen und in den Maitagen als Spion und Verräther der Sache, zu der er sich scheinbar bekannte, gebrandmarkt war. Und ich wußte, wer die Aermste, die nie einen eigenen Willen hatte, zu diesem Schritt gedrängt, der sie ins Verderben führen mußte – sie und meine unglücklichen Kinder. Sie war für mich verloren und war verloren, und der barmherzige Tod hat denn auch bald ein Einsehen gehabt und sie erlöst. Aber die Kinder! die Kinder! Die mußte ich zu retten suchen. Acht Tage später war ich aus dem Gefängniß entsprungen.“

„Hurrah!" rief ich und schlug dann die Augen nieder, beschämt von der tiefen Schwermuth, die aus dem Auge des Vaters blickte, trotzdem er über meinen knabenhaften Enthusiasmus zu lächeln versuchte.

„Nun ja," sagte er, „es war schon eine schöne Sache, wieder einmal die Luft außerhalb der Gefängnißmauern zu athmen und die Bäume des Waldes über mir rauschen zu hören. Und dazu hatte ich jetzt Tag und Nacht Gelegenheit, denn ich lebte im Walde – in meiner Heimath – ,oben auf dem Walde‘, weißt Du – wie in der Kinderzeit: von Beeren und von dem Brot, das mir der Bruder Nagelschmied und die anderen verstohlener Weise reichten, wie ich denn auch verstohlener Weise manchmal in einer ihrer Hütten schlief. Denn sie waren mir fortwährend hart auf der Spur, wie es denn auch thöricht von mir gewesen war, gerade nach der Heimath zu fliehen, wo sie mich am ehesten suchen mußten. So konnte ich denn auch nicht daran denken, zu den Kindern zu gelangen, trotzdem ich wußte, wo sie sich befanden. Es war gekommen, wie ich gefürchtet: der schlechte Mensch hatte sie aus dem Hause gejagt – sie und die Großmutter, trotzdem gerade diese ihm die Tochter ausgeliefert. Ich mußte also weiter und gelangte unter mancherlei Gefahren immer durch Wald und Oeden auf Pfaden, die nur Kohlenbrenner und Schmuggler kannten, über die Grenze nach Böhmen, wo ich mich einigermaßen sicher fühlen durfte und bald die Kinder sammt der Großmutter nachkommen lassen konnte. Ich hatte nämlich, von einigen Gesinnungsgenossen unterstützt, das im Gefängniß erlernte Handwerk wieder aufgenommen; an die Kunst dachte ich nicht mehr; sie war und blieb mir ein Heiligthum, dessen ich mich unwürdig gemacht hatte und das ich nie wieder betreten durfte. Auch nicht wieder betreten wollte trotz des Zuredens Deiner Mutter. Ich weiß nicht, ob sie es gutheißen würde, daß ich Dir dies alles erzähle; aber –“

Der Vater machte eine kleine Pause, sich die Lippen zu netzen. Ich wagte nicht, die Augen aufzuschlagen, damit er das Fieber der Erwartung, von dem ich fühlte, daß es in ihnen brennen müsse, nicht sehen möge. Meine Mutter! Zum ersten Male trat sie in die Erzählung ein. Woher? Wie? mir siedete das Blut in den Schläfen, während ich so da saß mit, wie ich glaubte, unbefangener Miene. Sie möchte auch wohl anderen so erschienen sein; aber für das zartbesaitete Herz des Mannes mir gegenüber, das nur im Mitgefühl lebte, gab es keinen Schein.

„Armes Kind,“ sagte er, mir über den Tisch hinüber die verstümmelte Linke auf meine Hand legend; „sieh, noch einen Finger gäbe ich darum oder ein paar, könnte ich Dir nach so manchem Leid und Weh, von dem ich zu berichten hatte, nun von lauter freundlichen und erfreulichen Dingen erzählen. Aber so wenig wie ich mir den Finger wieder wachsen lassen kann, wie nöthig ich ihn oft brauchte, so wenig kann ich die Geschichte meines Lebens, die jetzt auch die Deiner Mutter und Deine eigene wird, anders und heller machen, als sie in Wirklichkeit war, wie gern ich’s möchte. Ich möchte Dir vor allem einen recht wackeren Mann zum Vater geben; aber das ist Dein Vater nicht gewesen. Er hat Deine Mutter, die, als eine Waise, bei entfernten Verwandten im südlichen Rußland aufgewachsen ist, wie es scheint, nur eines nicht unbedeutenden Vermögens willen geheirathet, das sie besaß, und das er bereits nach wenigen Monaten zum größten Theil durchgebracht hatte, als er in einem kleinen Neste da unten in der Krim starb. Da bist Du auch geboren – auf einer Reise, die Deine Mutter zu ihm, der sie verlassen hatte, unternahm, nachdem er sie in zu später Reue an sein Sterbebett gerufen. Deine Mutter hatte sich dann nach Deutschland begeben, woher sie ursprünglich stammte, weil ihr die zweite Heimath so schwer verleidet war, und um ihre Gesundheit, welche arg gelitten hatte, wiederherzustellen. Da hat sie hier an verschiedenen Orten gelebt unter ihrem Mädchennamen – Katharina Frank – Dein Vater hieß Herzog – war übrigens auch ein Deutscher – meistens in Bädern, eben ihrer erschütterten Gesundheit willen. Und eben war sie wieder auf der Reise nach einem böhmischen Bade, als sie in unserm kleinen Orte liegen bleiben mußte, da eine schwere Krankheit, mit der sie sich wohl schon länger getragen hatte, und die durch einen großen Schrecken befördert sein mochte, welchen sie auf der Reise gehabt, zum Ausbruch kam. Es scheint, daß sie selbst und Du, Kind, in irgend welcher Lebensgefahr gewesen seid, aus der man Euch nur eben noch gerettet hat. Ich nehme das aber aus den Phantasieen an, von denen sie während ihrer Krankheit fortwährend gequält wurde, und die ich wohl mit anhören mußte, da sie in meiner kleinen Wohnung lag. Es gab wohl einen elenden Gasthof im Orte, aber der Wirth wollte die Kranke, die ihm die anderen Gäste verscheuchte, in seinem Hause nicht dulden, so nahm ich sie auf und pflegte sie, so gut es ohne Arzt und Apotheker möglich war, mit Hilfe einer barmherzigen Schwester, welche der Geistliche des Ortes herbeigeschafft hatte. Der Geistliche war in seiner Weise ein guter Mann, und er mochte es für seine weitere Pflicht halten, daß, nachdem er die leibliche Krankheit hatte bekämpfen helfen, er nun auch die gefährdete Seele retten müsse. So wurde Deine Mutter katholisch, Kind, und ich wäre es ihr zu Liebe beinahe geworden, denn ich liebte sie sehr, Deine Mutter, und hätte für sie jedes andere Opfer gern gebracht. Nur lügen konnte ich nie, und ein katholisches Bekenntniß, oder irgend ein religiöses Bekenntniß wäre für mich eine Lüge gewesen. Anders aber wollte der Priester uns nicht zusammengeben, und als er es zuletzt dennoch that, war es ein segenloser Bund. Fern sei es von mir, Deine Mutter anzuklagen! Sie hat mir nie verhehlt, daß sie mich nur aus Freundschaft und Dankbarkeit für das, was ich an ihr und Dir getan, heirathen könne; und wenn ich trotzdem hoffte, daß sie mich, den verkommenen Künstler, der zum Handwerker geworden war, und den schon damals das feuchte Loch, in welchem ich in Waldheim drei Jahre lang geschlafen, zum alten Mann gemacht hatte – daß sie mich dennoch dereinst lieben lernen würde, so war das nur einer von den vielen unerfüllten Träumen meines Lebens. Vielleicht wenn ich wieder Künstler und ein berühmter Künstler geworden wäre! Die Möglichkeit dazu war wenigstens gegeben. Mein guter Meister hatte, ohne mein Hinzuthun und Wissen, bei dem Könige von Sachsen meine Begnadigung ausgewirkt; ich hätte, wenn nicht in Dresden, wo es nicht wohl gegangen wäre, so doch wo anders mein Heil versuchen können. Ich aber wußte, daß meine Kraft gebrochen war, daß alles Mühen und Ringen vergeblich sein und mir nur die Ruhe rauben würde, die sich nun doch nach den harten Stürmen in meiner Seele

eingefunden hatte, und mir süßer dünkte als alles irdische Glück.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_080.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2024)