Seite:Die Gartenlaube (1886) 094.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

musterten im Vollgefühl der höheren Würde die „Füchse“ und schienen, nach ihren mißvergnügten Mienen zu schließen, an den neuen Acquisitionen keine besondere Freude zu haben, besonders nicht an Emil Israel, der sich, als der Letzte, noch eben durch das Examen gedrückt hatte und der, in Folgte dessen, jetzt auch wieder als der Letzte still auf seinem Platze saß, verschüchtert durch so viel auf ihn gerichtete übelwollende Blicke, daß er nicht mehr die kurzsichtigen Augen aufzuschlagen wagte. Ich hatte mich mit einem ganz Neuen unterhalten, einem, der von auswärts gekommen und mir durch die ernste Miene seines blassen, feingeschnittenen Gesichtes aufgefallen war. Er hatte mir seinen Namen genannt: Adalbert von Werin, und wir wollten uns eben in eine schwierige Optativ- Frage, die in der eben stattgehabten Homer-Stunde nicht zum Austrag gekommen war, vertiefen, als meine Aufmerksamkeit auf unliebsame Weise abgelenkt wurde.

Vor dem armen Emil stand Astolf von Vogtriz, der Bruder von Ulrich (welcher ebenfalls zu den „Füchsen“ gehörte, während Astolf bereits ein Jahr in der Prima saß), und ließ es sich angelegen sein, den „Judenjungen“ nach Gebühr zu hänseln. Ich hatte das Wort über dem Lärmen, das in der Klasse herrschte, nicht gehört, aber ich las es dem schönen Astolf förmlich von den hochmüthig gekräuselten Lippen und sah, wie es den armen Emil gekränkt, an dem weinerlichen Zucken seines Mundes, das ich so gut kannte. Mit ein paar raschen Schritten war ich von meinem neuen Bekannten weg an Emil’s Seite und ersuchte den Andern mit ruhiger Stimme, trotzdem mir bereits das Blut heftig wallte, „meinen Freund ungeschoren zu lassen“.

Die schönen, hochmüthigen Augen wandten sich auf mich mit einem Blick mehr des Erstaunens als des Zornes.

„Und wer bist Du denn?“ fragte er, mich von Kopf bis zu den Füßen messend; „ich habe, so viel ich weiß, noch nicht die Ehre gehabt.“

„Die Ehre würde allerdings auf Deiner Seite sein,“ erwiderte ich, „nach dem Betragen zu schließen, dessen Du Dich hier eben beflissen hast. Ich meinestheils sehe wenigstens keine Ehre darin, einen offenbar Schwächeren zu hänseln, noch dazu in einer so brutalen Weise.“

Wir standen uns dicht gegenüber mit blassen Gesichtern (wenn meines, wie ich vermuthe, so bleich war wie seines); und daß mein Athem in kurzen Stößen kam und ging, wie der seine, hörte ich deutlich genug. Und jetzt sprühten seine Augen hellen Zorn; ich mußte im nächsten Moment einen Schlag von seiner geballten Faust erwarten. Aber er bezwang sich zu meinem Erstaunen und sagte, sich auf den Hacken umdrehend, nur so über die Schulter:

„Wir sprechen uns ein andermal.“

„Ich trage kein Verlangen danach,“ rief ich hinter ihm her.

Ein paar „Alte“, die der Streit herbeigelockt, schienen einen andern Ausgang erwartet zu haben, und nahmen die Sache, die jener hatte fallen lassen, wieder auf. Höhnende Worte von allen Seiten, drohende Gesten. Und dann weiß ich nicht, hatte ich einen, der sich in beleidigend unbequeme Nähe herangedrängt, zurückgestoßen; hatte einer wirklich Hand an mich gelegt – plötzlich ertönte der Ruf „Hinaus!“ und zwölf Hände zugleich hatten mich erfaßt, die Exekution zur Ausführung zu bringen. Es war nicht so einfach, wie sie sich gedacht haben mochten: gewandt und für meine Jahre stark, wie ich war, hatte ich mich mit einer blitzschnellen gewaltsamen Bewegung von ihnen befreit und war meinerseits zum Angreifer geworden, so daß es mir gelang, mir meine sämmtlichen Gegner vom Leibe zu halten, freilich nicht, ohne die Kunst des Boxens, wie ich sie von meinen Freunden in der Hafengasse erlernt, ausgiebig zur Anwendung zu bringen. Dennoch hätte ich zweifellos der Ueberzahl der Feinde in kürzester Frist erliegen müssen, wie der wackere Ivanhoe den seinen am zweiten Tage des Turniers von Asby, wäre mir nicht, eben wie dem „Deschidado“, ein „Schwarzer Ritter“ gekommen, auf den ich nicht gerechnet hatte.

„Hollah!“ rief eine helle Stimme, die den Lärm übertönte, „sechs gegen einen! Schämt ihr Euch nicht?“

Und zwei Fäuste griffen in dem Schwarm einen und schleuderten ihn sechs Schritt links, und einen Zweiten und schleuderten ihn sechs Schritt nach rechts, und als sie so dem, welchem sie gehörten, freie Bahn gemacht, stand er selbst neben mir – Ulrich von Vogtriz – und seine helle Stimme rief:

„Kommt heran, wenn ihr noch etwas wollt! Das sage ich Euch aber, den Ersten, der sich heranwagt, schlage ich nieder, daß er das Aufstehen vergessen soll.“

Es hatte offenbar Keiner Lust, mit dem Hünen anzubinden, als plötzlich Astolf, der sich übrigens an der Rauferei nicht betheiligt hatte, rasch auf seinen Bruder zuschritt, der ihn mit finster zusammengezogenen Brauen erwartete. Aber bevor noch die beiden Brüder aneinander kamen, hatte ich mich zwischen sie geworfen, Ulrich zurufend:

„Halte mir nur die Anderen vom Leibe! Mit Deinem Bruder werde ich schon selber fertig!“

„Hast Recht,“ sagte Ulrich, bei Seite tretend, und dann zu seinem Bruder in gutmüthigem Spott: „Sieh Dich vor, Astolf! es sollte mir um Deine Nase leid thun. Ich weiß, Du hältst große Stücke darauf.“

Adolf schleuderte ihm ein heftiges Wort zu und wandte sich gegen mich, aber es sollte uns glücklicherweise eine Fortsetzung der leidigen, für eine Prima unerhörten Scene erspart werden; der Ordinarius, Professor Willy, trat herein, ließ unter den halb gesenkten Lidern für ein paar Momente seinen Blick über unsere glühenden Gesichter schweifen, machte dann aber mit seiner sanften Stimme nur eine Bemerkung über den häßlichen Staub, welchen wir doch schon um unsertwillen zu erregen vermeiden sollten, bestieg das Katheder und die Lektion begann.

Eine Litteraturlektion, in der das Thema zu unserm ersten deutschen Aufsatz: „Schiller’s Idealismus, mit besonderer Beziehung auf ‚Das Lied von der Glocke‘“ von ihm exponirt wurde in einem Frage- und Antwortspiel, das er geschickt zu leiten wußte und von Zeit zu Zeit durch Exkurse unterbrach, in welchem er schwierigere Punkte zusammenhängend erläuterte. Es war für mich ein eigener Zauber in diesen Ergießungen, denn so mußte man sie wohl nennen. Offenbar war das Herz des Mannes in den Worten die ihm in einem sanft dahingleitenden Strom von den schöngeschwungenen Lippen flossen. Und manchmal wallte es aus dem Strom auf, aber nicht in unruhigen Wirbeln, sondern wie wenn eine Quelle aus der Tiefe nach oben dränge, ihr lauteres Wasser mit dem des Stromes zu mischen, und dann hoben sich wohl auch die halb gesenkten Lider vollends: man durfte in ein paar große, fast schwärzlich blaue Augen blicken, und die schöngeschwungenen Lippen zitterten. Ich hatte dergleichen noch nie erfahren und vernommen. Das war nicht des Pastors Feuereifer, der den Hörer versengte; das war nicht die kühle Logik, mit welcher Professor von Hunnius seinen Schülern die konfusen Köpfe zurechtsetzte – ein paarmal wurde ich wohl an den Vater erinnert, aber doch nur, wie man sich bei einer prunkhaften Zierblume, deren Duft uns berauscht, der bescheidenen Wiesenblume erinnert. Ich fühlte förmlich, wie mir dieser Rausch zu Kopf stieg, aber willig gab ich mich einer Empfindung hin, die mich über mich selbst hinauszuheben schien. Wie gebannt hing mein Blick an dem Redner, und es mochte wohl deßhalb sein, daß auch sein Blick sich wiederholt auf mich wandte und er zuletzt nur noch zu mir zu sprechen schien. Jedenfalls hatte ich alle Anderen und alles Andere – und gewiß die eben stattgehabte Scene – völlig vergessen und erwachte, als die Stunde zu Ende war, mit einem tiefen Athemzuge, wie aus einem schönen Traume.

Und in dieser traumhaften Stimmung war ich noch, als ich durch die Straßen, in welchen heller warmer Frühlingssonnenschein lag, nach Hause schlenderte. Allein: Emil Israel, mein sonstiger stetiger Begleiter auf den Schulwegen, mußte vorausgelaufen sein. Ich mochte ihn heute leicht entbehren. Durfte ich doch überzeugt sein, daß der gute Junge von dem Vortrage unseres neuen Professors kaum ein Wort verstanden habe! Ich aber wälzte, was ich vernommen, eifrig in meiner bewegten Seele und schritt so, nachdenklich, vor mich hin, als sich plötzlich der „ganz Neue“, Adalbert von Werin, zu mir gesellte. Es stellte sich heraus, daß wir so ziemlich denselben Weg hatten: er wohnte mit Mutter und Schwester in einer der Hafengasse zunächst benachbarten Straße, die er mir nannte. Die Straße war womöglich noch weniger vornehm als die Hafengasse, ja, fast verrufen, und ich sagte mir sofort mit jenem Scharfsinn, welchen selbst arme Knaben für dergleichen Dinge haben, daß Leute, die sich da einquartierten, mindestens nicht reich sein könnten. Eine verstohlene Musterung,

die ich jetzt zum ersten Male mit dem Anzug meines neuen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_094.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2024)