Seite:Die Gartenlaube (1886) 096.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sie hob für einen Moment die schweren Lider, blickte aber sofort wieder in den Schoß und erwiderte fast tonlos:

„Darüber nicht. Ich freue mich sogar, daß Du ihn los wirst. Je älter Ihr wurdet, eine desto schwerere Last wurde er für Dich. Einmal des Lernens wegen und dann der andern Knaben wegen. Es war schon schlimm genug hier in der Gasse, und ich habe mich oft halb zu Tode geängstigt; aber in der Schule ist es noch schlimmer – viel schlimmer, zum Beispiel heute: Du hast Dich gegen zwölf Gegner wehren müssen –“

„Sechs,“ warf ich stolz bescheiden ein.

„Gleichviel – es bringt Dir nur Schaden, zumal Du wegen der anderen Sache schon so schlecht angeschriebem bist. Und deßhalb finde ich es auch nicht recht –“

Sie stockte und fuhr dann mit verhaltenem Weinen fort:

„Vater hätte doch nur einfach zu sagen brauchen, daß Emil abgehen solle, da ja doch schon alles vorher beschlossen war. Aber er ist so außer sich über die Sache in der Schule heute – und nun ist er zum Direktor gegangen, um sich darüber zu beklagen, und daß er deßhalb Emil vom Gymnasium nehmen müsse. Ich habe ihn so gebeten, er solle davon nicht reden, denn jetzt würde von der Sache gewiß nicht weiter gesprochen, während es nun herauskommt, daß Du Dich gleich am ersten Tage in der Klasse gerauft hast –“

Sie konnte nicht weiter vor dem Weinen, das sich in unaufhaltsamen Thränen Luft machte; kaum, daß sie noch hervorzubringen vermochte:

„Nun bist Du gewiß bös und willst nichts mehr mit uns zu thun haben."

Ich war allerdings sehr entrüstet. Wer konnte wissen, wie der mir feindlich gesinnte Direktor die leidige Affaire gegen mich ausbeutete, nachdem ihm dieselbe officiell als Grund des Abgangs eines Schülers mitgetheilt war. Ich hatte freilich den Streit nicht provocirt; aber die Vogtriz waren seine Pensionäre, und ich hatte gegründete Veranlassung, auf den Gerechtigkeitssinn des Herrn Direktors nicht allzuvertrauensvoll zu bauen.

Dies überdenkend, saß ich in stummem Unmuth da, während Jettchen jetzt leiser weiter weinte, als, nun doch von uns unerwartet und überhört, die Mutter hereintrat. Sie sah sofort, daß Jettchen mir alles gesagt hatte, und auch ihre Sorge war, wie ich es nehmen würde. Sogar ihre Entschuldigung war dieselbe: der Vater sei außer sich gewesen.

Ich weiß nicht, war es die Wiederholung der identischen Worte, war es eine fast instinktive Empfindung, die im Grunde doch aus meiner intimen Kenntniß der Personen hervorging: ich konnte an das „Außersichsein“ von Isaak Israel über eine derartige Veranlassung nicht glauben. Und hatte weiter den Verdacht, daß auch die beiden Frauen daran nicht glaubten. Ich hütete mich natürlich zu sagen, was in mir vorging, und wurde auch der Mühe, meinerseits zu lügen und die Frauen durch gespielte Unbefangenheit zu beruhigen, überhoben, da jetzt die Hausthürschelle klapperte und Herr Israel mit seiner quecksilbernen Beweglichkeit in das Zimmer trippelte. Er stutzte, als er mich sah, faßte sich aber alsbald und bat mich, ihm in seinem Komptoir einige Minuten zu schenken. Ich folgte ihm sofort über den Flur, wo er mit zwei Schlüsseln: einem großen und einem kleinen, die Thür zum Komptoir aufsperrte und mich hinein und auf ein hartes zweisitziges Sofa komplimentierte, während er selbst auf dem hohen Drehstuhl vor dem Stehpult niederhockte.

Doch nur für wenige Augenblicke, um dann aufzuspringen und heftig gestikulirend vor mir in dem schmalen Zimmerchen zwischen dem großen Geldschrank im Hintergrunde und dem Stehpult am Fenster auf- und abzulaufen:

„Das Maß sei voll; er könne und wolle nicht mehr geduldig mit ansehen, wie sein Emil, sein einziger Sohn, mißhandelt werde aus keinem anderen Grunde, als weil er ein Jude sei und fest im Glauben seiner Väter stehe. Bis jetzt habe er es ertragen in der Hoffnung, daß aus den oberen Klassen einer gelehrten Schule dergleichen Brutalitäten ein für allemal verbannt seien. Er sei mir ja persönlich auf das Innigste dankbar für den Schutz, den ich nach wie vor seinem Emil gewähre; aber dieser Schutz genüge ihm nicht; er wolle den des Gesetzes. Und der werde ihm nicht werden. Diese Ueberzeugung habe er aus seiner Konferenz mit dem Direktor gewonnen„ von welchem er eben komme. Der Direktor habe nicht versprochen, den jungen Herrn Astolf von Vogtriz zu bestrafen, sondern den ,Schuldigen‘, und wer der sei, werde erst die Untersuchung herausstellen. – ,Nun Herr Direktor,‘ habe ich gesagt, ‚ich habe es etwas eilig und keine Zeit, das Resultat abzuwarten, bei dem sich am Ende herausstellt, daß mein Emil ,der Schuldige‘ ist. Ich ziehe es vor, ihn aus einer Anstalt zu nehmen, in welcher ein Knabe selbst in der obersten Klasse nicht ungestraft Jude sein kann. Lieber soll er drei Jahre die Muskete tragen; lieber unter der Last, der seine Schultern nicht gewachsen sind, zusammenbrechen, als noch einen Tag länger die Zielscheibe vergifteter Pfeile sein.‘ – Das habe ich gesagt, und das Wort werde ich halten, so wahr ich Isaak Israel heiße! He?“

Er hatte wieder auf dem hochbeinigen Schemel gesessen, von dem er nun bei den letzten Worten abermals wie elektrisirt herabhüpfte. Ich hatte den Mann nie so gesehen. Ich traute meinen Augen kaum und ebenso wenig meinen Ohren. Was er da vorbrachte, war ja nach dem, was ich eben drüben aus Jettchens wahrhaftigem Munde gehört, ganz offenbar gelogen. Er würde Emil auf jeden Fall jetzt aus der Schule genommen haben. Welchen Grund hatte er, ein anderes Motiv vorzuschützen und aus einer einfachen Sache eine Haupt- und Staatsaktion zu machen?

Er war in dem Hintergrunde des Zimmerchens vor dem großen Geldschranke stehen geblieben, mir den Rücken zuwendend und mit den Schlüsseln in der Tasche klimpernd. Plötzlich drehte er sich wieder um und rief mit heiserer Stimme:

„Wenn der Herr Direktor sagt: es müsse freilich Aergerniß in die Welt kommen, wehe aber Dem, durch den es käme, und damit meinen Emil meint – es giebt viel Aergerniß in der Welt. He? Mir sind Leute ein Aergerniß, die nicht rechnen und nie mit ihrem Gelde auskommen können und sich dabei den Luxus hochmüthiger Herren Söhne verstatten zu dürfen glauben. Wir werden uns nächsten Johanni wieder sprechen, der Herr von Vogtriz auf Nonnendorf und ich, wir werden uns wieder sprechen! – Wollen Sie das Wechselchen prolongiren, lieber Israel? – Thut mir leid, Herr Baron, kann’s beim besten Willen nicht so lang machen wie eine Judennase! He?“

Isaak Israel lachte, und es klang fast wie das Klappern der Hausthürschelle. Es beleidigte mein Ohr, wie die Reden, die der Mann führte, mich innerlich verletzt, ja empört hatten. Ich verstand zwar von Geschäften ganz und gar nichts, hatte nur eine äußerst vage Vorstellung von einem Wechsel, glaubte aber annehmen zu dürfen, daß es ein gefährliches Ding sei, welches Dem, der es in seinem eisernen Geldschrank habe, einen großen Vortheil gebe gegen Den, von welchem er es habe, und daß Herr Israel sich dieses Vortheils gegen den Vater der beiden Vogtriz bedienen wollte, und um sich desselben recht nach Herzenslust bedienen zu können, jetzt den Beleidigten spiele, ohne danach zu fragen, ob er mich – den Freund seines Sohnes – dadurch nicht in die größten Ungelegenheiten bringe. Ja, war denn das nicht buchstäblich, wie mein spöttischer Begleiter auf dem Nachhausewege gesagt hatte? Hatte ich, der Bürgersohn, mich nicht für den Judensohn nur deßhalb mit den Adligen geschlagen, damit jetzt der Vater Jude sein Müthchen kühle an den Adligen auf Kosten des Bürgersohnes?

Ich erschrak über das grelle Licht, das da plötzlich in meine Seele fiel. Bisher hatte ich den kleinen Mann, der mich immer mit so ausgesuchter Höflichkeit behandelte, den ich gegen die Arbeiter und nun gar gegen seine Familie nie anders als wiederum höflich und freundlich gesehen, für das harmloseste Wesen von der Welt gehalten. Nun, wie er da vor mir in dem Zimmerchen hin- und herhuschte mit seltsam zappelnden Bewegungen während des eifrigen Sprechens, das beinahe ein Kreischen war, bald die rechte, bald die linke Hand an das Ohr legend, um zu hören, ob sich auf dem Flure etwas rege, oder ich vielleicht ein Wort geäußert habe, erschien er mir wie ein böses Thier, wie eine große Ohreule, die nach Mäusen jagt. Ich konnte ihm das natürlich nicht sagen und saß schweigend da, aber der Ausdruck meiner Mienen mochte beredt genug gewesen sein, oder es war dem klugen Manne auch von selbst beigefallen, daß er seine Karten denn doch allzu offen gezeigt, selbst einem jungen Menschen gegenüber, der von dem Spiele des Lebens so wenig verstand. Wieder legte er die Hand an das Ohr: ich saß noch immer stumm. Er

kam zu dem Drehstuhle zurück, hüpfte hinauf, räusperte sich und

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_096.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2024)