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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

sagte – jetzt in einem ganz anderen, seinem gewohnten Tone schmeichelnder Höflichkeit, welcher manchmal sogar etwas Schalkhaftes hatte:

„Habe Ihnen eben ein abschreckendes Beispiel gegeben, lieber Herr Lorenz, he? Ja, ja, alte Leute sollten sich nicht ereifern. Wenn das am dürren Holze geschieht, was soll an Eurem jungen grünen Holze geschehen? Und was können Sie dafür, daß jetzt die Herren Gelehrten, wie früher die Herren Adligen, ihr Müthchen kühlen wollen an dem armen Juden? Der arme Jude wird ihnen zeigen – sagten Sie etwas? he? Nun, ich dachte, Sie würden mich schelten, weil ich zu dem Herrn Direktor gegangen bin. War übrigens so weit ganz höflich, der Herr Direktor. Und daß Ihnen aus der Sache eine Unannehmlichkeit erwächst, daran ist nicht zu denken. Da habe ich vorgebeugt. Und auch meinem Emil dürfen Sie es nicht nachtragen; Sie müssen sein Freund bleiben. Was wäre mein Emil ohne Sie! Und – Sie sagten etwas? he? Nun, ich wollte eben bemerken: ich würde glücklich sein, wenn ich etwas dazu thun könnte, Sie meinem Emil auf die Dauer zu erhalten, immer an seiner Seite, als sein Berather und starker Helfer. Mein Emil ist nicht stark –“

„Außer im Rechnen,“ murmelte ich.

Herr Israel hatte es diesmal doch gehört, ohne die Hand an das Ohr gelegt zu haben. Er lächelte schalkhaft:

„Außer im Rechnen! he? ganz recht. Und deßhalb soll er auch Kaufmann werden – ich habe bereits vorläufig mit Konsul Riekelmann gesprochen – konfuser Kopf, aber doch die größte Firma hier am Platze – was ich sagen wollte! ja: zum Kaufmann gehört mehr als bloß Rechnen. Dazu gehört Muth, Welt- und Menschenkenntniß, ein feines Benehmen, ein einnehmendes Exterieur – lauter Dinge, die Sie entweder bereits besitzen oder sicher mit den Jahren sich spielend aneignen werden. Sie sagten? he? Wozu auch: Sie sind viel zu klug, um es nicht längst gewußt zu haben, wo ich hinaus will. Was könnten Sie, wie heute die Geschäftslage ist, Besseres thun, als Kaufmann werden? Ihr Stiefvater ist ein braver Mann, aber – unter uns – in bedenklicher Weise unpraktisch. Ich sehe die Zeit kommem, wo er nur noch mit Schaden arbeitet. Ihre Frau Mutter hat, glaube ich, einiges Vermögen – Sie sagten etwas? he? – Nun, so muß ich freilich offen sein. Ihre Frau Mutter hat einiges Vermögen, das in meinem Geschäft angelegt ist, he? und das ich höher verzinse, als sonst üblich. Es ist so viel: Sie könnten dereinst von den Zinsen leben, das heißt: bei bescheidenen Ansprüchen. Aber wer steht Ihnen dafür, daß Ihre Frau Mutter, im Falle das Unglück wollte, daß Ihr lieber Stiefvater stürbe, nicht wieder heirathete? Sie sagten? he? Sie halten es für unwahrscheinlich? Ganz und gar nicht: Ihre Frau Mutter ist nach meiner Rechnung kaum in der Mitte der Dreißiger, he? und eine selten schöne Dame, die jetzt für die Andacht lebt, aber das kann sich ändern. Und Sie sind dann auf sich angewiesen – à la bonne heure! Robinson Crusoe? he? Lamas – Kartoffeln in der Asche – Goldklumpen? he? Alles Hirngespinnste, glauben Sie mir: pure Hirngespinnste! In der Welt, wie sie geht und steht, da heißt es Konnexion, Protektion, Gehorsamsein, Katzenbuckeln, den Mantel nach dem Wind hängen, Ja und Nein sagen in einem Athem. Sie sagten? Das sei nicht Ihre Art? he? Das ist es ja gerade, weßhalb Sie Kaufmann werden müssen. Heut zu Tage giebt es nur einen freien Mann: den Kaufmann – natürlich, wenn er Geld hat. Aber dazu ist er ja eben Kaufmann, um welches zu machen. Es giebt heut zu Tage keine Macht, als das Geld. Alles Andere scheint nur Macht, ist aber keine. Sie müssen Alle zu uns kommen: Edelleute, Bauern, Fürsten, Konservative, Liberale, selbst die Socialdemokraten – Alle! Alle! Alle! he?“

Der kleine Mann zappelte mit Händen und Füßen, daß der Drehstuhl in die Wette mit seiner Stimme knarrte, und ich dachte, er müsse herunterfallen. Der komische Anblick und des zappelnden Mannes wunderliche Sprechweise mit den „He’s“ und „Sie sagten?“ wirkten viel stärker als seine Lobpreisung eines Dinges, das ich so gründlich verachtete, wie das Geld. Auch war ich für meine Jahre und mein Temperament heute schon zu lange ernsthaft gewesen – ich versuchte es noch damit, daß ich die Lippen auf einander biß, aber es that’s nicht, und ich brach in ein schallendes Gelächter aus.

„He? He?“ sagte der kleine Mann mit beiden Händen an den Ohren. Ich sprang von dem harten Sofa auf und trat zu ihm.

„Verzeihen Sie, Herr Israel – es ist sehr unschicklich von mir – aber ich: ein Kaufmann und Geld machen! – Sehen Sie, da könnten Sie mich ebenso gut lebendig in Ihren eisernen Schrank –“

Das Lachen wollte wieder ausbrechen, aber ich bezwang mich und sagte ganz ernsthaft:

„Nein, lieber Herr Israel, wenn ich was vermöchte, dann würde ich dafür sorgen, daß es gar kein Geld mehr in der Welt gäbe und Keiner mehr zu katzenbuckeln brauchte und alle Menschen freie Menschen wären, alle, alle!“

Herr Israel saß da, ohne sich zu regen – mit dem auf die Seite geneigten Kopfe, der langen, krummen Nase, den runden, zu mir aufblinzelnden Augen und der Hand, die noch an seinem rechten Ohre lag, mehr als je einer alten Eule ähnlich – wie ich wähnte, in tiefstem Nachdenken über das, was ich eben gesagt hatte, und was mir in meinem jugendlichen Dünkel als der Abgrund der Weisheit erschien.

Und im Vollgefühle dieses meines intellektuellen und moralischen Triumphes über den armen banausischen Geldmacher stolzirte ich zum Komptoir und zum Hause hinaus.

Hinter mir, als ich die Hausthür schloß, klapperte die Schelle überlaut. Wäre ich nicht ein Triumphator gewesen, hätte ich wohl daraus das Lachen hören können, das auf seinem Drehstuhle Angesichts seines eisernen Geldschrankes sicherlich in diesem Augenblicke Isaak Israel hinter dem jugendlichen Phantasten gelacht hat.

(Fortsetzung folgt.)

Allotriophagie.

Plauderei über allerlei Esser und Fresser. 0 Von Rudolf Kleinpaul.

Vor Kurzem hat der Fall großes Aufsehen erregt, daß der Barbier Möcke in Dresden ein Oberkiefergebiß verschluckt hatte und daß dann dieses Gebiß aus dem Magen durch Operation entfernt ward. Man erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß eine ähnliche Operation bereits sechsmal ausgeführt worden ist: das erste Mal hat es sich um ein verschlucktes Messer, das zweite Mal um einen Löffel, das dritte Mal um eine Gabel, das vierte Mal um eine abgebrochene Schlundsonde aus Draht, das fünfte Mal um eine Haarfilzgeschwulst, entstanden durch jahrelanges Abbeißen der Spitzen des eigenen Zopfes, das sechste Mal gleichfalls um ein Gebiß gehandelt, und zwar ist der Erfolg dieser Operationen meist ein glücklicher gewesen.

Mir brachte der Dresdener Barbier lebhaft den Florentiner Gabelverschlucker Egisto Cipriani in Erinnerung, der als „Uomo della Forchetta“ in Italien eine gewisse Popularität genießt und den ich vor zehn Jahren in Florenz öfters gesehen und gesprochen habe. Der junge Mann, der damals etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatte einmal in einem öffentlichen Lokale zum Scherze eine 21 Centimeter lange Gabel von Komposition soweit wie möglich in den Rachen gesteckt und dann unwillkürlich hinuntergeschlungen, die er nun wohlgemuth und ohne große Beschwerden mit sich herumtrug. Er schlug sogar Kapital daraus, denn er ließ sich im Tivoli sehen, allwo er in grünseidenem Wamse und rothem Trikot ganze Eier hinunterstürzte, lange Degen in seinen Schlund einführte und darauf sogar noch eine Flinte abschoß. Aehnliche Vorstellungen sind bereits im Alterthume häufig gewesen, wie dies aus einer Anekdote des Plutarch in der Lebensbeschreibung des Lykurg zu ersehen ist – ein Bewohner Attikas spottet über die Kleinheit der spartanischen Schwerter, welche von den Gauklern in den Theatern leicht verschlungen werden. „Aber gut erreichen wir mit unseren Dolchen die Feinde,“ antwortete Agis.

Daß überhaupt Menschen aus Versehen und wider Willen einen ungenießbaren und unverdaulichen Gegenstand verschlucken, kommt öfter vor, als man denkt. Charakteristisch dafür ist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_098.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2024)