Seite:Die Gartenlaube (1886) 099.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

folgende Geschichte. Ein französischer Familienvater läßt den Herrn Guignol zu sich kommen, um Unterricht in der Kunst des Pulcinell zu nehmen: er möchte seinen Kindern, die für das Puppentheater schwärmen, eine kleine Freude machen. Der gute Vater will also etwas profitiren, aber er weiß nicht, daß sich die Pulcinellstimme nur vermittelst einer sogenannten Praktik hervorbringen läßt, eines Instrumentes, ähnlich einem Brummeisen oder einer Maultrommel, welches aus zwei Stückchen Blech mit einem Zünglein von Zwirnband in der Mitte besteht. „Da,“ sagt Guignol, „Sie haben keine Praktik, also nehmen Sie meine.“ Unser Bourgeois ist nicht weiter ekel, er steckt Guignol’s Praktik in den Mund. Aber er ist das Ding nicht gewohnt, er kann es nicht regieren, und bei jeder Bewegung seiner Zunge kommt er in Gefahr, die Praktik zu verschlucken. „O, fürchten Sie sich nicht,“ beruhigt ihn Guignol; „das würde Ihnen gar nichts schaden. Sehen Sie, eben die hier, die habe ich schon mehr als zehnmal verschluckt.“

Am Dreikönigstage wird bekanntlich in Frankreich beim Essen ein Kuchen unter die Gäste vertheilt, worin eine Bohne ist: wer die Bohne bekommt, heißt Bohnenkönig. Natürlich muß die Bohne vom Inhaber gegessen werden. Neuerdings hat man an Stelle der Bohnen Porcellanpüppchen (Bébés en porcelaine) treten lassen: sie werden auch verschluckt.

Ja, selbst das ist nicht ungewöhnlich, daß Leute in Gefahr, namentlich auf Reisen, Werthgegenstände mit Bewußtsein verschlucken, um sie nicht Räubern in die Hände fallen zu lassen; daß sie, wie die Araber sagen, ihre Barschaft zwischen Leib und Seele, das heißt, in den eigenen Eingeweiden bergen. Sie werden von den Beduinen Goldmägen genannt, und es ist für den ehrlichen Mann sehr mißlich, den Verdacht eines solchen zu erwecken, denn die Barbaren schlitzen ihm den Bauch auf oder geben ihm wenigstens wochenlang Bitterwasser ein. Noch in unserem Jahrhundert ist dergleichen in Tunis geschehen. Nebenher läuft in Arabien die andere Praxis, vor einer Reise in räuberische Distrikte Edelsteine und Perlen in ein silbernes Büchschen mit abgerundeten Ecken zu thun und dieses in eine zu dem Behufe (am linken Oberarme) geschnittene Wunde, welche man dann wieder zuheilen läßt, zu stecken. Daß sich aber die zuerst erwähnte Methode unter Umständen gut bewährt, zeigt der Fall des französischen Numismatikers Vaillant, welcher im 17. Jahrhundert Aegypten, Persien und andere fremde Länder durchreiste, um Münzen des römischen Ost- und Westreichs zu sammeln. Er wurde einst auf der Rückkehr von Rom mit mehreren anderen Franzosen von einem algerischen Korsaren aufgegriffen, beraubt, nach Algier gebracht und erst nach Monaten freigelassen. Man gab ihm 20 goldene Medaillen zurück, die man ihm abgenommen hatte, und er schiffte sich nach Marseille ein. Wiederum wurde sein Schiff durch Piraten von Saleh verfolgt. Jetzt entschloß sich Vaillant kurz und gut, seine Medaillen zu verschlucken. Doch diesmal erhob sich ein Wind, der marokkanische Korsar konnte den Franzosen nichts anhaben, und der moderne Midas kam mit seinen Schätzen im Leibe nach mancherlei Wechselfällen endlich glücklich in der Nähe der Rhonemündungen ans Land. Nun aber war er in großer Verlegenheit: die Medaillen, die an zehn Loth wiegen konnten, drückten ihn im Magen. Er befragte die Aerzte, sie konnten sich darüber, was er vornehmen sollte, nicht einigen; in seiner Ungewißheit that er nichts. Die Natur kam ihm selbst zu Hilfe, und als er in Lyon anlangte, hatte er bereits die Hälfte seiner Münzen wieder. Er besuchte einen Freund. dem er seine Abenteuer erzählte; er zeigte ihm die Medaillen, die da waren, und beschrieb ihm diejenigen, die er noch erwartete. Unter den letzteren war ein Otho, den sein Freund gern haben wollte. Vaillant sollte ihm diese Medaille für einen bestimmten Preis ablassen. Sie wurden auch wirklich handelseinig, und zum Glück war Vaillant noch an selbigem Tage in der Lage, Wort zu halten. Die interessanten Stücke finden sich gegenwärtig in der reichen Sammlung von Münzen und Medaillen in der Nationalbibliothek zu Paris.

Trauriger endete der Versuch des unglücklichen französischen Dichters Nicolas Gilbert, den Schlüssel seiner Kassette zu verschlucken. Er war vom Pferde gestürzt und wurde in das Pariser Krankenhaus Hôtel Dieu mit schweren Verletzungen gebracht. Der arme Mensch, bekanntlich ein geschworener Feind der Encyklopädisten, mag geglaubt haben, daß ihm die Philosophen seine Manuskripte oder andere Werthpapiere stehlen wollten, die er in gedachter Kassette verschlossen hielt, und verschluckte den Schlüssel zu derselben, der ihm in der Speiseröhre stecken blieb. Einige behaupten auch, er habe sich auf diese Weise das Leben nehmen wollen. Unter furchtbaren Schmerzen wies er beständig auf den Schlund und griff sich mit den Fingern an den Hals, aber Niemand verstand ihn, man wußte nicht, was er mit dieser Bewegung sagen wollte. So starb der französische Juvenal, der noch acht Tage vorher in einem lichten Augenblicke eines der ergreifendsten und herrlichsten lyrischen Gedichte der Franzosen, den „Poète mourant“ niedergeschrieben hatte, im Alter von 29 Jahren; erst nach seinem Tode bei der Sektion entdeckte man den jammervollen Thatbestand (12. November 1780).

Alle diese Fälle haben jedoch mit der Allotriophagie, welche den Hauptgegenstand unserer Betrachtung bilden soll, nichts zu thun. Allotriophagie nennt man die Begierde, „Allotria“ zu essen: gefährliche und ungenießbare Gegenstände, Kohlen, Glas, Nägel, Messer u. dergl. zu verschlingen und diese krankhafte Neigung findet sich nicht selten bei Geisteskranken, bei Nervenverstimmungen bei Bleichsüchtigen im Wechselfieber etc. Auch die maßlose Gefräßigkeit, die nichts Festes verschmäht und oft zur Schau-Esserei ausartet, steht nur in losem Zusammenhange mit der Allotriophagie. Sie ist jedoch interessant genug, um kurz skizzirt zu werden.

Zu allen Zeiten und in den verschiedensten Gegenden hat es niedrige Menschen gegeben, die ein Gewerbe daraus machten, zur Belustigung des Publikums viel und darunter das unglaublichste zu essen. Unter Nero, berichtet ein Chronist, war ein Vielfresser, von Geburt ein Alexandriner, Namens Harpokras, welcher nicht nur ein gekochtes Wildschwein und hundert Eier, sondern auch eine lebendige Henne mitsammt den Federn und ein Milchferkel, ja, Pinienäpfel, Heu, Palmbesen, Tischtücher, Glasscherben und Schuhzwecken verschlang; ein ähnlicher Künstler ließ sich unter Alexander Severus, ein dritter, welcher auch den Namen Fresser, nämlich Phagon führte, unter Aurelian sehen. Ich selbst habe in Berlin Leute getroffen, die Schnapsgläser einbissen und zu Pulver kauten; einen „Glasscherbenfresser“ lernte Rosegger’s Waldschulmeister in Winkelsteg kennen.

Im Jahre 1771 starb zu Ilefeld der Passauer Vielfraß Joseph Kolniker. Er konnte nicht anders satt werden, als wenn er Steine unter sein Essen mischte, und zwar hatte er diese Liebhaberei von seiner Mutter und Großmutter geerbt. Schon in seinem dritten Jahre fraß er vor Hunger Steine wie Saturn. Sein Appetit war ungeheuer – er hatte sich den Athleten Milo zum Vorbilde genommen, der einen Stier durch die Rennbahn trug und an selbigem Tag verzehrte; binnen 24 Stunden aß er, so einmal auf dem Braunschweiger Schlosse, ganze Kälber- und Rinderviertel auf. Aber immer mischte er Steine unter sein Essen. Auch nahm er Metalle, Filz und andere Dinge zu sich.

Wer hätte ferner noch niemals von dem Wittenberger Gürtner Jakob Kahle, dem sogenannten Freßkahle gehört? Dieser Mann, der im Jahre 1750 zu Wittenberg als neunundsiebzigjähriger Greis gestorben ist, machte sich einst in einem Wirthshause in Gegenwart vieler Menschen darüber her, einen ganzen Dudelsack zu fressen. Von ihm wird erzählt, daß er bei seinen Mahlzeiten gelegentlich die irdenen Schüsseln und Teller mitverzehrte, daß er Tassen und Gläser zermalmte, daß er die Spanferkel mitsammt den Borsten und die Lämmer mitsammt der Wolle einschlang. Einmal raste seine Eßlust so, daß er ein bleiernes Schreibzeug nebst der Tinte, dem Streusande, dem Federmesser und den Federn verschwinden ließ. Diesen Umstand haben sieben Zeugen vor Gericht eidlich versichert, wie überhaupt der ganze Mann nichts weniger als ein Mythus ist; sein Leichnam ward 1750 auf landesherrlichen Befehl geöffnet und de Polyphago Wittenbergensi eine Dissertatio verfaßt. Erst in seinem sechzigsten Jahre war er ein wenig menschlich geworden. Dabei war er auch gleich den indianischen Mohawk und den italienischen Lazzaroni ein „Esser lebendiger Speise“: lebendige Eulen, Mäuse, Ratten, Heuschrecken und Raupen nahm er mit Vorliebe zu sich, und diese Vorliebe theilte er mit dem französischen Grenadier Tarare, der 1799 im Alter von 26 Jahren gestorben ist. Dieser entsetzliche Mensch nährte sich gelegentlich von Schlangen und zerriß lebendige Katzen mit den Zähnen.

(Ein zweiter Artikel folgt.)




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_099.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2020)