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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

letzte Sterne schwinden‘; so darf man, so muß man hoffen, daß, was in dem Einen lebt, zum Leben wieder erwachen wird auch in den Andern; ja, daß der Eine berufen und auserwählt sein mag zum Erwecker dieses Lebens in den Andern. Wie denn geschrieben steht, man soll das Licht nicht unter, sondern auf den Scheffel stellen, damit es leuchte vor den Leuten, auf daß sie sich die Augen reiben und erkennen lernen, wieviel schöner das Licht doch ist, denn die Finsterniß. Ihm aber, der das Licht hat - ihm, der es, mit einem anderen neueren Dichter zu sprechen, ,als ein Leuchter durch die Welt tragen‘ soll – ihm rufe ich zu: o, halte es! halte es fest und halte es heilig! Und nie komme in Deine Seele der Gedanke, daß, indem Du es thuest, Du etwas Anderes thuest, als Deine heilige Pflicht und Deine einfache Schuldigkeit! Denn mit dem ersten Gedanken der Art, mit der ersten Regung der Selbstgefälligkeit würde das Licht dunkler brennen und würde erlöschen, so Du dieser Regung Dich hingäbest. Und weil dem so ist, und das Ehrenkreuz eine Ehrenlast, eben deßhalb, lieber Lothar, darf ich es Ihnen hier öffentlich geben, und nicht, wie ich zuerst thun zu sollen glaubte, unter vier Augen. Ihnen, den Anderen, aber sage ich: ich habe diesem hier nichts gegeben, was ich nicht jedem von Ihnen, wäre er an seiner Stelle gewesen, mit ebenso willigem, freudig erregtem Herzen gegeben hätte oder geben würde, böte er mir dazu die Veranlassung. Und daß Sie, meine Lieben insgesammt, aus Ihren Reihen mir eine solche Veranlassung recht bald und recht häufig bieten mögen - das ist der innige Wunsch, mit welchem ich für heute von Ihnen scheide.“

Die Stimme, die sich in der Mitte der Ansprache zu einem vollen, schönen Klang erhoben, war bei den letzten Worten wieder weich geworden und wie von zurückgehaltenen Thränen verschleiert. Ich aber hatte während der ganzen Zeit dagesessen, zitternd in einer Erregung, die mir einen Schauer nach dem andern durch die Glieder jagte. Ich wollte mehr als einmal dem Professor ins Wort fallen, ihn bitten, mich zu schonen, mich nicht dem Gespött meiner Mitschüler preiszugeben; ich fand die Kraft dazu nicht.

Er hatte das Zimmer verlassen; ich meinte, nun müsse die Fluth des Spottes, die er entfesselt, über mich hereinbrechen; ich hatte mich geirrt. Man nahm schweigend seine Bücher zusammen oder sprach von gleichgültigen Dingen - keine leiseste Anspielung auf das, was eben geschehen war; es sollte eben nicht geschehen sein; man wollte es ignoriren. Selbst auf Schlagododro’s ehrlichem Gesicht lag eine leise Verlegenheit, als er jetzt an mich herantrat und, mir die Hand auf die Schulter legend, sagte:

„Na, Kind, laß es Dir nicht zu Herzen gehen. Es war ein bischen stark; aber Du kannst am Ende nichts dafür. Wir sprechen heute Abend noch darüber; ich werde Dich abholen.“

Auch er war davon gegangen; außer mir war Niemand mehr in der Klasse, als Adalbert von Werin. Wir hatten seit jenem ersten Tage den Heimweg nicht wieder gemeinsam angetreten. Er hatte die Gewohnheit, seine Sachen bereits während der letzten Minuten des Unterrichts zu ordnen und dann sofort die Klasse zu verlassen, in welcher er mit Niemand verkehrte, kaum jemals mit Diesem oder Jenem ein gleichgültiges Wort wechselte. Mich hatte er sogar sichtlich gemieden, und ich war es zufrieden gewesen: meine Freundschaft für Schlagododro füllte mich ganz aus, während ich mich gegen den schweigsamen, sarkastischen Gesellen eines Gefühls nicht erwehren konnte, das aus Achtung vor seinem Fleiße, seinen Kenntnissen und aus einer Art von Scheu, die ich mir nicht weiter zu definiren suchte, seltsam gemischt war. Und dann hatte ich ein schlechtes Gewissen gegen ihn: ich war der Einzige, dem er in seiner Weise entgegen gekommen war, und ich hatte das Entgegenkommen nicht erwidert, war nicht einmal seiner Aufforderung, ihn zu besuchen, gefolgt. So machte mich denn das tête-à-tête mit ihm, in das ich so unerwartet gerathen war, verlegen und befangen, um so mehr, als ich zu bemerken glaubte, daß er dasselbe durch sein ungewöhnliches Zögern absichtlich herbeigeführt habe.

Dennoch hatten wir bereits draußen auf der Straße eine Strecke schweigend neben einander zurückgelegt, bevor er, ohne mich anzublicken, in seiner gelassenen Weise begann:

„Ich weiß nicht, ob Du etwas auf mein Urtheil giebst?“

„Doch!“ sagte ich schnell, innerlich froh, daß das Eis endlich gebrochen war.

„Ich sollte eigentlich das Gegentheil vermuthen,“ fuhr er ruhig fort. „Indessen da Du es sagst - und, offen gestanden, ich glaube nicht, daß es bloße Höflichkeitsphrase Deinerseits ist. Welche Veranlassung hättest Du dazu, mir den Hof zu machen? Du hast Freunde oder kannst so viel haben, wie Du willst; ich habe keine und will auch keine haben - außer Einem, den ich leider nicht haben kann, wenigstens nicht zur Zeit. Später vielleicht - wenn es dann nicht zu spät ist.“

„Ich verstehe Dich nicht,“ sagte ich.

Glaub’ ich Dir,“ erwiderte er; „ich habe mich auch etwas dunkel ausgedrückt. Ich will versuchen, ob ich etwas klarer reden kann, ohne indiskret zu werden, was mir sehr verhaßt ist. Wenn ich gesagt habe: Du könntest so viel Freunde haben, wie Du willst, so ist das eigentlich nicht ganz richtig. Oder war doch nur richtig bis heute. Von heute an bist Du – Dank der Unvorsichtigkeit des Herrn Professors – ein Gezeichneter, vor dem man sich bekanntlich hüten soll, und sich die Spatzenköpfe sicher hüten werden. Es ist damit im Grunde nichts geschehen, als daß die Kluft zwischen Dir und den Spatzenköpfen, die immer bestanden hat, offenbar geworden ist. Aber das ist von entscheidender Bedeutung. Du wirst von heute ab Deine Freunde diesseit der Kluft suchen müssen, da, wo Du stehst. Du wirst sehen, wie verzweifelt schwer das hält: Diogenes mit der Laterne am hellen Tage.“

„Ich habe nicht die geringste Anlage zu Diogenes,“ entgegnete ich.

„Du verwechselst, glaube ich, Anlage mit Neigung,“ erwiderte er; „Anlage zum Diogenes hat jeder, der eben kein Spatzenkopf ist. Ursprüngliche Neigung dazu haben die Wenigsten, weil das Leben in der Herde das bei weitem Bequemere scheint, bis man hinreichend getreten und gestoßen ist und zur Einsicht kommt, es dürfte sich doch wohl außerhalb der Herde besser leben lassen. Und das möchte eben der Unterschied sein, der zwischen uns besteht: ich bin bereits zur Einsicht gekommen; Du wirst Dich noch einige Zeit mit dem Aberglauben, daß man in der Herde und für die Herde leben müsse, herumschlagen und darüber könnte es dann, wie ich schon vorhin sagte, zu spät werden - ich denke, Du wirst jetzt wissen wozu. Im Uebrigen: nichts für ungut, was ich hier so herausgeplaudert habe. Man fällt manchmal gegen seinen Willen in die alte Gewohnheit zurück. Da sind wir an meiner Ecke. Und was ich noch sagen wollte? - ja: Du hast mich eigentlich meiner Mama und meiner Schwester gegenüber in einige Verlegenheit gesetzt. Ich hatte ihnen Deinen Besuch angekündigt und muß mich jetzt mit allerlei Ausflüchten herumdrücken. Du könntest wohl die Höflichkeit aufwenden, mich wenigstens aus dieser Situation zu erlösen; es soll weitere Konsequenzen für Dich nicht haben.“

„Ich werde mit Vergnügen kommen,“ sagte ich.

„Lassen wir vorläufig das Vergnügen auf sich beruhen,“ erwiderte er; „ich bin schon zufrieden. wenn Du kommst.“

Er lächelte flüchtig, nickte mit dem kleinen feinen Kopfe und schlenderte in seine Straße hinein, welche wieder von spielenden, sich balgenden, schreienden Kindern erfüllt war. Er schritt durch sie hindurch, auch über ein paar kleine, die auf der Erde lagen, hinweg, ohne ihrer mehr zu achten, als wären es Steine gewesen.


5.

Von der Stunde dieses zweiten gemeinsamen Nachhausegehens verfolgte mich das Gedenken des räthselhaften Genossen Tag und Nacht; denn selbst in meinen Träumen erschien mir sein düsteres Bild, hörte ich seine geheimnißvolle Rede. Es wäre das wohl nicht gewesen, hätte ich mich nicht schon vorher, ohne darauf zu achten und ohne mir dessen bewußt zu werden, innerlich vielfach mit ihm beschäftigt, so daß die Fluth, welche jetzt plötzlich über mich zu kommen schien, längst vorher aufgestaut war. Ich würde sonst auch nicht, wie ich es doch gethan, mich über seine Verhältnisse zu unterrichten gesucht haben, aber Schlagododro, der einzige, an den ich mich um Auskunft wenden konnte – sein Onkel und der Vater Adalbert’s waren früher Officiere in demselben Regiment gewesen – wußte wenig. Der Onkel spräche nicht gern von den Werins, in deren Geschichte diverse dunkle Punkte zu sein schienen. Auch habe Frau von Werin, nachdem sie sich vor einem halben Jahre aus dem kleinen benachbarten Hafenorte in unsere Stadt gewandt, alle freundlichsten Avancen des Onkels hartnäckig zurückgewiesen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_118.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2024)