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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Geradezu lächerlich fand ich mehrere Bandwurmkuren. Nachdem ein großes Glas voll häßlicher Arznei verschluckt worden war und nichts geholfen hatte, kam von einer andern Weltgegend eine Schachtel voll Pulver , welches für den Bandwurm ganz passend gewesen sein mag, den betreffenden Kranken brachte es aber nur Schaden, denn als ich die Ausleerungen derselben genau untersuchte, fand ich, daß das, was die armen Märtyrer mit Sicherheit als Bandwurm ansahen und mit schrecklichem Abscheu in Weingeist aufbewahrten, nur sehnige Theile des genossenen Rindfleisches waren. Die Täuschung war bei Laien sehr verzeihlich, denn die Aehnlichkeit mit Bandwurmstücken war manchmal recht groß. Man sieht aber daraus, in welche Gefahren sich Kranke begeben, welche Arzneien für Krankheiten gebrauchen, die sie nur vermuthen, ohne je von einem ordentlichen Arzt untersucht worden zu sein. Den Bandwurm wird kein gebildeter Arzt verkennen.

Den größten Schaden sah ich von brieflichen Kuren bei chirurgischen Leiden.

Bei einem Knäbchen, dessen Haltung sich täglich verschlimmerte, dessen Rücken sich krümmte, dessen Kniee sich bogen, wurde brieflich gerathen, mit Strenge auf gute Haltung zu sehen und täglich Gymnastik zu treiben. Da aber darauf hin das kranke Kind täglich schlechter wurde, brachte man es zu mir, und ich fand, daß die angewandte Gymnastik in traurigster Weise den Beinfraß der Rückenwirbel zum vollsten Ausbruche brachte, während wir Aerzte uns in solchen Fällen Tag und Nacht mühen, dieses schreckliche Leiden durch Ruhe und Schonung zu verhüten.

Bei einem andern Kranken, welcher seit einem Sturze vom Pferde kaum mehr gehen konnte und dessen rechter Fuß im Hüftgelenke nur mit ziemlichem Schmerz bewegt wurde, war brieflich der Rath gegeben worden, den Schmerz zu verbeißen und den Fuß kräftig täglich ein paarmal hin und her zu rotiren. Schon nach wenigen Tagen steigerten sich die Schmerzen so, daß man den Fuß nicht mehr berühren, viel weniger zum Gehen benutzen durfte. Der herbeigeholte Arzt erzählte mir, daß das erkrankte Hüftgelenk trotz sofort angewandter größter Ruhe alsbald aufgebrochen sei und solche Massen von Eiter abgeflossen seien, daß der Kranke rasch einem hektischen Zustande erlag.

Wenn es nun bei so einfachen sichtbaren und greifbaren Uebeln solch unglückliche Irrungen giebt, wie wird es erst bei Krankheiten, deren Symptome schwerer von einander zu unterscheiden sind! Es gehört oft das ganze ärztliche Wissen und ein geübter Verstand dazu, um zu unterscheiden, ob ein schmerzhaftes Kopfweh von Blutüberfüllung oder Blutmangel, von überreizten Nerven oder einem leidenden Magen, oder von gichtischen Einflüssen herrührt, und jede Irrung, jede Verwechselung ist von gefährlichen und schweren Folgen, denn was bei dem einen Uebel nützt, kann bei dem andern sehr schaden. Aerzte, welche 10 und 12 Jahre fleißig gelernt und das Lesen und Studiren nie aufgegeben haben, müssen alle ihre Sinnesorgane anstrengen, Gesicht, Gehör und Gefühl im höchsten Maße ausnützen und nebst sorgfältiger Beobachtung mit mikroskopischer und chemischer Untersuchung nachforschen, um die krankhaften Veränderungen des komplicirten, wunderbar organisirten menschlichen Körpers richtig herauszufinden.

Wer es weiß, welche Schwierigkeiten hierbei zu überwinden sind, der kann von brieflichen Kuren mit sehr wenig Ausnahmen nur mit Abscheu sprechen und wird darin meist nur eine verbrecherische Ausbeutung der armen Kranken erblicken. Die lukrativsten brieflichen Kuren sind aber jene armen Hypochonder, die in ihrer Ueberspannung einen Jugendfehler irrthümlicher Weise als die Ursache aller ihrer Leiden und Schmerzen betrachten, von jedem ehrlichen Arzte aber nach kurzer Besprechung und Untersuchung erfahren würden, daß ihre Uebel damit in keinem Zusammenhange stehen und vielleicht sehr einfach zu heben sind.

Das Gefühl, eine Krankheit selbst verschuldet zu haben, die Sorge, bei den umgebenden Verwandten verrathen zu werden, führt oft selbst vernünftige Leute zu brieflichen Kuren oder gar zur Selbstbehandlung, nachdem sie sich durch die Lektüre von Büchern, die in bekannter Weise in den Inseratenspalten der Zeitungen angepriesen werden, belehrt zu haben glauben.

Daß damit noch Niemand gesund gemacht wurde, kann man auf das Bestimmteste behaupten. Nach meinen Erfahrungen ist dies der beste Weg, auf eine Bahn der Verirrung zu kommen, aus welcher man sich nicht so schnell wieder heraus findet. Die in solchen Briefen und Büchern ausgenützte Angst der Patienten trägt reichliche Früchte. Jedes rothe Fleckchen, jede unangenehme Empfindung wird mit Sorge betrachtet, und jahrelang lassen sich solche Leute an Krankheiten kuriren, die sie in der That gar nie hatten.

Mit Recht theilen wir die Aerzte in gute und schlechte. Wir nennen jene, welche gut diagnosticiren, welche nichts zu untersuchen vergessen und mit der chemischen Retorte und mit dem Mikroskop ergänzen, was ihren geübten Sinnesorganen entgehen möchte, die guten Aerzte. Jene, welche sich aus Unwissenheit oder strafbarer Faulheit mit dem oberflächlichen Blicke begnügen, nennen wir die schlechten, die gewissenlosen und gefährlichen Aerzte. Machen wir nun schon bei den Aerzten einen so großen Unterschied, klagen wir schon eine oberflächliche Untersuchung so schwer an, um wie viel gefährlicher müssen wir deßhalb erst im Allgemeinen die brieflichen Kuren bezeichnen, bei denen jede Beobachtung, jede Untersuchung gänzlich ausgeschlossen ist!


Gebrüder Grimm.

Zum hundertjährigen Geburtstage Wilhelm Grimm’s.
Von Dr. Georg Winter.

Man hat unser Jahrhundert das Zeitalter der Elektricität und des Dampfes genannt und damit die regste Entwickelung, welche die technische Anwendung der exakten Naturwissenschaften in unserer Epoche genommen hat, als das eigentlich Charakteristische des modernen Lebens bezeichnen wollen. Und wer wollte leugnen, daß die gewaltigsten Veränderungen unseres ganzen Verkehrs- und Erwerbslebens eben durch jene großen Erfindungen hervorgerufen worden sind? Doch liegt jener Bezeichnung eine ziemlich oberflächliche, das Wesen der Dinge keineswegs erschöpfende Anschauung zu Grunde. Und wahrlich, traurig würde es um ein Volk stehen, dessen Dichten und Trachten ausschließlich auf die Sorge um die Existenz und alles, was damit zusammenhängt, gerichtet wäre: die einzelnen Individuen könnten dabei bestehen, der Staat aber würde sich in seine Atome auflösen. Die Form würde zerschellen weil ihr der Inhalt mangelte. Wohl mag hier und da ein Zaghafter, welchen das kühne Vordringen unserer naturwissenschaftlichen Erkenntniß mit unheimlichem Grauen erfüllt, diese Gefahr als nahe bevorstehend wähnen. Aber ist das wirklich der Fall? Zeigt sich nicht vielmehr gerade in unserer Zeit, parallel mit der Zunahme des Interesses an den realen oder materiellen Elementen des staatlichen Lebens, ein ähnliches Wachsen der allgemeinen Theilnahme an den rein idealen Bestrebungen auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft? Beschränkt sich denn diese Theilnahme wirklich auf diejenigen Gebiete des Wissens, welche in ihren Resultaten für das materielle Leben der Gegenwart unmittelbare Verwendung finden? Nein und tausendmal nein! Unser Zeitalter ist keineswegs ein so materialistisches, wie man es oft gescholten hat. Sehen wir doch unbefangen um uns; wie regt sich’s und webt sich’s doch auf allen Gebieten des menschlichen Wissens, wie wächst die Theilnahme der Nation an philosophischen, historischen und künstlerischen Dingen! Gerade das „materialistische“ 19. Jahrhundert ist es gewesen, in welchem die großen rein idealen Probleme der menschlichen Erkenntniß hinausgelangt sind aus der verstaubten Gelehrtenstube in das frische, fröhliche Leben des Volkes!

In wie hohem Grade das Verständniß für rein ideale Bestrebungen der Wissenschaft gerade in unserer Zeit gewachsen ist, dafür liegt ein Beweis unter vielen auch in dem pietätvollen Andenken, welches unser ganzes Volk jenem edlen Brüderpaar bewahrt hat, das sein Leben dem wahrlich doch rein idealen Streben gewidmet hat, in unserem Volke Sinn und

Theilnahme für seine eigene litterarische Vergangenheit zu wecken,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_139.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2024)