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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Eine lange Pause entstand. Anita war unhörbar durchs Zimmer geschritten und hatte auf einem Tischchen Wein, Früchte und Kuchen arrangirt, das sie nun herbeitrug. Sie stellte noch eine silberne Schale voll krystallklarer Eisstückchen hinzu, fragte nach der Frau Gräfin weiteren Befehlen, und als Lotte ungeduldig den Kopf schüttelte, verschwand sie ebenso leise, wie sie gekommen war. Sie hatten sich Beide überraschend schnell in die veränderte Situation gefunden; daß sie jüngst lange Nachmittage zusammen verplauderten, war vergessen; Lotte ganz Herrin – Anita ganz Untergebene.

Als ich noch immer schwieg und Lotte ansah, die mir halb den Rücken wendete, so daß ich nur das feine Profil erblickte, überkam es mich plötzlich wie Mitleid mit diesem schönen sonnigen Geschöpf. Gott allein wußte, was ihrer noch harrte an der Seite des Mannes, dem sie so rasch zu eigen geworden. Sollte ich ihr die einzigen glücklichen Stunden mit finsteren Prophezeiungen verderben? Eilig erhob ich mich. „Behüt Dich Gott, Charlotte, verzeihe meine trübe Stimmung; morgen, übermorgen, wenn ich ruhiger geworden, dann sprechen wir zusammen. Heute nur noch Eines: mögest Du glücklich werden so recht von Herzen glücklich.“

Sie wandte sich, ihre Augen leuchteten, ein helles schönes Roth flog über ihr Gesicht. „Ich bin es schon, Tone, und werde es bleiben, wenn Gott mir meinen Otto gesund heimschickt.“

Sie faßte mich um und schritt mit mir bis zur Thür.

„Komm morgen wieder,“ bat sie, „ich muß Dir noch sein Brautgeschenk zeigen und das Diadem, das die Herzogin durch den Kammerherrn schickte. Ja, und dann sprechen wir noch einmal über unser Zusammensein.“

„Nein, Lotte, darüber nicht, das ist nicht anders; rede mir nicht mehr davon.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, drückte ich ihr die Hand und ging, wie ich gekommen, mit schwerem Herzen. Und sie blieb allein in ihrem goldenen Käfig, mit ihren süßen Erinnerungen und ihrem großen vermeintlichen Glück, ohne daß ihr auch nur der leiseste Gedanke kam: „Du hast einen Menschen, einen guten treuen Menschen, elend gemacht, vielleicht fürs Leben.“




„Wir wollen arbeiten, Tonchen, das ist der beste Trost!“ sagte Frau Roden am anderen Morgen. Und wir arbeiteten. Was haben wir Alles geschafft in jener schweren Zeit! Sachen, die gar nicht nöthig waren. Die alte Frau wußte immer etwas Neues, und wie Recht hatte sie: Arbeit ist der beste Trost!

Still, sehr still war es in dem weltfernen kleinen Städtchen, in dem alten Herrenhause; und derweil flogen die ersten Siegesbotschaften jubelnd über das deutsche Land. Von Thurm zu Thurm schwangen sich die Glockenklänge. Sieg! Sieg! Es ist ein Wort, berauschender als Wein. Selbst in unsere Einsamkeit kam vorübergehend Leben, die Menschen strömten nach den Straßenecken, wo die Depeschen angeheftet wurden; die Kinder bekamen „frei“ in der Schule; alte Feinde schüttelten sich die Hände: Leute, die nie mit einander gesprochen, riefen sich mit frohen Mienen die Kunde zu, vom Rathsthurme bliesen die Stadtmusikanten: „Nun danket alle Gott!“ und in der Kirche erbrauste die Orgel und jubelnde Menschenstimmen fielen ein. Ja, Jubel, Jubel überall.

Dann kam die Zeitung mit der ersten Verlustliste; herzbrechend, wenn man die schlichten Namen in langen Reihen hinter einander las. Welch eine Welt voll Jammer und Weh lugte unsichtbar hinter jedem einzelnen hervor! Und man starrte darauf hin und fragte sich, was man beginnen würde vor Verzweiflung, wenn das Auge einen lieben theuren Namen dort erblicken müßte?

Aber so sehr auch der fortstürmende Siegeszug die Gemüther in Athem erhielt, die Nachricht von der Heirath des Prinzen Otto mit der schönen Lotte von Werthern machte dennoch Sensation. Die guten Leute hatten Lotte noch ganz selbstverständlich als Fritz Roden’s Braut im Sinn – von der Entlobung war ja kein Wörtlein über die Schwelle des Hauses gekommen, und nun verbreitete sich plötzlich das Gerücht von der romanhaften Verbindung. Wie wenn ein Stein ins Wasser geworfen wird und immer weitere Kreise sich auf der stillen Oberfläche dahin ziehen, so ging es von Lippe zu Lippe, von Ohr zu Ohr, leise und zweifelnd – ja, wer weiß, ob es wahr ist? Als aber eines Tages der prinzliche Landauer durch die Straßen brauste und in die schimmernden grauseidenen Polster die schlanke, in elegante Trauer gekleidete Gestalt der jungen Frau sich schmiegte und ihr schönes stolzes Gesicht, vom schwarzen Spitzenhütchen umrahmt, gleichgültig über die gaffenden, die Fenster aufreißenden Leute hinweg sah, da wußte man es endlich, daß die Brautschaft mit dem Roden vorüber und der Prinz, der lustige Prinz Otto, sie heimgeholt habe in sein Schloß.

Frau Roden’s Besuchzimmer wurde gar nicht leer von all den Menschen; aber die neugierigen Fragen blieben hinter den erstaunten Lippen, wenn sie mich erblickten und die liebe alte Frau mich so freundlich als ihren Trost in der Einsamkeit, als ihre Hausgenossin vorstellte. So klug wie sie gekommen, gingen sie wieder und hatten nur gerade erfahren, daß Herr Roden, nach welchem sie sich so angelegentlich erkundigten, Gottlob wohlbehalten in Frankreich marschire, und daß er fleißig schreibe.

Unsere Wohnung stand verschlossen, die Möbel verhangen; nur einige der lieben alten Sachen hatte ich mir herüber tragen lassen in die Zimmer, die mir Frau Roden eingeräumt; dieselben, in denen wir zuerst wohnten. Wohn- und Schlafstube war daraus geworden; am Fenster stand mein Nähtisch, in der Ecke das Klavier und am Ofen das Körbchen für Schnips. Der kleine vierbeinige Freund hatte zwar ein schöneres drüben bei Lotte, aber zuweilen besuchte er mich doch, als wollte er seiner alten Pflegerin nicht ganz untreu werden, und dann schmeckte ihm die Milch, die ich ihm vorsetzte, immer köstlich.

Lotte hauste still vornehm in ihrem kühlen Schloß und beantwortete die vielen, vielen Briefe und Depeschen, die ihr täglich neue Liebesgrüße von dem Prinzen brachten. Er war im zweiten bayerischen Korps; sein Bruder, der Erbprinz, stand bei den Sachsen und Fritz Roden marschirte mit seinem alten Regimente, den preußischen Garde-Füsilieren.

Und weiter, weiter ging die Zeit; so bang, so schwer für uns Daheimbleibende. Und wenn sich auch emsig die Hände regten zu allem Möglichen, was da hinausgeschickt ward, um das Elend zu lindern – die Gedanken ließen sich nicht abweisen, sie flogen über die Schlachtfelder und suchten die Fährten, wo sie gezogen und gestritten; überall, überall, im heißen Sonnenbrand, auf staubigen Straßen und in regnerischen Bivouaknächten. Ach Gott, behüte und schütze sie. Wohl hundertmal fragte die alte Frau: „Wie mag’s ihm gehen?“

Wie rasch konnte sie durch die Stube eilen dem Briefträger entgegen, um den Feldpostbrief in Empfang zu nehmen. „Warten, warten!“ sagte sie dann athemlos zu dem alten Manne und riß das Schreiben auf, und wenn die Mutteraugen erblickten, was sie ersehnt hatten, daß er gesund und wohlbehalten, so langte sie in die Ledertasche unter der Schürze, und jedesmal kriegte der schmunzelnde Alte einen harten Thaler. Und dann rief sie das ganze Haus zusammen auf dem großen Flure und Alle mußten hören, was er berichtete. Zuweilen versagte ihr die Stimme vor Rührung, dann las ich weiter, und immer stand auch ein Gruß an Fräulein von Werthern dabei.

Und so kamen jene Augusttage! Ahnungslos saßen wir am achtzehnten unter den schattigen Kastanien auf dem Hofe und schnitten Bohnen ein; Frau Roden und ich auf der Bank zwischen den Fenstern, in einiger Entfernung die Mamsell mit den Mägden auf den Stufen der Haustreppe. Vor uns spielten einige Kinder, die dem verheiratheten Oberknecht gehörten, der in einem Seitengebäude wohnte und zu seinem größten Kummer daheim geblieben war, weil er lahmte. Frau Roden amüsirte sich, wie die Kleinen so tapfer Krieg führten; sie gingen wie die Wütheriche auf einander los; das kleine Mädchen aber sang aus Leibeskräften, während es neben der Mamsell auf den Sandsteinstufen saß und ihre Puppe wiegte:

„Eins, zwei, drei,
Mit den Franzosen ist’s vorbei!
Sie wollten avanciren,
Sie müssen retiriren –
Eins, zwei, drei,
Mit den Franzosen ist’s vorbei.“

Gar komisch klang es aus dem Kindermunde, und Frau Roden lachte herzlich. „Das ist alt, das konnte meine Mutter schon singen,“ sagte sie.

Da kam ein Lakai durch das geöffnete Thor auf den Hof, der mich zu Lotte rief. Ich band meine Küchenschürze ab und ging hinüber.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_159.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2020)