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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

schlafen gehindert sind. Dem peinlichen Zustande des nervösen Erbrechens liegt gleichfalls zuweilen eine abnorme Veränderung der Magenbewegungen zu Grunde, durch welche eben die Beförderung des Mageninhaltes in einer der gewöhnlichen entgegengesetzten Richtung, nämlich nach oben stattfindet. Durch solche erhöhte Reizbarkeit der Bewegungsnerven kommt auch das nervöse „Wiederkauen“ zu Stande, indem gewisse derart Leidende kurze Zeit (zuweilen aber auch längere Zeit, durch drei bis vier Stunden) nach der Einnahme von Nahrung das Verschluckte partienweise wieder in die Mundhöhle hinaufbringen, und zwar ohne daß sie dabei Unbehagen oder Uebelkeit fühlen. Dieser sonderbare Vorgang des Wiederkauens, welcher übrigens manchmal seinen Grund in der üblen Gewohnheit hat, Gase aus dem Magen mit Gewalt empor zu treiben, und deßhalb auch durch energische Willenskraft unterdrückt werden kann, ist schon von den alten Aerzten beobachtet und in wenig schmeichelhafter Weise für die damit Behafteten als eine Thierähnlichkeit gedeutet worden.

Unter dem Einflusse des Nervensystems kommen ferner Magenleiden zur Entwickelung, welche in mangelhafter Absonderung oder krankhafter Veränderung des Magensaftes ihren Grund haben. Die Redensart, daß Einem beim Anblicke oder bei der Vorstellung besonders lockender kulinarischer Delikatessen „das Wasser im Munde zusammenläuft“, hat ihre physiologische Begründung in der Thatsache, daß durch solche Nerveneinflüsse eine vermehrte Speichelabsonderung im Munde stattfindet. Heftige plötzliche Erregung wiederum, wie Schreck und Furcht, kann die normale Speichelabsonderung unterbrechen. Dieser Erfahrungssatz soll in Indien praktisch zur Entdeckung eines Diebes verwerthet werden, den man unter den Dienern des Hauses vermuthet. Man zwingt alle der That Verdächtigen, eine kleine Menge Reis durch einige Minuten im Munde zu halten. Derjenige, dessen Reis am trockensten bleibt, weil seine Speichelabsonderung in Folge der schuldbewußten Angst unterbrochen ist, wird als Dieb erkannt.

Aehnlich wie mit der Speichelbildung verhält es sich auch mit der Absonderung des Magensaftes, welcher durch Nerveneinflüsse sowohl nach Menge als nach Beschaffenheit wesentlich verändert werden kann. In einer Reihe von Fällen findet eine Vermehrung von Salzsäure des Magensaftes statt, wodurch eine häufig zur Beobachtung kommende nervöse Verdauungsstörung ihren ausgeprägten Charakter erhält. Bei Personen, welche geistig überangestrengt oder heftigen Erregungen ausgesetzt sind, treten von Zeit zu Zeit Anfälle von Säuregefühl im Magen auf, als ob dieser von einer Säure angeätzt würde, dann das Gefühl von Uebelkeit, das sich zum Erbrechen steigert. Diese Anfälle können bei nüchternem wie bei vollem Magen auftreten und wiederholen sich wöchentlich oder in Pausen von mehreren Wochen und Monaten mehrere Male. Manche Speise, die zu ihrer Umwandlung im Magen längerer Zeit bedarf, ruft die Anfälle hervor. Mit den Magenbeschwerden ist zumeist quälender Kopfschmerz, sowie Herzklopfen verbunden. Letzteres hat seinen Grund in dem Drucke des im Magen aufgesammelten Gases auf die dünne Scheidewand zwischen Magen und Herz, das Zwerchfell. Da der Sturm dieser Beschwerden sich bald nach Veränderung der Lebensweise durch eine Vergnügungsreise oder Aufenthalt auf dem Lande legt, so läßt sich schon daraus das Wesen dieses nervösen Magenleidens im Gegensatze zu einer organischen Erkrankung des Magens, wie Magenkatarrh oder Magengeschwür, nicht verkennen. Im Anfalle selbst leistet das Trinken eines Glases lauwarmen Wassers oder einer Tasse warmen Thees gute Dienste durch Verdünnung der Magensäure.

Schließlich erfahren die Empfindungen des Magens durch Nervenstörungen nicht selten mannigfache Veränderungen. Der gesunde Magen hat nur zwei ihn beherrschende Empfindungen, das unangenehme Gefühl des Hungers, wenn durch längere Zeit keine Nahrung eingenommen wurde, und das befriedigende Sättigungsgefühl, wenn dem Magen genügendes Material zur Verdauungsarbeit zugeführt worden. Durch Einfluß eines kranken Nervensystems kann das Hungergefühl sich zu Heißhunger steigern, welcher die Grenzen der Norm schrankenlos überschreitet. Es treten zumeist zu bestimmten Zeiten, manchmal in der Nacht, Anfälle auf, durch welche die Kranken unter dem Gefühle von Angst und hoher Erregung unwiderstehlich dazu getrieben werden, kolossale Mengen von Nahrungsmitteln zu sich zu nehmen, bis sie den Magen so angefüllt haben, daß er befriedigt erscheint. Ich kenne eine Dame, welche gewöhnlich nur sehr mäßig ißt und sich dabei wohl befindet, die aber in vierwöchentlichen Pausen mehrere Nächte hindurch die heftigsten Anfälle von Heißhunger bekommt. Die Angst, daß solche Anfälle sie unvorbereitet finden, ist bei dieser Dame so groß, daß sie allnächtlich auf ihrem Nachtkasten eine kleine Vorrathskammer von Semmeln, Wurst und Obst aufgespeichert hält. Weit häufiger ist der Fall, daß nervösen Personen das Hungergefühl mangelt, daß sie durchaus keinen Appetit empfinden und das Einhalten der Mahlzeiten nur als eine unangenehme Pflichterfüllung betrachten. Zuweilen ist speciell Widerwille gegen gewisse Speisen vorhanden. Bekanntlich kehrt sich oft genug diese Abneigung der Nervösen gegen den Genuß des ihnen gerade am meisten zuträglichen Fleisches. Es kommt in einzelnen Fällen auch zu widernatürlichen Hungergelüsten, zu Appetit auf Kalk, Kreide, saure Speisen, ja sogar auf recht ekelhafte, dem gesunden Menschen im höchsten Grade widerliche Dinge. (Vergl. die Artikel „Allotriophagie“ in Nr. 6. und 7 dieses Jahrgangs.)

Eine krankhafte Empfindlichkeit der Magennerven giebt sich ferner durch mannigfache Schmerzempfindungen in der Magengegend kund. Nicht nur durch Erkrankungen in dem Gewebe des Magens, sondern auch durch Störungen im nervösen Empfindungsapparate treten solche unangenehme schmerzhafte Gefühle auf. Man muß daher bei heftigen Magenschmerzen nicht gleich an Magengeschwüre oder Magenkrebs denken, wie dies den Laien so häufig in Angst versetzt, sondern einfach an ein weit öfter vorkommendes nervöses Magenleiden. Solche Kranke klagen über das Gefühl von Brennen im Magen, über Schmerz in der Magengrube, ein belästigendes Druckgefühl, das sofort oder erst einige Zeit nach dem Essen auftritt, über stechende und bohrende Empfindungen, welche anfallsweise mit heftigen Bewegungen des Magens einhergehen (Magenkrämpfe).

Solche Ueberempfindlichkeit des Magens ist oft eine Theilerscheinung der Ueberreizung des gesammten Nervensystems und deutet auf Veränderungen im Gehirne und Rückenmark. Zuweilen wird sie aber auch plötzlich durch heftige Affekte herbeigeführt, und so datiren manche nervöse Magenleiden von überstandenem Schreck oder Aerger her. Nicht selten rührt aber die krankhafte Empfindlichkeit des Magens von der Erkrankung eines anderen Organes her. Personen, welche mit ähnlichen Leiden behaftet sind, werden zuweilen jahrelang für magenkrank gehalten und als solche behandelt, bis der Sitz des Uebels, das so stürmische Erscheinungen von Seite des Magens hervorrief, in einem anderen Körpertheile gefunden wird. Lebhaft erinnere ich mich einer Dame der höchsten Gesellschaftskreise, welche durch mehrere Jahre an den heftigsten Magenschmerzen, Appetitlosigkeit, stetem Erbrechen nach der Mahlzeit litt und in Folge dieser Beschwerden zum Skelette abgemagert war. Heilmittel und Mineralwässer, welche sich sonst bei Magenleiden trefflich bewähren, blieben zur Verzweiflung der Patientin und ihrer Umgebung ganz erfolglos. Bei einer genauen Untersuchung der Kranken konnte ich die Ursache des Magenleidens in der Erkrankung eines andern Organs konstatiren, und nach einer kleinen Operation waren die quälenden Beschwerden wie mit einem Zauberschlage vollkommen verschwunden, lebhafter Appetit stellte sich ein, die Speisen wurden normal verdaut, und das Gesammtbefinden der Dame besserte sich so, daß sie nach Jahresfrist ein blühendes Aussehen hatte.

Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß sich über die Behandlung der nervösen Magenleiden nichts Allgemeines sagen läßt. Es ist vielmehr Aufgabe des Arztes, die Ursachen genau zu erforschen, durch welche eine Störung in dem Nervenapparate des Magens eingetreten ist. Da jedoch die nervösen Magenleiden in der großen Mehrzahl ein Symptom der modernen, in unserer Zeit so weit verbreiteten und mit einem ganzen Heere von nervösen Erscheinungen verbundenen allgemeinen Nervenschwäche sind, so erwächst daraus als unerläßliche Pflicht nicht nur für den Arzt, sondern auch für jeden Gebildeten der seinen Körperfunktionen die nöthige Aufmerksamkeit schenkt, der Widerstandslosigkeit und Hinfälligkeit der Nerven entgegen zu arbeiten. Alles, was die Nerven übermüdet und überregt, soll vermieden werden. Maßhalten in der Arbeit wie im Genuß schont die Nervenkraft, Selbstbeherrschung in erregenden Momenten behütet die Nerven vor Ueberempfindlichkeit, zweckmäßiger Wechsel von geistiger Thätigkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_162.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2024)