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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

verweigerte. Er war auch viel um Ellinor und lachte unbändig über ihre lustigen Scherze und oft barocken Einfälle; aber er sandte ihr keine gluthstarren Blicke nach, wenn sie ging; sein Auge flammte nicht auf, wenn sie kam. Ebenso wenig rückte das famose Gedicht mit dem ersten (und einzigen) problematischen Vers aus der Stelle. Und dennoch – dennoch war eine Veränderung mit dem Freunde vorgegangen. Der sonst Rastlose, der seine Ueberkraft niemals hinreichend austoben konnte, versank auf Stunden und halbe Tage in ein stilles träumerisches Wesen; und wenn dann die Unbändigkeit in verdoppelter Heftigkeit wieder hervorbrach, war es nicht die alte harmlose – es war, als ob er sich von einer Last befreien wollte, die schwer auf ihm drückte, von einem Stachel, der ihn bis aufs Blut peinigte. Ein für den weggejagten „Neuen“ eingestellter zweiter „Neuer“ bekam nicht die mindesten Schelte, trotzdem er wirklich sehr ungeschickt und bis zur Frechheit naseweis war; in der Nacht hörte ich, dessen eigener Schlaf nur noch ein Traumwachen, den firmsten Schläfer der Welt unruhig auf seinem Lager sich wälzen und selbst im Traum dunkle Worte murmeln, von denen ich, wie ich so, voll ernster Sorge um den Freund, den Ellenbogen aufgestemmt im Bette saß, endlich eines doch verstehen mußte: Maria!

War es möglich?

Ich hätte beinahe laut in die stille Nacht hinein gelacht: das war ja, als ob man Feuer und Wasser mengen, zwei absolute Widersprüche mit einander ausgleichen wollte! es war einfach unmöglich. Und während ich mir diese Unmöglichkeit noch lächelnd zu vergegenwärtigen suchte, überkam mich plötzlich eine seltsame Bangigkeit, die Furcht vor etwas Schrecklichem, das sich da vorbereite. Denn, wenn es doch möglich war – und hundert kleine Umstände, die ich kaum beachtet oder falsch ausgelegt hatte, und die mir plötzlich wieder in Erinnerung kamen und in das rechte Licht traten, machten mir bald die Möglichkeit unzweifelhaft – was sollte daraus werden? Zwar in dem Einen glichen sie sich völlig; in der wandellosen Ehrlichkeit des Herzens und der unentwegten Treue, mit der sie ihren Ueberzeugungen folgten. Aber eben die mir wohlbekannte ungeheuere Differenz der letzteren mußte sie aus einander führen, wie sehr sich auch die starken Herzen nach Einigung sehnten. Wenn der Freund selbst sich darüber verblenden konnte, so gebot mir die Pflicht, ihm die Augen zu öffnen, so lange es noch Zeit war. Nur daß er, wie ich ihn kannte, mir schwerlich Gelegenheit zu dieser Intervention geben würde.

So beschloß ich denn, während ich schlaflos dalag in dem Dämmer der Mondnacht und auf die nun wieder ruhigen Athemzüge des Freundes lauschte, diese Gelegenheit vom Zaun zu brechen, und führte diesen Entschluß am nächsten Morgen aus, trotzdem mir dabei zu Muthe war, wie Jemand sein müßte, der genöthigt wird, einen schlummernden Löwen an der Mähne zu zupfen.

Es kam, wie ich erwartet. Schlagododro packte mich an beiden Schultern und schwur, mich todt zu schlagen, wenn ich noch einmal einen so verruchten Unsinn ausspräche, und dann geschah, was ich, wenigstens für den Augenblick, nicht erwarten konnte: er fiel mir weinend um den Hals und gestand mir schluchzend, daß er Maria liebe. Er sagte diesmal nicht: wahnsinnig; ich glaubte ihm auch ohne das.

Und dann, als wir uns Beide so weit beruhigt hatten, kam die Geschichte seiner Liebe.

(Fortsetzung folgt.)

Eine Kindersymphonie.

Von Oscar Justinus.

Wenn ich eine Kindersymphonie zu komponiren verstände, ich würde mit zehn Takten Pause ansetzen, dann ein zum Piano anschwellendes Pianissimo heranbringen, vom Piano zum Adagio, von diesem zum Allegretto und Allegro steigen unter Einsatz aller Instrumente molto vivaceagitatissimocon fuoco schließen.

Dieses musikalische Arrangement drängte sich meinem unmusikalischen Ohre auf, als wir neulich eine Kinder- oder – Verzeihung, meine Fräuleins! – Jungedamengesellschaft in unseren bescheidenen Räumen veranstalteten.

Es war unser erster Versuch auf diesem Gebiete.

Ein Freund unseres Hauses hatte uns seine beiden Töchterchen im Alter von vierzehn und dreizehn Jahren zugeführt, welche vor noch nicht gar zu langer Zeit ihre Mutter, eine durch Wohlthun und edle Gesinnung ausgezeichnete Frau, verloren hatten. Im Sinne der tiefbetrauerten Gattin hatte er die Kinder sich in ihrer Urwüchsigkeit kräftig und natürlich entwickeln lassen und Alles von ihnen fern gehalten, was ihre körperliche und geistige Gesundheit zu beeinträchtigen angethan war. Sie waren in einer mit der Stadt fast außer Zusammenhang stehenden Villa einigermaßen weltfremd aufgewachsen, ihr einziger Umgang die halb bäuerlichen Nachbarkinder, mit denen sie sich auf grünen Wiesen und sandigen Bauparcellen umhertummelten. Ihr städtischer Verkehr beschränkte sich auf Gretchen, eine gleichalterige Gespielin, für deren verarmte Familie die Verstorbene freundlich gesorgt, und auf deren neunjähriges Brüderchen, das den drei Damen einen gemeinsamen höchst respektablen Kavalier abgab.

Die jungen Mädchen Annchen und Hannchen, geborene Holsteinerinnen, waren schlanke Gestalten mit schlichtem Flachshaar, das sich glatt nach den Ohren hinzog und zu lang herabfallenden Zöpfchen vereinigte, die Gesichtchen von jenem durchsichtigen Rosenteint, wie ihn die Niederländer in die Malerei eingeführt haben, zeigten bei ihrer Staatsvisite eine unüberwindliche Schüchternheit. Sie bestrebten sich, das biblische Wort „Eure Rede sei ja, ja oder nein, nein“ noch zu überbieten: denn ihr Ja und Nein war nur mit Hilfe eines Mikrophons zu vernehmen, und sie färbten sich bei ihrer Antwort immer derartig in Purpur, daß der Fragende, mit dem Gefühle, einen wunden Punkt berührt zu haben, beschämt verstummte. Da für diese Dornröschen der küssende Prinz noch nicht in Sicht war, so mußte man sie – und dies war uns sofort klar – „vor allen Dingen in lustige Gesellschaft bringen“. Nach langer und gründlicher Berathung gelangten wir, nach Prüfung des uns zur Verfügung stehenden einschlägigen Materials, dazu, eine Gesellschaft von acht jungen Mädchen zu arrangiren, bei welcher aber der obenerwähnte Knabe eingerechnet war.

Heute kann ich es ja sagen: ich hatte vor dieser Gesellschaft eine fürchterliche Angst. Kein Wunder – denn es war das erste Mal, daß wir ein derartiges Wagniß unternahmen. Meine Frau gab sich zwar alle Mühe, mir einzureden, daß Kinder sich allezeit amüsirten und zwar um so mehr, je weniger man sich um sie kümmere. Aber aus ihrem Tone klang es nicht gerade wie Zuversicht, und zuletzt war sie von meiner Befangenheit derart angesteckt, daß sie mehr bangte, als ich selbst. Wir tragen allezeit ein drängendes Verantwortlichkeitsgefühl dafür herum, daß unsere Gäste sich bei uns wirklich amüsiren, und bekommen, wie die dramatischen Dichter, vor jeder Première von Neuem das Lampen- oder vielmehr das gastische Fieber. Aber große Menschen machen sich mit einander bekannt, reden vom Wetter, vom Branntweinmonopol, den Markthallen und dem „Zigeunerbaron“: Kinder dagegen müssen, das ahnte ich ja, einander vorgestellt – unterhalten, ja das Gespräch muß gewaltsam im Gange gehalten werden, wenn es nicht, wie eine feuchte Cigarre, jeden Augenblick ausgehen soll. Was fängt man aber mit ihnen an, wenn sie auf unser redlich Bemühen überhaupt nicht reagiren? Im Geheimen faßte ich den Plan, wenn gar nichts mehr verfangen sollte, das Weite zu suchen, und ich habe meine Frau in Verdacht, daß sie sich mit einem ähnlichen Gedanken als ultima ratio vertraut gemacht hatte.

Der gefürchtete Termin rückte langsam, aber sicher heran. Wir waren Vormittags zusammen ausgegangen, um zu der Chokolade – über diese Aufwartung waren wir schließlich einig geworden, weil sie einen viel feierlicheren Charakter hat, als der gewohnte alltägliche Kaffee – recht verschiedenartiges Gebäck einzukaufen. Ich glaubte dabei das Princip vorwalten lassen zu dürfen, daß es mehr auf die Form als den Inhalt, mehr auf die Farbe, als den Geschmack, mehr auf die Quantität, als die Qualität ankäme. Um noch ein Uebriges zu thun, kauften wir als etwaige Gewinne für die etwaigen Gesellschaftsspiele allerlei Meisterwerke der bildenden Kleinkunst aus jenem Material ein, welches die Götter in ihrem Zorne, die Zahnärzte in ihrem wohlverstandenen Geschäftsinteresse erfunden zu haben scheinen – aus Marzipan. Wir plünderten dann noch einen Obstkeller, ließen uns durch den „Lustgeruch“ und die rothen Kinderbäckchen der Aepfel wieder einigermaßen ermuthigen und thaten noch Datteln, Feigen, Paranüsse und – o Ideal meiner Kinderjahre! – Johannisbrot ein, um der Tafel einen gewissen kolonialen Anstrich zu geben.

Daheim angelangt, gab ich mich nicht ohne Erfolg einem gründlichen Studium von Georgen’s „Illustrirtem Allgemeinen Familien-Spielbuch“ hin – suchte in allen Kommoden, was bunt und glänzend aussah und was ich mir für den idealen Fall einer Kindergesellschaft nach und nach aufgestapelt hatte, zusammen und war gerade im Begriff, auf eigene Faust etwas noch nie Dagewesenes von Unterhaltungsspiel zu erfinden, als es klingelte. Hannibal ante portas! – die Kleinen kennen nicht einmal das akademische Viertel und sind von einer erschreckenden Pünktlichkeit.

Das waren die zwei lieben Töchterchen meines Schulfreundes, eines Oberförsters, welche der seit mehreren Jahren verwittwete Vater der guten Schwägerin, einer Institutsvorsteherin, zur geistigen und leiblichen Pflege in Pension gegeben hatte. Als der Papa das dritte Mal nach Berlin kam, um sich von den Fortschritten der Kleinen zu überzeugen, schrieb man gerade die großen Ferien, und er kehrte in seine Waldeinsamkeit im fernen Osten nicht zurück, ohne die sorgsame Ziehmutter zur richtigen Mutter des Geschwisterpaares promovirt zu haben. Nun führen sie ein Amphibienleben

wie die Blumen, die Kinder der Proserpina. Im Sommer leben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_190.jpg&oldid=- (Version vom 7.2.2024)