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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Herrn die Treue brach. Sie schien aber keinerlei Empfindung dafür zu haben, langsam stieg sie neben mir die Treppe hinauf und stand in meinem Stübchen zwischen unseren lieben alten Möbeln.

„Nun, Lotte, setze Dich, oder lege Dich nieder; sprich doch, was ist geschehen? Hast Du Dich erschreckt, hast Du schlechte Nachrichten? Sag’s doch! Du weißt ja, Lotte, ich trage Alles mit Dir!“ Ich schlang die Arme um ihren Hals; aber da glitt sie mit einem Aufschrei zu Boden, lag mit dem Kopf auf den Dielen, krallte die Hände in das Haar; endlich brach sie los, die furchtbarste Verzweiflung ihres armen stolzen Herzens. Es war nicht möglich, Einhalt zu thun. „Wenn Hans noch lebte, wenn er ihn todtschießen könnte!“ schrie sie heiser; und immer und immer wiederholte sie: „Wenn Hans noch lebte!“

Wie lange es so gedauert, erinnere ich mich heute nicht mehr. Frau Roden und ich brachten die völlig Erschöpfte endlich auf mein Bette. Blaß und still sah mich die gute kleine Frau an. „Tone, was ist geschehen?“

Ich wußte es nicht, noch immer nicht; erst nach Stunden erfuhr ich es durch den zerknitterten Brief, den Lotte in der Hand hielt, und den sie mir endlich als Antwort auf meine vielen Fragen gab. Er war vom Prinzen.

Mit brennenden Augen las ich. Leidenschaftlich zärtliche Worte waren es, Versicherungen unwandelbarer Liebe und endlich hieß es: „Meine Eltern scheinen es ja verteufelt eilig zu haben, mich unter die standesgemäße Haube zu bringen; die Wittwe meines Bruders läuft mir nicht davon, sollte ich meinen, und so schnell lasse ich meines Lebens Glück mir nicht rauben. – Wir verhandeln mündlich über diese Angelegenheit. Ich denke, vorläufig verderben wir uns unsere reizende Korrespondenz nicht mit solchen trüben Dingen.“ –

Dann tanzten die Buchstaben vor meinen Augen, ich sah nur noch die Worte: „Aeußerliche Schranken – niemals trennen.“ Nun begriff ich Lotte’s Verzweiflung.

„Arme Lotte!“ Ich beugte mich über sie und streichelte ihr heißes Gesicht.

„Habe ich das verdient?“ Und mit wüthender Geberde schleuderte sie den Trauring von sich, als ob er, dem sie ihn vor die Fäße zu werfen gedachte, dort in dem Winkel des Zimmers stehe. „Stecke ihn ihr doch an und werde glücklich!“ fuhr sie fort und richtete sich halb im Bette auf, „aber denke nicht, daß meine Augen Dich nur noch streifen werden!“ und so saß sie, die Fäuste geballt, zitternd und fast erstickend vor Zorn. Es blieb nichts übrig, der Arzt mußte geholt werden.

„Was wird das, Doktor?“ flüsterte ängstlich Frau Roden.

Er sprach ein paar beruhigende Worte, verschrieb eine Arznei und zuckte die Schultern. Noch einmal wagte ich, ihn zu fragen: „Kann es schlimmer werden, bester Herr Doktor?“

„Abwarten!“ sagte er im seiner kurzen Manier und ging.

Und sie sprach weiter, unaufhörlich; aber ruhiger schien sie zu werden. Sie war im Mondschein in dem Garten, und die Nachtigall sang. „Otto!“ sagte sie. Wie innig das klang. Sie plauderte von ihrem Brautkranz, und wie kurz die Stunden; vom Scheiden und vom Wiedersehen, bis sie aufs Neue in wilde Delirien verfiel: „Hans, räche mich. Schieße ihn todt, todt!“ – So ging es bis zum grauenden Morgen; da erst ward sie still, und endlich hatte der Schlaf sie doch gefunden. Sie lag das Gesicht nach der Stube zugewandt und um den Mund ein Lächeln.

Leise schlich ich mich hinaus und saß in meinem Stübchen auf dem Sofa. Mich fröstelte in der Morgenkühle, und der Kopf war mir schwer. Ich hatte es kommen sehen, und nun es geschehen, war es dennoch mit all der Schwere eines plötzlichen großen Unglückes hereingebrochen. – Als ich aus einer Art von Halbschlaf erwachte, schien die Sonne hell in das Zimmer und vor mir am Tische stand – Lotte. – Sie sah furchtbar bleich aus, unordentlich die Kleider und das Haar, und so merkwürdig der Ausdruck ihres Gesichtes.

„Wie geht es Dir, Lotte? Warum bleibst Du nicht liegen?“

„Ich bin nicht mehr müde,“ erwiderte sie und sah an mir vorüber. „Mich friert nur.“

Ich zog sie ins Sofa, deckte sie zu, ließ Feuer anmachen und brachte ihr heißen Kaffee. Sie trank auch, aber sie saß dann wieder regungslos in der Sofa-Ecke und sah auf einen Fleck. Leise kam ich herzu, um ihr die wirren Haare zu ordnen;

da bog sie den Kopf zur Seite, und von unten herauf traf mich ein funkelnder böser Blick.

Ich versuchte es nicht mehr; ich versuchte auch nicht mehr zu sprechen, denn ich bekam keinerlei Antwort. Sie blieb unbeweglich, und um Mittag saß sie noch so. Als der Arzt erschien, wurde er sofort verabschiedet; sie sei ganz gesund!

Frau Roden erhielt so wenig eine Antwort, wie ich; vor meiner Zimmerthür sprachen wir flüsternd zusammen, die alte Dame und ich. „Lassen Sie sie allein, es ist eine Krise,“ sagte sie, „und kommen Sie einmal herunter zum Fritz. Ich hatte gehofft, man könnte ihm die ganze Sache verheimlichen, aber der Doktor hat sich wohl verplappert, oder woher er es sonst wissen mag – er ist furchtbar verstimmt und unruhig.“

„Wenn ich nur wüßte, was nun werden soll?“ fragte ich.

„Die Arme ist noch nicht zur Besinnung gekommen, Tonchen! – Fritz muß schon vernünftig sein.“ Das Letzte klang wie ein Seufzer.

Ich ging hinunter in das Krankenzimmer und trat an das Sofa, auf dem Fritz Roden jetzt den Tag zu verbringen pflegte. Er hatte Bücher und Zeitungen vor sich auf der Decke liegen, aber er las nicht. Machte es die Einbildung? Sein „Guten Tag“ klang mir nicht so wie sonst, und sein Blick streifte die kleine Uhr auf dem Tische neben dem Lager. Es war drei Uhr Nachmittags.

„Haben Sie auch Zeit für mich?“ fragte er, als ich mich still ans Fenster setzte und eins der Blätter ergriff, um vorzulesen.

Ich sah ihn an, er war dunkelroth geworden bei diesen Worten, dann wieder bleich, und es zuckte nervös um den blonden Vollbart. „Ja, ich habe Zeit.“

„Wirklich?“ Es klang so komisch, wie Besorgniß und doch auch wie Hohn. „Wirklich? Nein, lassen Sie das Lesen; ich bin zu nervös, zu unruhig – um zu hören.“

Ich ließ das Blatt sinken und sah zum Fenster hinaus. Was sollte ich auch thun? Hier saß ja nur „Die Andere“, und droben, in seinem Hause, weilte die, die er nie vergessen, unglücklich, krank und schutzlos!“ –

„Ich bitte Sie, Fräulein von Werthern,“ sprach er weiter, „bleiben Sie meinetwegen nicht hier, Sie sind sicher wo anders nöthiger.“

Ich fuhr empor. „Ich gehe schon; Ihre Mutter schickte mich, weil sie meint, Lotte brauche Ruhe und Sie Erheiterung. Ich werde meine Pflichten gegen Lotte nicht vernachlässigen.“

Wie schnell ich die Zeitung auf den Tisch warf und, die Thränen verbeißend, an seinem Lager vorüber zur Thür eilte, ich weiß es nicht mehr. – Es war die Angst, die aus ihm sprach, die namenlose Angst um Lotte. Also immer noch!

Gegen Abend redete Lotte mich an. „Tone, hast Du Schreibzeug?“ Ich holte bereitwillig das Verlangte und zündete die Lampe an. Und sie schrieb. Sie war noch immer in ihrem wirren Haar und dem nachlässigen Anzug, und ihre Feder warf große hastige Bnchstaben auf das Papier. In kurzer Frist war der Brief fertig.

„Tone, besorge Du ihn zur Post,“ bat sie. – Ich trug den Brief fort, er war an den Prinzen.

Als ich zurückkehrte, begegnete Anita mir am Hofthor; sie trug einen Brief und eine Depesche in der Hand. „Die Gräfin hat die Briefe nicht angenommen; ich soll sie in ein Kouvert thun und dabei vermerken, die Gräfin sei verreist.“

„Vom Prinzen, Anita?“

„Ja!“ antwortete das Mädchen und ging weiter.

Als ich in mein Zimmer trat, erblickte ich Lotte, hastig hin und her wandernd; sie sah förmlich unheimlich aus. „Die Person ist bereits impertinent genug, mich fühlen zu lassen, daß – –“ Sie war, die Hände zur Faust geballt, vor mir stehen geblieben, aber sie vollendete nicht; es war, als fände sie keinen passenden Ausdruck.

„Wen, Lotte? Wen meinst Du?“

„Anita meine ich – wen sonst? Ich habe ihr gesagt, sie soll mir einige Sachen herüber bringen, und sie bleibt ewig lange! Nun, ich habe ja auch nichts mehr zu befehlen,“ lachte sie und lief ans Fenster, und von dort begann sie wieder ihren Kreislauf durch das Zimmer.

Ich zündete schweigend die Lampe an und zog die Vorhänge zu.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_214.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2020)