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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

ehemaligen Bräutigam zu Füßen gefallen war, ihn um Verzeihung angefleht habe, ward in tausend Variationen verbreitet.

Ich ging umher, wie auf glühenden Kohlen; was sollte nun werden? Hier bleiben konnte Lotte nicht, allein ziehen lassen durfte ich sie ebenfalls nicht; in ihrem jetzigen Gemüthszustande war selbstverständlich keine Rede davon. ich hätte sie begleiten müssen, aber – wohin? Und wie leben? Und wenn ich auch arbeiten wollte von früh bis spät, es würde kaum für Lotte reichen, wir besaßen nichts, wirklich nichts!

Vom Hofe blieb jede fernere Nachricht aus. Ob die Scheidung bereits angebahnt war? Ob nicht? Wir erfuhren es nicht. Und immer tiefer drückte mich das Bewußtsein zu Boden: hier darf sie nicht bleiben; es hieße, Güte und Freundlichkeit allzusehr mißbrauchen.

„Charlotte,“ begann ich eines Nachmittags, als ich sie mit hundert guten Worten zwingen wollte, etwas Kaffee zu trinken, und sie widerwillig meine Hand zurückschob, welche die Tasse hielt, Charlotte, ich muß ernstlich mit Dir sprechen, so geht es nicht länger. Was hast Du beschlossen? Welche Nachrichten hast Du dem Kammerherrn gegeben? – Du wirst einsehen, daß wir in diesem Hause nicht länger bleiben können. Bitte, sag’s mir, was gedenkst Du zu thun?“

Sie sah mich an und zuckte die Schultern. „Ich habe ihnen den Bettel vor die Füße geworfen!“ antwortete sie endlich.

„Das ist unüberlegt von Dir gewesen, Charlotte,“ tadelte ich.

Sie zuckte abermals die Schultern und sagte tonlos: „Mir ist Alles gleich!“

Es waren die nämlichen Worte, die sie täglich so und so oft sprach. Verzweifelt lief ich hinunter in die Wohnstube, wo Frau Roden am Fenster saß und strickte. „Was soll nun werden?“ fragte ich, „liebe Frau Amtsräthin, was soll nun werden?“

Sie verstand mich und erwiderte: „Geduld, Tonchen, sie ist noch krank, sie ist eine von den Naturen, die nie hoch genug steigen und nie tief genug fallen können. Geduld!“

„Aber sie darf Ihnen nicht länger zur Last sein.“

Sie strich mir mit der Hand über das Gesicht. „Sie ist mir nicht zur Last, Tonchen; ich habe nur ein Bedenken –“ und ihre Augen richteten sich besorgt auf die kleine Tapetenthür, die in das Zimmer des Sohnes führte. „Ich fürchte, er hat noch immer nicht überwunden,“ flüsterte sie und nickte mir kummervoll zu. „Er ist ungeduldig, er lauscht auf jeden Tritt dort oben; ich wollte ihn eigentlich umquartieren, ihn wieder in sein altes Zimmer bringen, nach dem Hofe hinaus; doch als ich davon sprach, ward er so heftig, wie ich ihn noch nicht gesehen habe –. Er fragt ja nie nach ihr, Tonchen, – aber ich weiß, was ich weiß, er kann sich vor mir nicht verstellen.“

Ich sah es ein, tausendmal! Wenn ich nur eine Auskunft gewußt hätte. „Ich werde Alles versuchen, um Lotte zu bewegen, mit mir fortzugehen,“ sagte ich; „es wird ihr auch gut thun – ich –“

„Sie, Tonchen? Sie habe ich nicht gemeint,“ unterbrach mich die alte Frau. „Und wohin wollten Sie auch? Nein, jetzt heißt’s abwarten, bis Charlotte wohler, bis die Scheidungsangelegenheit erledigt ist. Aengstigen Sie sich nicht; ich passe schon auf. Denken Sie lieber daran, wie wir meinen Jungen etwas heiterer bekommen, denn so wird’s nichts mit dem Besserwerden.“

Und wieder vergingen Tage um Tage und nichts änderte sich in Lottes Zustand. Draußen goß es in Strömen, und das trübe dunkle Novemberwetter drückte die Gemüther noch mehr zu Boden. Der Einzige, der mir ruhig erschien, war Fritz. Zwar versicherte die besorgte Mutter das Gegentheil, aber mir kam es vor, als wäre seine Miene gleichmäßig froh, wenn ich an seinem Lager sitzend vorlas oder seinen Arm verband. „Ekkehard“ war zwar beiseite gelegt, aber ich hatte soviel aus den Zeitungen zu berichten, denn Metz und Paris waren in den Vordergrund getreten.

Eines Nachmittags klopfte es an die Thür unseres Stübchens oben, das ich grade verlassen wollte, und Anita kam herein. Sie brachte einen Brief. Ich aber ging hinaus, denn ich wußte, dort unten in dem Krankenzimmer wurde ich schon längst erwartet. Da stand das Kaffeegeschirr auf dem Sofatisch und die Lektüre lag bereit; Frau Roden saß neben dem Sohne und hielt seine Hand.

„Tonchen!“ rief sie mir entgegen, „er wird schon ungeduldig; nun rasch den Kaffee, er schmeckt nicht, wenn Sie ihn nicht eingießen.“ Und bald saßen wir gemüthlich um den runden Tisch, und ich griff zur Zeitung und las.

„Oben geht jemand,“ unterbrach er mich nach einer Weile.

„Anita ist es,“ warf ich hin und las weiter, und dabei vergaßen wir alle Drei unsere eignen Angelegenheiten so sehr, daß endlich Fritz Roden bemerkte: „Mein Gott, es ist ja schon dämmerig; halten Sie ein, Fräulein von Werthern, schonen Sie Ihre Augen.“ Nun gab es noch ein Hin und Her über das Gehörte, und endlich stand Frau Roden auf und ging hinaus.

Es plaudert sich so hübsch in der Dämmerung, im warmen Zimmer, und Fritz Roden, der sonst nie im eigentlichen Sinne des Wortes redselig zu nennen war, sprach ohne Aufhören in seiner ruhigen Weise. Es war Alles so schlicht und klar, was er sagte, ohne jeglichen Aufputz; so klar und einfach, wie sein ganzes Sein und Handeln. Dann stockte er, denn oben wurde Klavier gespielt. Das war Lotte, so spielte nur sie. Wie kam sie dazu? Deutlich und süß scholl er herunter, der wundervolle Chopin’sche Trauermarsch, und mitten darin brach sie jäh ab und ging in eine Mazurka über.

„Was soll das heißen?“ fragte ich mich, und scheu blickte ich zu ihm hinüber; er lag still und schien zu lauschen.

Und weiter und weiter spielte sie, und wie wenn sie erwacht aus langem Leid, so erklang immer lebensvoller, immer bewegter ihr wundervolles exaktes Spiel.

„Fräulein von Werthern,“ sagte er plötzlich, „ich habe den ‚Ekkehard‘ zu Ende gelesen ohne Sie – zürnen Sie mir?“

„O nein!“

„Und eine Stelle – sie steht so ziemlich am Schluß, die ist die schönste im ganzen Buche, so einfach, so ergreifend und wahr; oder vielleicht hat sie mich nur so gepackt!“

Oben verstummte jetzt das Spiel so plötzlich, wie es angefangen; ich hörte hin und her wandern und fand nicht den Muth hinauf zu gehen, um zu fragen, was das Spiel bedeute, ebenso wenig wie ich ihn fand, nach jener Stelle im „Ekkehard“ zu fragen.

Aber er vermißte meine Antwort nicht, er sprach weiter. „Wissen Sie denn, Tone, daß Sie just heute vor einem Jahre in Rotenberg eintrafen? Grade in dieser Tagesstunde mag es gewesen sein, als Sie den Fuß über unsere Schwelle setzten. Hatten Sie nicht daran gedacht? Ich habe es nicht vergessen –. Nicht wahr, damals habe ich von Rosen gesprochen, die Ihnen und den Ihrigen in Rotenberg erblühen sollten? War’s nicht so? Und statt der Rosen kamen Dornen, statt Glück – Unheil, Tod, Krankheit und noch Anderes, viel Traurigeres. Es war ein schweres Jahr für uns Alle; und dennoch möchte ich die Wunden nicht missen, die es mir geschlagen hat. Sie glauben nicht, Tone, wie köstlich es ist zu genesen, denn, wer nie krankte, wie kann er dieses täglich mehr sprossende Wohlbefinden ermessen? Nur ein wieder Sehendgewordener jubelt dem Lichte zu.

Es befremdet Sie wohl, daß ich so spreche? Ich bin keine poetisch veranlagte Natur, aber mir ist seit ein paar Tagen, als ob ein ganzer Frühling mich umfangen hielte; ich bleibe nur noch mit Mühe auf dem Sofa hier, ich möchte hinaus in die frische Luft, hinaus zu meinem Regiment, dem Siegeszug unserer Truppen zu folgen; und doch kann ich den Arm noch nicht bewegen, und bin vorläufig nur ein Krüppel. Aber die Sehnsucht ist da, wie sie im Lenz die Menschen packt, so gewaltig, hoffnungsselig, so glückverheißend –. Nun, und Sie haben kein Wort für mich?“

Ach – Lotte! Er liebte sie immer noch, und der Frühling, der ihn umfing, war ihre baldige Freiheit. Mir war zu Muthe wie an jenem Abend, als er mir sagte: „Sprechen Sie für mich bei Ihrer Schwester.“

Arme thörichte „Andere“ Du!

„Hat Dich das Klavierspiel gestört?“ fragte Frau Roden, die eben wieder herein kam, mit schier ängstlicher Stimme.

„Nicht im Geringsten,“ erwiderte er.

„Sonst möchtest Du doch lieber wieder Dein Zimmer bewohnen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist so gemüthlich neben Deiner Stube; laß mich hier.“ Und als ich aufstand und hinausgiag, rief er mir noch nach: „Ich bitte Sie, der Gräfin nicht zu sagen, daß man das Spiel hier unten so deutlich hört; es stört mich wirklich nicht!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_226.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2022)