Seite:Die Gartenlaube (1886) 296.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sanft und eintönig schloß sich der Gesang der Gemeine an:

„Und sprich auch nicht: es ist noch Zeit,
Ich muß erst diese Lust genießen,
Gott wird ja eben nicht gleich heut
Die offnen Gnadenpforten schließen.
Nein, weil er ruft, so höre Du
Und greif mit beiden Händen zu.“

Es entstand plötzlich eine Bewegung unter den fremden Damen; Leonore lag zurück gesunken ohnmächtig an der Lehne der Bank.

Als sie wieder zu sich kam, stand die alte Reisegefährtin neben ihr und rieb ihr die Schläfen mit Eau de Lavande.

„Was war das nur?“ flüsterte Leonore. „Es rauschte um mich immer lauter, immer näher. Dann vergingen mir die Sinne. Verzeihen Sie die Störung.“

„Sie haben durch Ihre Ohnmacht Niemand gestört,“ tröstete die Schwester. „Wie Sie sehen, geht unser Gottesdienst ruhig seinen Gang.“

Eben öffnete sich geräuschlos die Pforte. Schwestern traten ein, die auf großen Platten Thee in Meißner Schälchen und Körbe voll Milchbrötchen trugen. Die Feier des Liebesmahles begann. Mit vornehmer Verneigung boten sie den Trank, den ein feiner Duft von Vanille umschwebte.

Dazu hallte leise Musik vom Chor her, wo Schwestern und Brüder mit musikalischen Instrumenten und Notenblättern standen. Die Gesichter der jungen Mädchen, die sich an die braunen Geigen schmiegten, sahen so regelmäßig und unbewegt aus, wie die der musicirenden Englein auf den Bildern von Albrecht Dürer.

Die alte Schwester, welche Jakobine genannt wurde, reichte Leonoren eine Tasse Thee und ein Brötchen. Dann genoß auch sie, neben ihrem Schützling sich niederlassend, von dem Dargebotenen.

Sie trug gleich den anderen ledigen Schwestern ein weißes Kleid und ein flaches Häubchen, das mit blassen rosa Bändern gebunden war. Aber der Kontrast der festlichen Farben zu dem welken Gesicht und der verkümmerten Gestalt würde durch die auspruchslose Haltung, den harmlosen Ausdruck der Mienen vollkommen getilgt.

„Ebenso könnte ein weißes Sterbekleid unangemessen erscheinen,“ sagte Leonore zu sich selbst.

(Fortsetzung folgt.)




Bilder von der Ostseeküste.
Danzig.
Von Fritz Wernick.0 Mit Originalzeichnungen von Robert Aßmus.

Die „Beischläge“ in Danzig.

Ein langer, einförmiger Weg führt aus dem Herzen des Reiches nach dessen Nordostmark an die Gestade des baltischen Meeres. Noch von der Reichshauptstadt aus fahren wir einen vollen Tag durch ausgedehntes Weideland, über traurige Heiden zwischen Kieferwaldungen in ununterbrochenem Flachland dahin, ohne ein einziges Mal durch freundliche Landschaftsbilder oder interessante Städte angezogen zu werden. Wir wollen nach Danzig, der altberühmten Hansestadt, einer Warte deutscher Kultur auf slavischem Boden. Endlich hebt aus der grasigen Niederungsflur die thurmreiche Stadt sich am Horizonte hervor, ein erstes, ein einziges Bild, welches das Auge fesselt auf der ewig langen Bahnfahrt.

Als historische Stadt, gleich Nürnberg, Prag oder Köln, erscheint Danzig uns schon aus der Ferne. Diese gothischen Thürme, die einen niemals vollendet, die anderen in weit späterer Zeit mit zierlichen Aufsätzen behelmt, diese schlanken Giebel hat schon die gothische, die Zeit der deutschen Ordensritter gekannt, sie hat der Schwede, der vor länger als 200 Jahren die baltischen Provinzen mit Krieg überzogen, gesehen, sie sind heute noch unverändert; die äußere Physiognomie der ehrwürdigen Handelsstadt an der Ostsee wandelt und wechselt nicht in ihren charakteristischen Zügen, ob auch darinnen manches anders geworden im Laufe der Jahrhunderte, anders und besser. Zu den Thürmen gesellen sich bald noch bewimpelte Masten, Segel flattern auf, Dampfschornsteine bringen einen modernen Zug in das ehrwürdige Städtebild, das nun erst ein vollständiges wird, denn nur als Handelsplatz, als Seestadt darf Danzig sich dem Ankömmling zeigen, wenn er es wirklich und gut kennen lernen soll.

Eigentlich gehört auch noch der gelbe, slavische Weichselstrom in dieses Bild und der weite von Höhenzügen umrandete Spiegel der See. Wer an diesem günstigen Punkt des Gestades zuerst sich angesiedelt, ob Wikinger, Dänen, Gothen, ob slavische

Völker, Altpreußen, das weiß man kaum genau. Wahrscheinlich

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_296.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)