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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Die Neugriechen.
Von Eduard Engel (Berlin).


Die „griechische Frage“, d. h. die Abtretung von Epirus, Makedonien und sämmtlichen Inseln an Griechenland, beschäftigt jetzt, wie in den letzten Jahrzehnten ja schon wiederholt, seit Monaten die ganze europäische Großmachtdiplomatie, die Börse und die Presse. Jeder Zeitungsleser hat sich über diese Frage, wie über die meisten andern, sein Urtheil längst gebildet, d. h. er hat es fix und fertig aus seiner Morgenkaffee-Zeitung übernommen und kommt damit aus. Von dem Volk aber, welches diese neueste „Frage“ mit so nachdrücklichen Fragezeichen auf die politische Schreibtafel geschrieben und sie immer wieder schreiben wird, bis sie einmal endgültig beantwortet sein wird, hat man eine erstaunlich geringe Kenntniß.

Griechenland liegt nicht mehr außerhalb der europäischen Grenze wie früher; man kann wöchentlich mehrere Male auf sehr verschiedenen Wegen, wenn Einem die Cholera nicht gerade einen der kürzesten versperrt, nach Athen gelangen und von dort eine schnelle Rundreise auf bequemen Dampfern des Oesterreichischen Lloyd und der drei griechischen Dampfergesellschaften um den Peloponnes machen. Man bekommt bei solcher vergnüglichen Runfahrt allerhand Küstenstädte und -städtchen zu sehen, die sich vom Schiffe aus äußerst malerisch ausnehmen, hat in Athen eine Mischung von Pariser und Brüsseler Leben mit einigem orientalischen, in Korfu ein süditalienisches Hafenstädtchen mit etwas Griechenthum kennen gelernt, ist allenfalls von Katakolo nach Pyrgos und von hier nach Olympia in einem behaglichen Wagen gefahren, hat entweder einen Dolmetscher mitgenommen oder ist mit Stangen gereist, hat natürlich bei dieser Gelegenheit auch einige Fustanella[1] tragende Griechen, wohl gar einige Bauersleute gesehen, und nun ist man mit Griechenland und den Griechen fertig. Die Zahl der Ausnahmsreisenden, welche tief ins Land hineingedrungen sind, und zwar mit dem unentbehrlichsten aller Forschungsmittel, der Kenntniß der Landessprache, ist noch immer eine erstaunlich geringe, und so kommt es denn, daß Vorurtheile der allerverschiedensten Art sich die Hände reichen, um das Publikum gegen Griechenland und die Griechen einzunehmen. Das nämlich, was man bei einer solchen Rundfahrt zu sehen bekommt, enthält so viel Schattenseiten des griechischen Lebens, die an der Oberfläche liegen, und bringt so wenige der vielen ausgezeichneten Eigenschaften dieses Volkes ans Licht, daß man sich nicht wundern kann, wenn noch heute, im Jahrzehnt der Blitzzüge und Schnelldampfer, griechische Menschen und Dinge nahezu unbekannter sind, als west- und ostafrikanisches Volk und Land.

Da ist zunächst die Abstammung der Neugriechen! In der Wissenschaft ist freilich die Behauptung Fallmerayer’s längst abgethan: die Griechen seien weiter nichts als Südslaven, gemischt mit Albanesen. In der Praxis aber, soweit die Westeuropäer überhaupt über die Abstammung der Neugriechen sich den Kopf zerbrechen, kann man heut zu Tage noch überall die ganz unbefangen vorgetragene Meinung vernehmen: „nicht wahr, von den alten Griechen stammen die Neugriechen doch nicht ab?“ Man hat auf den deutschen Universitäten hin und wieder einen griechischen Studenten gesehen, und da diese Herren meist kleine, unansehnliche Leute sind und von weitem wirklich den Südslaven ein bischen ähneln, so hat das Vorurtheil immer neue Nahrung erhalten.

Nein, die Neugriechen sind echte und rechte Nachkommen der alten Griechen, vielleicht in höherem Grade, als die heutigen Italiener Nachkommen der alten Römer sind. Mischungen mit andern Völkerstämmen, die von Norden und Nordwesten im Mittelalter erobernd ins Land drangen, haben allerdings stattgefunden, aber diese Mischungen sind nicht stark genug gewesen, um den Charakter, die Sitten und vor Allem die Sprache des Volkes wesentlich zu ändern. Freilich, auf den Inseln des westlichen Meeres, auf Korfu, Kephalonia und Zante kreist mindestens eben so viel italienisches oder fränkisches Blut in den Adern der Menschen wie griechisches, und auch in Athen und Umgegend sieht es mit der Reinheit der Rasse nicht sehr griechisch aus. Im Innern aber, sowohl des Peloponnes wie auch großer Theile des rumeliotischen Griechenlands, wohnt ein Volk, welches völlig abweichend ist in physischem wie geistigem Charakter von allen andern Völkern Europas, namentlich auch von den Südslaven.

Wer von Arkadien durch Messenien nach Lakonien gewandert ist und die hohen Männergestalten gesehen hat, die nicht etwa vereinzelt, sondern als Regel das Land bewohnen, Riesen von sechs Fuß und darüber, wahre Muster männlicher edelster Schönheit, der lacht, wenn er sich seines vielleicht früher selbst gehegten Vorurtheiles gegen die Abstammung der Neugriechen erinnert. Diese Menschen kommen freilich nicht nach Deutschland, um auf unseren Universitäten zu studiren, auch ihre Söhne nicht. Die bleiben auf ihrer eigenen Scholle, bebauen von Vater auf Sohn denselben Weinberg, sammeln die Oliven von denselben Oelbäumen und lassen sich auch durch die machtig vordrängende griechische Volksschule nicht in dieser uraltgewohnten Lebensweise stören. Was zu uns aus Griechenland kommt, ist Stadtvolk, ein verkümmertes, verhutzeltes Geschlecht, das seit Menschenaltern in den Städten haust und sich im Gasthause zum Menschen herangebildet hat.

Unantastbarer aber als die ethnologischen Gründe für die Echtheit der Rasse sind die sprachlichen. Wenn je ein Volk durch Jahrtausende seine Sprache treu bewahrt hat, dann das griechische. Es macht auf den Sprachforscher beinahe einen unheimlichen Eindruck, wenn er in der neugriechischen Sprache, und zwar wohlgemerkt in der Volkssprache, fast all den Formen und Wörtern begegnet, die er seit frühen Knabenjahren als längst abgestorben (todte Sprache!) zu betrachten gewöhnt worden ist. Was die neugriechischen Städter heute sprechen, und was die Journalisten und Schriftsteller heute schreiben, das mag auf sich beruhen; denn es ist nichts Volksthümliches, sondern mühsam erlernt; wie auch wir unser Griechisch mühsam erlernt haben. Niemand aber in Griechenland spricht das Griechisch der Zeitungen und Bücher als Umgangssprache, auch die Gebildetsten nicht, es sei denn im Parlamente, wo es zum guten Tone gehört. Darum ist man auch völlig verblüfft, wenn man mit dem mühsam zu Hause erlernten Neugriechisch in Korfu ans Land steigt, daß man die Sprache des Volkes nicht versteht und von ihm nicht verstanden wird. Denn in der Familie und im Umgange herrscht überall die neugriechische Volkssprache, griechisch in jeder Faser ihres Seins, vor Allem ganz griechisch in ihrer Grammatik und mit so wenig fremden Beimischungen in ihrem Wörterschatze, daß namentlich wir Deutsche mit unserem Heere von Fremdwörtern uns dagegen verkriechen können. Die jahrhundertelange Unterjochung des Landes durch Italiener und Franzosen im Mittelalter, die fast vierhundertjährige Knechtschaft durch die Türken hat nichts vermocht über die Unverwüstlichkeit des Lebens der griechischen Sprache. Mit Ausnahme leicht zählbarer, jetzt immer mehr aussterbender türkischer und italienischer Wortentlehnungen ist das Griechische durchaus griechisch geblieben.

Ein anderes Vorurtheil gegen Griechenland und die Griechen ist das Gerede gegen das Räuberwesen. Es wird noch lange dauern, ehe in diesem Punkte eine Besserung der öffentlichen Meinung Europas eintritt, und doch ist kaum ein anderes Vorurtheil gegen Land und Leute ungerechter als jenes. Seit 16 Jahren ist in Griechenland gegen keinen Fremden auch nur der Versuch eines feindseligen Angriffs auf Leben oder Habe gemacht worden, und doch wird, namentlich von Deutschen, jeder Winkel, jedes entlegenste Gebirgsthal des Landes durchstreift, allein oder mit einem Führer, waffenlos, ohne Schutz durch Soldaten oder Polizisten. Wenn es doch gelänge, den verhängnißvollen Irrthum, der leider auch in Deutschland herrscht, auszurotten, daß man in Griechenland auf einer Reise abseits von der großen Wanderstraße Gefahr läuft, von Räubern angegriffen, in finsteren Höhlen versteckt und nur gegen hohes Lösegeld freigegeben zu werden! Die Sicherheit in Griechenland ist selbst in den bewegten Tagen, in denen diese Zeilen geschrieben werden, während das Volk durch das Kriegsgeschrei gegen die Türkei fieberhaft erregt ist, während Alles von Waffen starrt und selbst ein Theil der Gendarmerie zur Grenze abgegangen ist – eine so vollkommene, wie ganz gewiß nicht in Mittelitalien, von Sicilien ganz zu schweigen. Wer nach Griechenland reisen will, der lasse bei Leibe den sechsläufigen Revolver zu Hause. Solch ein Ding erregt

  1. Ein hemdartiger Ueberwurf, der über den Hüften durch einen Zug zusammengehalten wird.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 388. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_388.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2021)