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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

brauchte - machte ich jetzt wieder Halt. Denn die Uhr in dem Laden des Uhrmachers zeigte auf neun, und gleich darauf schlug es auch neun von irgend einem Thurme in der Nähe: die verabredete Stunde.

Ich wartete fünf, zehn Minuten, nach allen Richtungen spähend: unter den Passanten wollte Fritz' breitschultrige Gestalt nicht auftauchen. Es mußte ihm irgend Etwas dazwischen gekommen sein. Geduldig begann ich meine Wanderung von neuem, jetzt aber mich auf die Nähe des Saxonia-Hôtel beschränkend und nur manchmal über die Straße herüber bis an den Rand des Quai gehend und dort, mich auf die hölzerne Brüstung lehnend, in den Hafen hinein nach der Richtung spähend, wo, wie ich wußte, die „Cebe“ vor Anker lag.

Es lagen nicht eben viele Schiffe im Hafen - hatte mein Wirth gesagt, und Fritz hatte es bestätigt trotzdem mir, dem an die bescheidenen Verhältnisse meines kleinen Heimathsortes Gewohnten, der Anblick der langen schier endlosen Reihen von so viel Fahrzeugen jeder Größe und Gattung mit dem Wald von Masten, Raaen, Spieren, der von einem unentwirrbaren Netz von Tauen übersponnen und von zahllosen Wimpeln überflattert war, gewaltig imponirte. Gerade in diesem Moment, wo sich das ungeheure Bild von dem rothglühenden abendlichen Himmel, bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich erkennbar, abhob, schwimmend auf dem Wasser, welches die rothe Gluth zurückstrahlte, daß es, aller Erdenschwere entrückt, mir wie ein Abbild der Freiheit erschien, nach der meine Seele lechzte, wie der Hirsch nach Wasser.

Und die Worte Faust´s, der der scheidenden Sonne nachblickt, kamen mir in den Sinn:

„Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht -“

Welche Nacht! so dunkel, so voll von Schrecken, daß mir, der ich jetzt an sie zurückdachte, an dem brutwarmen Sommerabend das Blut kalt durch die Adern rieselte. O, der grausigen Stunden, die ich - drei endlose Tage und Nächte hindurch in dem Giebelstübchen der Mühle verbrachte, bis die Jagd, welche man ringsumher nach mir, wie nach einem entsprungenen Verbrecher anstellte, an ihrer Erfolglosigkeit ermüden würde! Damals, als man glaubte, daß die Wasser des Baches sich über meiner Mutter und ihrem Kinde geschlossen, hatte man es sich bequemer gemacht. Die böse Sache sollte eben geheim bleiben. Heute hatte es gerade nur noch an einem Steckbrief in den Zeitungen hinter mir her gefehlt. Woher der Unterschied zwischen damals und jetzt? War es, daß man die vermeintlich Todte nicht zu fürchten brauchte, oder höchstens, wenn ihre Leiche gefunden wurde, und deßhalb lieber den Bach gar nicht absuchte; wohl aber den voraussichtlich Lebenden scheute, der am Ende gar die Indiskretion hatte, die Welt mit seinen Erlebnissen am herzoglichen Hofe bekannt zu machen? War es Adele's Einfluß, die, nachdem sie ihren Frieden mit dem Herzog gemacht, nicht daran zweifelte, daß es ihr gelingen werde, den Bruch zwischen ihm und mir wieder auszuheilen= War es die kindisch-lächerliche Ursache dieses Bruches, deren man sich nachträglich schämte, und die man vergessen machen wollte, bis nun ja, bis man den Ueberlästigen wenigstens auf eine anständige Weise entfernen konnte? War es, daß die momentane thörichte Wallung denn doch einer besseren Empfindung hatte weichen müssen; man sich des Wohlwollens erinnerte, mit dem man den jungen Menschen behandelt hatte, und das dieser doch auch zu verdienen schien, und in Folge dessen wirkliche Reue über das Geschehene empfand und das Verlangen es nach Kräften wieder gut zu machen?

Gleichviel: mir gebot die Ehre, daß ich lieber mich von Träbern nähren müsse, ein oerlorenes Menschenkind, als mit ihm an einem Tische essen, für den meine Mutter sich sammt ihrem Kinde ertränkt hatte.

Sechzehn Jahre hatte er die Schuld auf seinem Gewissen fühlen können, wenn ein Etwas der Art in seinem moralischen Haushalt sich vorfand. Denn nicht, wie er mir an jenein Abend sagte, unmittelbar nach dem bösen Vorfall war er in die Müllersleute gedrungen, ihm die Wahrheit zu entdecken, und hatten sie ihm dieselbe entdeckt - nein! erst im vorigen Herbst, als Weißfisch die Todtgeglaubte wiedergefunden und durch das Bild, welches er mir aus dem Koffer stahl, die Identität der Tischlersgattin mit der einstigen Primadonna des Hoftheaters auch für den hohen Herrn konstatirt hatte, war der Müller halb durch Bitten, halb durch Drohungen vermocht worden, einen Schwur zu brechen, welcher durch die Thatsache des Lebens meiner Mutter und ihres Kindes inhaltlos geworden war.

Was hätte der hohe Herr wohl jetzt darum gegeben, wäre der schlaue Weißfisch weniger schlau gewesen, und sein Gewissen hätte die leichte Last weiter tragen dürfen!

Aber weßhalb kehrten meine Gedanken immer wieder zu ihm zurück, der fürder für mich todt sein mußte, wie ich selbst es für die war, die ich doch wenigstens Mutter hatte nennen dürfen?

Und die mir doch in den ersten Jahren meines Lebens wirklich Mutter gewesen war und ihre Mutterpflichten an mir erfüllt hatte, ich durfte nicht zweifeln, mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der sie Alles bis ins Uebermaß steigerte, was immer ihre phantastische Seele erfaßt hatte. War es doch dieser Gedanke, daß sie den Sohn in ihre Arme und an ihr leidenschaftliches Herz schließen würde, wenn er jetzt vor sie trat und sprach: ich weiß nun, was an uns Beiden gefrevelt ist, und verzeihe dir, wie ich hoffe, daß du mir verzeihen wirst - der mir den Weg nach Amerika gewiesen. Gutmüthiger Narr! --

So stand ich, in Gedanken vertieft, auf das hölzerne Geländer gelehnt, während die Abendgluth allmählich verblich und der dumpfheulende Ton einer Signalpfeife von einem der kleinen Schlepper im Hafen mich daran mahnte, daß ich vorläufig noch sehr weit von dem Lande meiner Hoffnung sei und, wenn mich Fritz Brinkmann im Stich lasse, wie es nun allen Anschein hatte, auch schwerlich jemals dahin gelangen werde.

Verzweifelnd schier starrte ich in den Abend hinein. Schon begannen die Gestalten der Passanten schattenhaft zu werden; die Lichter der Laternen blitzten längs des Quai auf, die Fenster in den alten Häusern erhellten sich allgemach und noch immer kein Fritz! Das hatte ich dem sonst so braven Kerl nicht zugetraut!

„Endlich! - Aber Du hast mich lange warten lassen!"

„Konnte bei Gott nicht eher! gab zu viel zu thun an Bord; und just, als ich da unten anlege, begegne ich ein paar Jungen, die ich in Australien glaubte und mit denen ich nothwendig ein Glas trinken mußte - dammi!“

Es war augenscheinlich nicht bei dem einen Glas geblieben. In dem Licht der Laterne, das plötzlich neben uns aufflammte, sah ich, daß sein breites Gesicht von einer bedenklichen Röthe war und aus dem breiten Gesicht die kleinen Augen unbehaglich hell glitzerten. Indessen, der Fritz konnte einen Hieb vertragen - das wußte ich; und - betrunken oder nüchtern - er war mein Stab und meine Stütze.

Und die auch nicht wesentlich schwankte, als wir jetzt Arm in Arm den Quai hinunterschlenderten, vorüber an dunklen Gestalten, die uns nur noch seltener begegneten, und mit denen Fritz gelegentlich einen kurzen Gruß oder ein derbes Schifferwort austauschte. Dazwischen sprach er ganz vernünftig mit mir über unsre bevorstehende Reise, die voraussichtlich sechzehn Wochen dauern würde; über den Kapitän, der so weit ein ordentlicher Mann und nur ein bischen sehr hinter dem Gelde her sei. Ich hoffte, den guten Jungen so im Gespräch zu erhalten bis zur Stunde, in welcher wir an Bord gehen sollten; aber plötzlich bog er vom Hafen ab in eine schmale und dünne Seitengasse, aus der uns in einiger Entfernung das Licht einer rothen Laterne entgegendämmerte. Das sei seine Lieblingskneipe, sagte Fritz - und man hörte ordentlich das Behagen, mit dem er es sagte; - und so oft er noch von Hamburg ausgefahreu sei, habe er seinen letzten Abend da verbracht. -

Was sollte ich thun? Dem guten Jungen ein Vergnügen stören, auf das er sich offenbar schon so lange gefreut hatte, und welches auf Monate hinaus das letzte nach seinem Geschmacke sein würde? Dazu hatte ich kein Recht, und ich war seit mindestens drei Stunden ununterbrochen auf den Beinen gewesen, gründlich ermüdet und einer Erquickung dringend bedürftig. So bat ich denn den Kameraden nur, der Verantwortung, die er sich mit mir aufgeladen, eingedenk zu sein und sich nicht vollends -

„Zu betrinken?" unterbrach mich der Vergnügte lachend.

„Als ob ich bei Gott nicht so nüchtern wäre, wie die Spritzen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_403.jpg&oldid=- (Version vom 20.7.2021)