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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Gör! Ihr seid ja Nachbarskinder!" Nun, Christine war damals schon aus den Kinderschuhen, und ist jetzt ein schönes, schlankes Mädchen, dessen Augen lange nicht mehr so hell blicken, als damals, und dessen Wangen nicht mehr die fröhliche gesunde Röthe haben. Auch sonst liegt es wie ein melancholischer Hauch über dem schönen bleichen Gesicht. Dafür ist ihr Anzug, mit dessen Akkuratesse und Sauberkeit es immer bedenklich stand, von fast ausgesuchtem Geschmack, was mir mißfällt, ich weiß nicht warum; vielleicht nur, weil Mama Hopp sich die ganze alte Gleichgültigkeit gegen ihre Erscheinung mit der obligaten Frisur von gestern unter der zerknitterten Haube treu bewahrt hat.

Aber ich habe keine Zeit, darüber zu grübeln, denn ich muß jetzt meine Schwägerin begrüßen, die eben aus dem Nebenzimmer kommt: eine kleine schwächliche Person mit einem kleinen Gesicht, das früher vielleicht hübsch gewesen ist, jetzt aber durch Krankheit und Sorgen etwas beängstigend Fades, Verkümmertes und Versäuertes hat. Doch versucht sie zu lächeln, als sie mir nun die Hand reicht und ein paar Worte sagt, die gewiß freundlich gemeint sind, obgleich ich kaum eine Silbe verstehe, so leise spricht sie. Ich antworte ihr, wie mir's ums Herz ist: daß ich hoffe, ihr durch meine Gegenwart keine neue Last aufzubürden, und ihr aufrichtig für das freundliche Willkommen danke, auf das ich freilich gerechnet, nachdem sie Otto die Erlaubniß gegeben, mich kommen zu lassen.

Ich habe der Frau nicht schmeicheln wollen, aber sie sieht geschmeichelt und dankbar aus; ich sage mir, daß sie durch Komplimente nicht verwöhnt ist, und daß, Alles in Allem, es nicht schwer halten wird, nlich mit ihr aus einen guten Fuß zu stellen. Sie läuft auch sogleich in das Nebenzimmer und kommt mit den beiden ältesten Kindern zurück, die eben haben ins Bett gehen sollen und nicht wollen, da sie den neuen Onkel erst sehen möchten. Es sind Zwillinge: ein Knabe und ein Mädchen von sechs oder sieben Jahren mit blassen, dürftigen Gesichtchen. Sie wollen nun doch nicht hinter der Mutter hervor, die darüber schilt, worauf Beide anfangen zu weinen und wieder in die Schlafstube zurücktransportirt werden.

Unterdessen hat sich die andere Gesellschaft um den Sofatisch gesammelt, Herrn Hopp zuzusehen, der mit großem Eifer in einer Suppenschüssel Punsch braut, zu welchem die Damen Hopp die Ingredienzen mitgebracht haben. Einen alten Freund wie mich nach so langen Jahren nicht mit einem guten Trunk zu empfangen, das gehe gegen Hopp'sche Gewohnheiten, so viel werde ich wohl noch wissen. Und Nachbarn seien wir auch wieder, wenn auch nicht gerade Wand an Wand, wie ehemals. Da wollen wir Eines auf die alte neue, gute Nachbarschaft trinken!

So redeten Herr und Frau Hopp durch einander; Christine lächelte manchmal dazu, wenn auch nicht mit der Lustigkeit von ehemals, und ich empfand es seltsam, daß Otto und seine Frau, die wieder hereingekommen war, dabei standen und die Hopp's in ihren Räumen die Honneurs machen ließen, als ob sie dabei nicht weiter betheiligt seien.

Endlich war das schwierige Werk vollendet. H. H. wischte sich den Schweiß von der Stirn, kostete das Gebräu noch einmal und meinte, er glaube, daß es so gut sei. Wir waren im Begriff uns zu setzen, als die Thür nach dem Flur langsam geöffnet wurde und auf der Schwelle ein anderes altes bekanntes Gesicht erschien: Karl Brinkmann! Wie hatte ich vergessen können, daß die Fuhrherr Hopp'sche Familie ohne Kutscher Karl Brinkmann sich gar nicht denken lasse! Ich mußte mit meiner Freude, den alten lieben Menschen, den treuen Mentor unserer Kinder- und Knabenspiele, meinen Exercirmeister aus der kriegerischen Zeit, wieder zu sehen, einigermaßen an mich halten, um nicht Frau Hopp's Eifersucht zu erregen. Auch kam mir der gute Mensch darin entgegen, indem er selbst sich bescheiden zurückhielt und sich wohl mit an den Tisch setzte, aber etwas abseits, genau so, wie ich ihn in den guten Hopp'schen Tagen, wenn ein Fest im engsten Familienkreise gefeiert wurde, auch hatte sitzen sehen.

Ach! sie waren vorüber, die guten Hopp'schen Tage, auf Nimmerwiederkehr! Wenn ich daran noch hatte zweifeln können, so erfuhr ich jetzt in den Gesprächen, die sich fast nur darum drehten und in welchen H. H. selbst das große Wort führte, die ganze tragische Geschichte von dem Niedergang und Fall der Hopp'schen Herrlichkeit. Den Niedergang hatte ich selbst ja noch in der letzten Zeit beobachten können, ohne freilich zu ahnen, daß der Fall so schnell eintreten und so tief sein wurde. Natürlich war Bismarck an Allem schuld. Bismarck hatte den Krieg eingerührt, und der Krieg den Ruin gebracht. Erst das Kriegsjahr selbst, wo Handel und Wandel stockte, das Geld sich verkroch und nur mit Wucherzinsen herauszulocken war, es keine Lustbarkeiten mehr gab und die Menschen vor lauter Aufregung nicht mehr ans Sterben dachten; dann das Milliardenjahr, wo, wie H. H. sich ausdrückte, die Juden im dicken Rohr saßen und sich die besten Pfeifen schnitten und der kleine Mann flöten ging.

„Das hat mir den Rest gegeben,“ schrie er, auf den Tisch schlagend, „und wem nicht noch! der ganzen Hafengasse, wie wir da waren! Zwischen den Fingern hatte er uns ja schon alle vorher, der verdammte Manichäer; aber nun konnte er fest zufassen und uns ausquetschen - so!“

Und H. H. ergriff ein paar Citronenschalen, die neben der Punschschüssel lagen, preßte sie in seiner rothen Faust und warf sie wüthend wieder auf den Tisch.

Ich bekam nun schlimme Dinge über den kleinen Mann im Giebelhause zu hören. Nach H. H.'s Darstellung hatte Herr Israel schon vor dem Kriege sämmtliche Bewohner der Hafengasse zu seinen Schuldnern gehabt, so daß ihm die Hälfte aller Häuser tatsächlich gehörte; die andere habe er noch während des Kriegsjahres und in dem folgenden durch Angebote, denen die Leute nicht zu widerstehen vermochten, in seinen Besitz gebracht. Darüber dürfe man sich nicht wunderm wenn man bedenke, daß eine lange Reihe der großen Herren auf dem Lande ebenso von ihm ausgewuchert und ausgekauft worden wären, die freilich zum Theil noch auf ihren Gütern gesessen hätten, Eigentümer zum Schein, in Wirklichkeit Verwalter I. I.'s, der sie jeden Augenblick von Haus und Hof hätte jagen konnen. Denen in der Hafengasse sei es so gut noch nicht einmal geworden; sie hätten von Haus und Hof gemußt, da I. I. Alles niederreißen ließ, um für sechs große Kornspeicher Platz zu schaffen, die er einen neben dem anderen dahin gebaut, wo früher die fünfundvierzig Häuser mit ihren Höfen und Gärtchen gestanden. Auch der Wall sei abgetragen worden alles Speicher vom Hafenthor bis zur Johanniskirche! Könne man es den armen Leuten verdenken, die so für ein elendes Stück Geld, das ihnen der Jude hinterher doch wieder aus der Tasche zu ziehen gewußt habe, um ihr Eigen gebracht waren, wenn sie sich nicht gutwillig in ihr Schicksal hätten finden und dem Manichäer nachträglich den Spaß versalzen wollen?

Und hier kam in der traurigen Geschichte eine Episode, die, um der dabei Betheiligten willen, mein Interesse aufs schmerztlichste erregte.

Was ich aber aus den sich durchkreuzenden und zum Theil widersprechenden Berichten als Faktum herausschälen konnte, war Folgendes:

Es hatte sich der Bewohner der kleinen durch den Israel’schen Spekulationsgeist aus ihrem jahrhundertelangen Schlafe erweckten Stadt eine fieberhafte Unruhe bemächtigt, an welcher freilich alle Gemüther teilnahmen, aber in sehr verschiedener Weise. Eine liberale Minorität, an ihrer Spitze selbstverständlich Professor von Hunnius, hatte sich für die Neuerungen und den großen Neuerer, in welchem sie den Wohltäter und Regenerator der sonst ihrem Untergange entgegengehenden guten alten Stadt sahen, begeistert, während eine starke konservative Majorität aus eben diesen Neuerungen umgekehrt den Untergang der Stadt prophezeite, die ihnen nur, weil sie eine alte war und so lange sie am Alten festhielt, eine gute däuchte. Der unermüdliche Vorkämpfer dieser Partei war der Pastor Renner von der Johanniskirche, der allsonntäglich gegen den Tanz um das goldene Kalb von der Kanzel donnerte und an den Wochentagen in seiner neugegründeten konservativen Zeitung (Redakteur Ernst Streben) für Gott, König und Vaterland gegen die neugegründete liberale Zeitung (Herausgeber Professor von Hunnius) und die goldene jüdische internationale mit ihrem sogenannten christlichen, in Wahrheit atheistischen Anhang zu Felde zog.

Nachdem dieser Streit in Wort und Schrift lange genug gewütet, war denn geschehen was - ich mußte es annehmen - die Führer mindestens der einen Partei nicht bloß vorausgesehen sondern gewollt und auf jede Weise ins Werk zu setzen sich bemüht hatten. Der streit war aus den Zeitungsbureaus und den Versammlungslokalen auf die Straße getragen worden, um dort

endgültig ausgefochten zu werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_452.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2019)