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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

nicht weniger mein Sohn sein. Aber es ist mir ganz recht so.

Wenn es dem Sohn – was Gott verhüten wolle – einmal einfallen sollte, dem Vater die Liebe zu kündigen, den Onkel wird der Neffe immer respektiren müssen.“

Ach, er hatte leicht dazu zu lächeln! Er Wußte, daß ich ihm die Liebe niemals kündigen würde!

Wir waren übereingekommen, daß unser verwandtschaftliches Verhältniß der übrigen Familie gegenüber Geheimniß bleiben solle. Hatte sich meine Mutter von mir losgesagt, so, meinte auch er, würde es mir nicht anstehen, eine Verwandtschaft geltend zu machen, zu der ich mich nicht bekennen konnte, ohne die Mutter bloßzustellen. Hier wäre nur der eine Ausweg gewesen – eben der, welchen Adele im Auge hatte – daß meine Mutter sich zu mir bekannte.

„Und ich weiß nicht,“ sagte der Oberst, – „ganz abgesehen davon, daß ich es für unmöglich halte, da es ja nicht geschehen könnte, ohne daß in Deiner Mutter eine völlige Umwandlung vor sich ginge – ob wir es auch in Deinem Interesse wünschen dürfen. Wäre es denkbar, daß Dir Deine Mutter ihr Herz zurückbrächte, nun, wie eifersüchtig ich auch auf Deine Liebe bin, ich würde es ja mit Freuden begrüßen, denn die Natur wäre dann wieder zu ihrem heiligen Rechte gekommen und ein unauslöschbares Sehnen Deines Herzens gestillt. Aber ein Schritt weiter – der Schritt in die Oeffentlichkeit – würde sie und Dich in ein unabsehbares Wirrsal stürzen. Dann müßte Alles zur Sprache kommen, wofür die Welt keine andere hat, als eine, die für den Besprochenen peinlich, kränkend und beleidigend ist. Ich weiß, Deine Schwester denkt darüber anders; nur fürchte ich, durch die Publicität, welche ihr Verhältniß zu dem Herzog bereits erlangt hatte, ist ihre sonst so zarte Empfindung gerade in diesem Punkte etwas beeinträchtigt. Ich wünsche, daß Du bleibst, was Du bist: der einfache Lothar Lorenz, des obskuren Handwerkers Adoptivsohn, der über das Gemunkel seiner wahren Abstammung väterlicherseits ruhig sein Haupt erheben kann, da Keiner wagen wird, ihm ins Gesicht zu sagen, wozu er sich selbst weder direkt noch indirekt bekennt. In einer Zeit, wie die unsere, in der sich alle Bande lockern, die sonst die Welt zusammenhielten, Alles nach Umformung und Neugestaltung drängt, hat auch die Blutsverwandtschaft einen guten Theil des Werthes, den sie früher hatte, an die Wahlverwandtschaft abtreten müssen. Das Gewicht meiner ganzen anderen Verwandtschaft schnellt in die Luft, wenn ich in die andere Wagschale meine Liebe zu Dir lege, den ich liebe, nicht weil er, sondern, ich möchte fast sagen: trotzdem er mein Verwandter ist.“

Das war und klang herber, als es wohl sonst aus diesem wohlwollenden Herzen, von diesen milden Lippen kam, und deutete auf eine Tiefe in seiner Seele, in die er selbst mich noch nicht hatte blicken lassen, und auf die Quelle des Kummers, die da sickerte, Tropfen um Tropfen, wie das Blut aus einer tiefen, tödlichen Wunde rinnt.

Und ich glaubte, die Kummerquelle doch zu kennen; vielmehr ich kannte sie. Es konnte kein Zufall, es konnte nur das Siegel auf dem Grabe einer Hoffnung sein, die einst wunderreich für ihn geblüht und geduftet hatte und jetzt verwelkt und gestorben war: daß er nie von seiner Tochter, daß er nie von Ellinor sprach.

Da mag es denn nicht Wunder nehmen, wenn ich selbst noch nicht wieder von ihr gesprochen habe, trotzdem das Gedenken an sie mich nie verließ, ihr Bild mich immer umschwebte, wie ich es auch zu bannen suchte, indem ich eifrig meinen neuen Pflichten oblag und ebenso die Freundschaft der lieben Menschen pflegte, welche auf so wunderbare Weise nun wieder in den Kreis meines Lebens getreten waren: Adele’s und ihres Gatten, Adalbert’s, Maria’s. Ich sah sie alle jetzt oft und – wenigstens die ersten drei – meistens in dem Hause des Oberst, wo sie sich an Abenden versammelten, zu denen ein Anderer keinen Zutritt hatte. Natürlich kannte der Oberst die Geschichte des Grafen (der übrigens für die Dienerschaft Kapitän Smith blieb) und ebenso Adalbert’s politische Stellung. Er war sich der Verantwortung, die er mit einem für ihn verpönten Umgänge auf sich nahm, voll bewußt; aber das tiefe, fast leidenschaftliche Interesse, welches ihm die beiden, jeder in seiner Weise merkwürdigen Männer einflößten, die persönliche Theilnahme an dem Gatten meiner Schwester, die Erinnerung der innigen Freundschaft, welche ihn einst mit Adalbert’s Vater verbunden hatte, überwogen jede andere Rücksicht, von derer ohnehin überzeugt war, daß er sie nicht lange mehr werde zu nehmen brauchen. Auch machten ihm der Graf und Adalbert seine militärische Pflichtverletzung leicht, indem sie das Eingehen auf gewisse noch bestehende Differenzen mit einer Geflissentlichkeit vermieden, die mir oft zu weit getrieben, ja als reine Heuchelei erschien und als ein Spiel, in welchem zwar der Oberst mit offenen, sie aber mit verdeckten Karten spielten. Ich sagte es Adalbert auf den Kopf zu und daß ich dem Oberst meine Entdeckung hinsichtlich der Autorschaft jener famosen Broschüre mittheilen würde.– „Beruhige Dich,“ sagte Adalbert. „Einmal sollte es mich wundern, wenn ein so kluger Mann nicht schon von selbst dahinter kommen sollte, und zweitens gebe ich Dir mein Wort, daß ich ihm binnen Kurzem das durchsichtige Geheimniß selbst enthüllen werde. Uebrigens, lieber Freund, verzeihe mir die Bemerkung, daß ich Deine Haltung in der Sache nicht verstehe oder doch nur verstehen würde, wenn Du gegen uns wärst. Bist Du aber für uns, wie ich doch annehmen muß, nun: für die gute Sache ist das Beste eben grade gut genug, unter Anderem der Oberst, der allerdings der Besten einer ist. Auch ist das Opfer, das er uns jetzt bringt, nicht groß: sein Fall ist besiegelt; wir schöpfen aus durchaus sicheren Quellen. Restirte also nur noch das Dritte, daß Du für und gegen uns wärest – zu gleicher Zeit! Aber ich denke, dergleichen überlassen wir den Frauen mit ihren auf Schaukelbewegungen eingerichteten Köpfen und Herzen. Deiner Schwester, und ich glaube, beim Himmel, auch Maria’s Segen hast Du, wenn Du ein Revolutionär und ein Vogtriz in einer Person sein willst, meinen nicht. Und, was ich sagen wollte: hast Du etwas an Deinen Bruder auszurichten? ich komme heute in seine Gegend.“

Ich hatte nichts an Otto auszurichten. Seine Verhältnisse waren schon längst durch die Freigebigkeit des Oberst und mit Adalbert’s Hilfe, der die verwickelte Sache in seine feste Hand genommen, völlig geordnet, und es war Fürsorge getroffen, daß sie so leicht nicht wieder in Unordnung kamen. Der gefährlichen Nachbarschaft des Tran-schau-wem-Mannes entrückt, wohnte er jetzt im Osten der Stadt in gesunder und auch für sein Geschäft viel günstigerer Gegend. Er hatte hinreichend zu thun für sich und für einen neuen Gesellen. Die Kinder gediehen; seine Frau hatte in der neuen Thätigkeit die letzten harten Schicksalsschläge schneller überwunden, als ich es für möglich gehalten, und legte auch im Uebrigen eine ihr sonst völlig fremde freudige Zuversicht an den Tag, von der sie behauptete, daß sie dieselbe einzig und allein mir verdanke. – Ich durfte mit einem Worte mit den Zuständen dort völlig zufrieden sein, und wenn Otto es nicht war und zu seufzen fortfuhr, so konnte dem Aermsten, der sich selbst nicht zu helfen wußte, eben kein Gott helfen, geschweige denn ein Mensch.

Ich aber suchte mir zu helfen von der Noth, in die mein Herz verstrickt war und sich immer tiefer zu verstricken schien trotz der verzweifelten Anstrengungen, die ich machte, es zu lösen. Mit einer Art von Wuth warf ich mich in Studien, die mir sonst recht fern gelegen hatten, und deren Resultat auch nur dem Oberst zu Gute kommen sollte. „Ich muß mich auf die Zukunft eines alten a. D. vorbereiten,“ sagte er; und so hatte er eine Arbeit, die er bereits vor Jahren begonnen, wieder aufgenommen: eine militärisch-kritische Darstellung der Feldzüge Hannibal’s, den er für den größten aller Strategen erklärte, welche jemals gelebt hätten – den ersten Napoleon nicht ausgenommen. Da galt es nun, in alten und neuen Quellen nachzuforschen, Auszüge zu machen, die verschiedenen bereits vorhandenen Darstellungen auf ihre Brauchbarkeit hin zu prüfen, zu vergleichen; und ich war stolz, mein Latein und Griechisch nicht vergessen zu haben, und überglücklich, als mich mein Lehrer und Meister versicherte, daß ich, wenn es mit der Poesie, wie ich behaupte, nimmer gehen wollte, das Zeug zu einem leidlichen Gelehrten in mir habe. Er war ein wirklicher Gelehrter; und indem ich die unendliche Fülle seines Wissens in den verschiedensten Disciplinen, seinen Scharf- und Tiefblick, die plastische Kraft seiner Phantasie, seine geniale Kombinationsgabe von Tag zu Tag mehr bewundern lernte, wurde es mir immer klarer, wie dieser scheinbar so konservative Geist sich auf die Dauer in dem engen Kreis der militärischen Fachwissenschaft nicht hatte bannen lassen und die Schranke des Autoritätsglaubens überspringen mußte.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_571.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2018)